Stadtplanung
Mach nur einen Plan
„Wenn ich durch die Straßen gehe
Und etwas Neues, Schönes sehe
Weis’ ich stolz darauf:
Das hat mein Freund getan!
Mein Freund, der Plan!“
(Walter Ulbricht)
Menschen werden geboren, wachsen auf, verlieben sich, kaufen sich billige Möbel und ziehen zusammen, arbeiten für Geld oder eine gute Sache oder für sich, sind erfolgreich und ziehen in eine größere Wohnung oder ein Haus, kaufen sich Möbel, denen man ansieht, wie teuer sie waren, oder die extra so aussehen, als kämen sie vom Sperrmüll, ziehen auseinander, streiten sich um das Kind, fahren mehrmals im SUV mit 90 durchs Wohngebiet, stehen vor Gericht, finden zu Gott, bereuen ihr Leben, beginnen von vorn, finden neue Freunde, haben noch so viel vor, sterben völlig unerwartet an den Folgen einer Erkältung. Das ist das Leben. Und es passiert nicht nur für alle gleichzeitig, sondern zumeist auch noch auf engstem Raum. Denn die Mehrheit der Menschen lebt in der Stadt, wo sich all diese Leben zu einem Netz verbinden, an dessen Beschreibung Dichter und Denker gescheitert sind. Die Stadt ist ein Ort der Selbstorganisation, angetrieben vom Zufall und komplexer sozialer Kybernetik. Und dann: Stadtplanung! Ein Plan für einen solchen Ort? Für all diese Leben? Schon das Wort ist eine Anmaßung.
Stadtplaner hat die Unwägbarkeit des Lebens, dem sie einen Rahmen geben sollen, allerdings noch nie gestört. Tatsächlich interessierten sie sich in der Vergangenheit nur selten für das Leben. Meist ging es bloß um seine materiellen Grundlagen, um Wasserversorgung, Kanalisation, Verkehrslenkung, Elektrizität, Licht, Luft. Häufig sollten Städte auch Ideale symbolisieren: Streng geometrische Stadtpläne stellten die Vernunft des Menschen dar, sternförmig auf einen Palast zulaufende Straßen unterstrichen die Macht des Herrschers, futuristisch anmutende Metropolen mit weiten Straßen und modernster Architektur setzten Zeichen des Neuanfangs oder gar, vor allem im sogenannten Sozialismus, der historischen Umwälzung. Nur das Leben der Menschen war in all diesen Plänen selten ein Thema.
Und das wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht besser. Neue Modellstädte, wie etwa Brasiliens Hauptstadt Brasilia, gelten als menschenfeindlich, moderne Plattenbausiedlungen sind oft soziale Brennpunkte. Beliebt sind dagegen die alten Innenstädte, die über Jahrhunderte ungeordnet vor sich hin wucherten. Eine Mitarbeiterin einer Wohnungsbaugesellschaft, mit der ich über Wohnsiedlungen sprach, erzählte von einer Siedlung, „wo wir eigentlich alles richtig gemacht haben – aber funktionieren tut sie trotzdem nicht“. Viele Stadtplaner ignorieren es, aber die Wahrheit ist: Die Stadtplanung ist in einer Sackgasse.
„Ja, mach nur einen Plan / sei nur ein großes Licht / und mach dann noch ‘nen zweiten Plan / geh’n tun sie beide nicht.
(Bertolt Brecht)
„Ich habe nie verstanden, warum die Stadtplanung in den Sechzigerjahren auf dieses Nutzungssyndrom eingestiegen ist – dass Arbeiten und Wohnen in verschiedene Stadtteile gehören.“ Andreas Feldtkeller schüttelt ratlos den Kopf. Man könnte dem ehemaligen Leiter des Stadtsanierungsamtes Tübingen Koketterie unterstellen, denn selbstverständlich weiß er als Profi ganz genau, welche Wege die Stadtplanung aus welchen Gründen genommen hat. Aber der 80-Jährige, der locker als Mittsechziger durchgehen könnte, hat einen guten Grund für seine Weigerung, zu verstehen: Erfahrung.
Feldtkeller hat Anfang der Neunzigerjahre in Tübingen das Französische Viertel und das Loretto-Areal ... nun ja, geplant ist schon zu viel gesagt. Er hat für die Viertel, die auf ehemaligen Kasernengeländen entstanden sind und bis heute von Stadtplanern und Architekten aus aller Welt besichtigt werden, einen überschaubaren Satz von Regeln entwickelt. Die wichtigste: Wohnen und Arbeiten gehören zusammen. Also ist in einem alten Gebäude mitten im Viertel eine Tischlerei untergebracht, arbeitet in einem Wohnblock ein Software-Entwickler mit 75 Angestellten, befinden sich in den meisten Wohnhäusern im Erdgeschoss Ladenlokale.
Weitere Besonderheiten: Die Häuser stehen wie in alten Vierteln direkt an der Straße – es gibt keine Vorgärten. Statt privater Tiefgaragen existieren zwei zentrale Parkhäuser, denn wer in die Tiefgarage seines Hauses fährt, hat keine Berührung mit dem Viertel, wer dagegen von seinem Parkplatz ein paar Minuten nach Hause läuft, belebt das Stadtbild. Und die Gebäudehöhe wurde vorgegeben. „Wir wollten keine großen Spielplätze, die Kinder sollen auf der Straße vor dem Haus spielen können“, erklärt Andreas Feldtkeller. „Aber dafür sollte man die Kinder noch aus dem obersten Geschoss beobachten können.“
Diese Regeln mögen auf den ersten Blick den wohlmeinenden Paternalismus der Stadtplanung fortführen, aber tatsächlich ließ Feldtkeller davon abgesehen seinen Bauträgern freie Hand. Und die nutzten die Freiheit gern, denn die meisten bauten nicht irgendeine Siedlung, sondern ihr eigenes Zuhause – die Quartiere wurden nicht wie üblich von einer Wohnungsbaugesellschaft errichtet, sondern Haus für Haus von einzelnen Trägern, viele von Baugenossenschaften. Das war anfangs nicht der Plan, erklärt Feldtkeller: „Aber die großen Bauträger wollten Arbeit und Wohnen nicht vermischen und nicht auf Tiefgaragen verzichten. Die Stadt hat dann einzelne Parzellen privaten Baugruppen zur Selbstnutzung angeboten, und sehr schnell haben sich weitere Gemeinschaften gebildet.“
Die Eigentümergruppen agierten überraschend professionell. „Viele planerische Vorkehrungen, die wir uns anfangs überlegt hatten“, sagt Feldtkeller, „brauchten wir später nicht weiterzuverfolgen, weil die Baugemeinschaften ihre eigenen machten.“ Die Bauherren konnten nicht nur ihre Wohnungen auf ihre persönlichen Bedürfnisse zuschneiden, sondern richteten auch die Höfe zwischen den Häusern ein. Als sie einzogen, kannten sie nicht nur das Haus, an das sie teilweise selbst Hand angelegt hatten, sondern auch das Viertel und die Nachbarn. Feldtkeller nennt diese intensive Vernetzung und Verwurzelung, die bereits während der Planung entsteht, soziales Kapital. „Natürlich ist es bequemer, das gesamte Gelände einem Bauträger zu geben. Aber dabei geht soziales Kapital verloren.“
Die Häuser im Französischen Viertel weisen einige Gemeinsamkeiten auf, sie sind bunt und alle Balkone riesig, doch abgesehen davon sieht jedes Haus anders aus, wie man es sonst nur aus alten, gewachsenen Vierteln kennt. Das ist ausgesprochen entspannend, lädt ein zum Schlendern, zum Genauer-Hinsehen. Das Gefühl, Strecke machen zu müssen, das einen in gleichförmigen Neubaugebieten überfällt, stellt sich nicht ein. Doch nicht alle haben daran Freude. „Manche Architekten finden das schrecklich“, sagt Armin Scharf lachend. „Wir hatten kürzlich Franzosen hier, die entsetzt waren, weil alle Häuser anders aussehen.“
Scharf ist der Sprecher der Gewerbetreibenden im Viertel. Der Journalist hat ein kleines Büro an der Hauptstraße und wohnt einige Hundert Meter weiter. Sein Auto steht seit zwei Wochen auf dem Parkplatz. „Ich benutze es nur, wenn ich die Stadt verlasse. Mit dem Fahrrad ist man einfach schneller.“ An einem warmen Junivormittag schlendern wir durch die Straßen. Vögel zwitschern, Katzen räkeln sich in der Sonne, in einem Hinterhof plätschert Wasser. Das Viertel hat eine hohe Einwohnerdichte, aber das merkt man nicht. „Nachmittags“, sagt der 49-Jährige, „sieht es anders aus, dann ist hier alles voller Kinder.“
Unterwegs weist Scharf auf Büros und Werkstätten hin: Hier sitzen Juristen, dort werden mit 35 Mitarbeitern Nabendynamos gebaut, das ist ein Architekturbüro, da wird ein Beschäftigungsprojekt für Behinderte betrieben, das ist Dieter Thomas Kuhn, der wohnt hier und hat im Quartier sein Studio. Es gibt einige Restaurants, einige kleine Geschäfte. Das Viertel wurde als „Stadt der kurzen Wege“ beworben, doch für den Einzelhandel gilt das nur begrenzt. Viele Ladenräume sind zu klein für Geschäfte, vor allem aber kaufen die Anwohner auch hier die meisten Sachen in den großen Supermärkten mit den großen Parkplätzen – in Tübingen vielleicht öfter mit dem Fahrrad, weil sich die Stadt sehr um das Radwegenetz bemüht hat.
Das Französische Viertel ist durch zwei große Trassen von der Stadt abgeschnitten, und so haben sich dort ein Bioladen und einige kleine Versorger gehalten. Das benachbarte Loretto-Areal, das zeitgleich unter denselben Bedingungen entstand, geht direkt in die Stadt über. Und „hier hält sich nichts“, sagt ein Anwohner, „hier gibt es nicht mal mehr einen Bäcker.“ Die Leute ziehen die alten Geschäfte vor. Also werden die Gewerberäume auch schon mal umgewidmet: In einem Ladenlokal in einer Seitenstraße ist ein Antiquariat untergebracht, dahinter befindet sich das Wohnzimmer des Betreibers. Das Geschäft ist nur drei Abende in der Woche geöffnet – aber so ist es ein Gewerbe.
In Tübingens neuen Vierteln wird auf den Mix von Wohnen und Gewerbe nicht mehr so streng geachtet, und manchmal, erzählt eine Buchhändlerin in der Altstadt, umgehen die Baugemeinschaften die Gewerbeauflagen selbst. Armin Scharf erzählt, dass auch die Restaurants vom Viertel allein nicht leben könnten und das größte Geschäft, der Bioladen, tja, sich wohl gerade so trage. Trotz aller Vorgaben haben sich die Areale zu überwiegenden Wohngebieten entwickelt. Und das Parken ist ein Problem geblieben: Die Parkhäuser sind zu teuer und sehr störanfällig, viele Anwohner lassen seit Jahren ihre Autos außerhalb des Viertels stehen. Alles lässt sich eben nicht planen, schon gar nicht langfristig.
Weil Andreas Feldtkeller fürchtet, dass sein Konzept im Abgrund der Geschichte verschwindet, hat er nach fünfzehn Jahren Ruhestand ein Buch über Stadtplanung geschrieben: „Zur Alltagstauglichkeit unserer Städte“. Er ist frustriert, dass sich viele Planer beharrlich weigern, mit den späteren Bewohnern auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Es heißt dann gern: Das geht vielleicht in Tübingen, aber nicht bei uns. Letztlich glauben eben alle, besser zu wissen, was für die Menschen gut ist.“ Eine Bremse sind allerdings auch die Investoren und die Banken: „Für Büros, Eigentumswohnungen und Gastronomie kann der Bauträger eine Bedarfsanalyse erstellen, die Sicherheit vermittelt. Aber für so ein Viertel nicht. Da muss man ein Angebot machen und schauen, was kommt.“
Dafür braucht man gute Nerven oder wenigstens Unterstützung durch Statistik – und die fehlt. Andreas Feldtkeller sagt selbst an mehreren Punkten: „Man müsste das untersuchen, da fehlen Daten.“ Die letzte große Umfrage zum Thema Wohnumfeld und Wohnzufriedenheit stammt aus dem Jahr 2001. Damals gaben 53 Prozent der Befragten an, „in einem Nebeneinander von Wohnen und gewerblicher Nutzung“ leben zu wollen. „Ich bin fest davon überzeugt“, erklärt Feldtkeller, „dass die Hälfte der Menschen nicht in Einfamilienhäuser ziehen würde, sondern in Kieze wie das Französische Viertel, wenn nur das Angebot da wäre.“
Der Erfolg seiner Viertel spricht für ihn: Frei werdende Wohnungen sind immer schnell weg. Und der Trend zum Leben in Innenstädten, der die Gentrifizierungs-Debatte erst in Gang gebracht hat, ist ebenfalls nicht zu übersehen. So schnell wird die Stadtplanung aber trotzdem nicht darauf reagieren, meint Andreas Feldtkeller: „Viele zentrale Personen in der Stadtplanung sind immer noch überzeugt, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Einfamilienhäusern leben will. Und deshalb ändert sich nichts.“
„Planung erfordert eine Vielzahl von Einzelinformationen.“
(John Kenneth Galbraith)
Stadtplanung ist enorm komplex. Alles trifft aufeinander: Grundbedürfnisse auf Lebensgewohnheiten, Gemeinschaftsinteressen auf persönliche Vorlieben, alte Gesetze auf neue gesellschaftliche Entwicklungen, Ökologie auf Ökonomie, Physik auf Psychologie, Logik auf Zufall, Glück auf Unglück. Stadtplanung ist eine Art von Wissensmanagement, und das ist umso schwieriger, je größer die Datenmengen sind, die es zu verarbeiten gilt. Die Datenmenge einer Stadt ist gigantisch – wie viel man auch weiß, man weiß nie genug. Es gibt nur unterschiedliche Stufen des Nichtwissens, der Ungewissheit.
„Zur Förderung von Innovationen ist ein neuer Umgang mit Ungewissheit erforderlich. Es ist notwendig, Ungewissheit anzuerkennen und zugleich die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Besser hierfür scheint die Bezeichnung Bewältigung von Ungewissheit anstelle der Beseitigung (...).“ Das schreibt Fritz Böhle vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München in seinem neuen Buch „Management von Ungewissheit“. Dem Sozio-Ökonomen geht es vor allem um Innovationsprozesse in der Industrie, aber einige seiner Thesen lassen sich auf die Stadtplanung übertragen. Zu Andreas Feldtkellers Entscheidung etwa, mit Baugemeinschaften gemeinsam zu planen, liefert Fritz Böhle die Theorie: „Weitere neuere Forschungsansätze leiten aus der Unmöglichkeit, Ungewissheit zu beseitigen, die Notwendigkeit ab, Entscheidungen und Planungen zu politisieren. An die Stelle des gesicherten Wissens von Experten treten demnach die Interessen der von Entscheidungen und Planungen direkt und indirekt Betroffenen (...).“
Böhle hat nichts gegen Fachwissen, aber er erkennt dessen Grenzen. Das gilt auch für Wissen, das zu komplex ist, um es sprachlich, also linear auszudrücken. Dieses Wissen, das vom Gehirn aus unüberschaubaren Datenmengen, aus Erfahrung und Gelerntem, Praxis und Theorie, zu Intuition oder Gefühlen verarbeitet wird, findet Böhle vor allem in extremen Stresssituationen. „In der Organisationstheorie wurde der Frage nachgegangen, wie Organisationen, die in besonderer Weise nicht kontrollierbaren Umwelteinflüssen ausgesetzt sind (Notfallmedizin, Feuerwehr, Flugzeugträger usw.), zuverlässige Leistungen hervorbringen (...). Dabei wird Achtsamkeit als eine besondere Form von managerial practices herausgestellt. Sie richtet sich u. a. auf die Antizipation von Unerwartetem durch die besondere Sensibilität und ein Gespür für Situationen.“ Anders gesagt: Wer nicht weiß, was passieren wird, beobachtet, was vor sich geht, und folgt dann seinem Gefühl.
„Wer kleine Widrigkeiten nicht erträgt, verdirbt sich damit große Pläne.“
(Konfuzius)
„Ich habe mich nachts um zwölf, eins einfach mal auf den Bordstein gesetzt und geguckt, wer hier rumläuft, was für Leute unterwegs sind, wie es sich hier anfühlt. Menschen kamen aus der U-Bahn, Busse waren unterwegs – aber der Platz blieb gespenstisch leer.“ Andreas Krüger erzählt das zwischendurch, wie er überhaupt alles zwischendurch erzählt, in einem einzigen gigantischen Wortschwall, in den man nur mit Mühe reingrätschen könnte, wollte man es denn – aber wozu? Es ist doch interessant, wie der 47-Jährige die Verwandlung des Moritzplatzes in Berlin-Kreuzberg beschreibt. Wir sitzen an einem mäßig schönen Vormittag in einem Café am Rande dieses Platzes: Viele Menschen sind unterwegs, zu Fuß, auf Fahrrädern, in Lieferwagen. Ruhig ist die Ecke keinesfalls. Kaum vorstellbar, dass das vor sieben Jahren noch ganz anders war.
Damals war das Gelände eine Brache. Östlich beginnt wenige Hundert Meter weiter die Kreuzberger Szenemeile Oranienstraße mit Kneipen, Restaurants und kleinen Geschäften, gut einen Kilometer westlich liegt Checkpoint Charlie. Zwei Touristenattraktionen. Die Strecke dazwischen erinnerte früher trotzdem an einen Vorort einer beliebigen deutschen Stadt: triste Wohnblöcke, leere Fabriketagen, einige Autohändler, klassische Flächenfresser, für die zentrale Lagen eigentlich zu teuer sind. Und als Krönung ein riesiges leeres Fabrikgebäude. „Der Platz“, sagt Andreas Krüger, „war wie eine vergessene Ecke in einem langen Flur, in der sich die Wollmäuse sammeln.“
Krüger war nicht ziellos unterwegs. Er hatte schon viel gemacht: Tischler gelernt, Weltreisen, etwas Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Archäologie und Architektur studiert. Nach dem Mauerfall kam er nach Berlin und studierte an der Universität der Künste Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, fand aber auch Zeit, um zum Beispiel die große Trecker-Demonstration 2002 gegen den Castor-Transport nach Gorleben mitzuorganisieren. 2005 war er bei Modulor eingestiegen, einem Fachgeschäft für Architekten- und Künstlerbedarf, das Ende der Achtzigerjahre von einer Handvoll Idealisten gegründet worden war. Krüger erzählt: „Die Grundidee von Modulor ist: Der Mensch wird nur durch händisches Tun zum Menschen. Das Machen ist der Schlüssel.“ Der Erfolg des Hinterhofkaufhauses war so groß, dass das Unternehmen Mitte des vergangenen Jahrzehnts gezwungen war, sich erheblich zu vergrößern. Krüger sollte dabei helfen und fand schließlich das Fabrikgebäude am Moritzplatz.
„Der Moritzplatz war früher einer der belebtesten Plätze Berlins“, erzählt Krüger. „Die Ritterstraße nannte man die ,Goldene Meile‘, Manufakturen lieferten von dort in alle Welt. Direkt hier am Platz stand das große Wertheim-Kaufhaus – dafür wurde die U-Bahn hierher gelegt. Als wir das erfuhren, waren wir erstaunt, dass nach der Wende kein Investor darauf gekommen war, hier etwas zu machen.“ Das war sicherlich ein Grund, warum der Modulor-Scout überall offene Türen fand: beim Bezirksbürgermeister, bei den Stadträten, beim Land Berlin. Und bestimmt half es auch, dass das Haus intern als „Cashfresser“ galt, der „zeitnah liquidiert“ werden sollte.
Doch der wichtigste Grund für die große Offenheit, meint Krüger, sei ihr Konzept gewesen. „Wir haben nicht gefragt: Was brauchen wir? Wir haben gefragt: Was braucht Berlin an dieser Stelle?“ „Planet Modulor“ sollte ein kreatives Zentrum werden, mit 7000 Quadratmeter Modulor plus 7000 Quadratmeter Werkstätten, einer Kita, Galerien, Gastronomie. Ein Ort, an dem die Vernetzung zum Nutzen aller Alltag ist. Das überzeugte die Verwaltung. Und auch die Anwohner glaubten an den guten Willen, denn das Interesse am Gemeinwohl prägte den gesamten Entwicklungsprozess. „Es hilft, wenn man mit den Menschen spricht. Nicht alle wollen mitarbeiten – aber alle wollen wissen, was los ist. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung in Kreuzberg sehr sensibel ist, sich aber auch gern einbringt. Wir haben sofort Gesprächspartner gefunden: den Bezirksbürgermeister, den Wirtschaftsstadtrat, den Tankwart, die Leiterin der Arbeiterwohlfahrt, Ladenund Imbissbetreiber, Menschen auf der Straße.“
Sehr bald tauchten weitere Interessenten am Moritzplatz auf. „Die Vermieter des Blocks dort drüben kamen auf uns zu. Sie hatten eine Anfrage von Leuten, die Co-Working-Space anbieten wollten, und waren nicht sicher, ob das eine Chance hatte und was das überhaupt ist. Wir haben ihnen gesagt: Ihr habt riesigen Leerstand – was habt ihr zu verlieren? Vermietet für die Betriebskosten, und dann macht ihr open book policy: Ihr schaut regelmäßig in die Bücher, und wenn Geld verdient wird, passt ihr die Miete maßvoll an.“ So geschah es, und daraus wurde Betahaus, ein Anbieter von Büroplätzen für Stunden, Tage oder Wochen mit heute 2000 Quadratmetern am Moritzplatz sowie Niederlassungen in Berlin, Hamburg und Köln.
Das inzwischen weltweit angesehene Urban-Farming-Projekt „Prinzessinnengärten“ am Moritzplatz entstand ebenfalls im Netzwerk. „Wir wollten auf dem ehemaligen Wertheim-Gelände ursprünglich einen Markt organisieren“, erzählt Krüger. „Aber dann meldeten sich bei der Stadt zwei Urban-Farming-Aktivisten, die eine Fläche suchten. Der landeseigene Liegenschaftsfonds war interessiert, wollte aber einen Partner, den man einschätzen konnte. Also wurde das Areal an Modulor vermietet, und wir reichten es weiter.“ Heute wird die Fläche der Prinzessinnengärten direkt von der Stadt gemietet, die inzwischen allerdings überlegt, das Gelände zu verkaufen – die Zukunft des Leuchtturmprojektes ist ungewiss.
Zu dieser Zeit hatte das Haus bereits eine Krise hinter sich: Im Crash 2008 war der Investor abgesprungen, der den Umbau mit 20 Millionen Euro finanzieren sollte. Alles war fertig, die Pläne standen, doch nun fehlte das Geld. Schließlich stieg der ehemalige Deutschlehrer Matthias Koch ein, der kurz darauf auch den insolventen Aufbau Verlag kaufte, den er im Haus unterbrachte. Seitdem kursieren für das Gebäude zwei Namen: Planet Modulor und Aufbau Haus.
Heute ist am Moritzplatz fast alles vermietet. Die Mieten sind niedrig, die Mischung ist interessant. „Man braucht solche günstigen Inseln“, sagt Andreas Krüger. „Das ist wie ein Inkubator, auch wenn es nicht so gedacht war. Hier fängt man an mit einer Idee, und wenn sie funktioniert, wenn man höhere Ansprüche hat, zieht man woanders hin.“ Um so etwas aufzubauen, meint er, braucht man „Startblöcke“: Das kann ein Gründerwettbewerb sein oder ein subkulturelles Angebot, das Menschen anzieht. Wichtig ist, dass es um mehr geht als Erfolg. „Wenn man hier mit Leuten redet, ist die erste Frage nicht: Wie rechnet sich das? Sondern: Was wollen wir miteinander tun?“
Andreas Krüger ist inzwischen viel unterwegs. Die Entwicklung des Moritzplatzes ist auch in anderen Städten bemerkt worden – kann man das vielleicht kopieren? Er reist herum, erzählt, worauf es ankommt, wiederholt es immer wieder. „Man muss sein Sensorium aktivieren. Wie ein Oktopus im Meer muss man seine Tentakel bewusst auslegen und fühlen: Welche Ideen gibt es, welche Geräusche, welche Äußerungen, welche Irritationen? Man muss die Grundinstinkte zulassen. Wie fühlt sich etwas an? Das hilft beim Entwickeln städtischer Quartiere.“ Und noch etwas ist ganz essenziell: „Wir haben nie mit Institutionen gesprochen. Sondern immer mit Menschen.“
„In der rechten Tonart kann man alles sagen; in der falschen nichts.“
(George Bernard Shaw)
Andreas Krüger ist davon überzeugt, dass jeder selbst der beste Fachmann für die eigenen Belange ist. Aber er glaubt nicht, dass deshalb jeder seine Interessen gut vertreten kann. Viele Entscheider suchen Gesprächspartner, die sie einschätzen können, von denen sie annehmen dürfen, dass sie mit ihnen auf Augenhöhe reden. Hier sieht Krüger seine Rolle: „Ich betrachte mich als Parlamentär, als einer, der zwischen Interessen vermittelt.“ Andreas Feldtkeller in Tübingen antwortete auf die Frage, wieso sich die Stadt auf das Experiment Französisches Viertel eingelassen hat: „Ein wesentlicher Vorteil war, dass der Vorschlag aus der Verwaltung kam und nicht von außen.“
Ein Vermittler zwischen der Verwaltung, den Bauträgern und Investoren sowie den Bewohnern ist bei der Entwicklung und Umgestaltung von Stadtvierteln enorm hilfreich. Doch beide Seiten müssen dem Vermittler vertrauen, und so wird er oft Ideen vertreten, die von offizieller Seite nicht vorgesehen waren. Das macht die Planung mühsam und kostet Zeit, aber mal abgesehen davon, dass die Ideen eventuell gut sind und am Ende allen nützen, gibt es dazu keine Alternative. Andreas Krüger stellt zu Recht fest: „Die alten Autoritäten haben ihre Strahlkraft verloren. Die Menschen sind klug, trauen wir ihnen etwas zu. Sie wollen ihr Schicksal mehr und mehr selbst in die Hand nehmen, das zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche.“
„Viele Worte zu machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist überall das untrügliche Zeichen von Mittelmäßigkeit.“
(Arthur Schopenhauer)
Die neue Mitte Altonas in Hamburg ist noch Schutt und Gestrüpp, ein paar alte, leere Gebäude, von Unkraut überwucherte Flächen, löchrige Zäune. In wenigen Jahren sollen hier rund 6000 Wohnungen stehen, doch bisher gibt es nichts: keine Bauherren, keine detaillierten Pläne, keine Investoren, ganz zu schweigen von Baggern oder Baugruben. Nur die Diskussion über das Gelände ist schon voll im Gange.
„Die Leute sind daran gewöhnt, sich alle Informationen aus dem Netz zu holen, und wenn es um ihr persönliches Leben geht, wollen sie ebenfalls informiert werden“, sagt Veronika Hilbermann, Stadtplanerin und stellvertretende Leiterin der Projektgruppe Planung Mitte Altona. „Das finde ich auch richtig. Ich glaube, man sollte mit dem Kommunikationsprozess so früh wie möglich beginnen.“ Ihre Kollegin Kristina von Bülow, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, ergänzt: „Man kann bei einem Großteil der Menschen von einer gewissen Offenheit ausgehen. Zurzeit haben wir es zwar häufig mit Bürgern zu tun, die grundsätzlich misstrauisch sind. Aber das liegt auch daran, dass wir noch sehr früh in der Planung sind und es um sehr allgemeine, abstrakte Themen geht wie etwa Investorengewinne. Die Offenheit, glaube ich, liegt eher bei der noch schweigenden Masse. Und ich denke, mit der werden wir stärker ins Gespräch kommen, wenn die Planungen konkreter werden.“
Das hat die 38-Jährige schön gesagt, wie sich die beiden Frauen überhaupt enorm vorsichtig ausdrücken, was sicher nicht nur daran liegt, dass sie für die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt arbeiten und in der Verwaltung eine gewisse Verbindlichkeit hilfreich ist. Entscheidender ist wohl, dass sie sich auf dünnem Eis bewegen: Die „Mitte Altona“, ein in zentraler Lage geplantes 75 Hektar großes Viertel, ist nach der HafenCity das größte Hamburger Bauprojekt – und in der Hansestadt hissen die Bürger bereits Transparente, wenn ein Radweg saniert wird. Einerseits ist das verständlich, denn an der Elbe hat die Kahlschlagsanierung Tradition. Andererseits ist das Misstrauen zumindest bei den semiprofessionellen Kritikern, die sich in dem Netzwerk „Recht auf Stadt“ organisiert haben, so groß, als ginge es um außerirdische Invasoren.
Sei es um des lieben Friedens willen oder weil, wie Veronika Hilbermann sagt, „bestimmte Ideen ausschließlich solchen Prozessen entspringen“, hat man sich für die Mitte Altona Bürgerbeteiligung groß auf die Fahne geschrieben. Deshalb gibt es ein Infozentrum, ein leer stehendes Erdgeschoss in einem Haus am Rande des Geländes. Dort hängen Pläne aus, man bekommt den Newsletter, der alle zwei Monate in der Nachbarschaft verteilt wird, oder kann in einem dicken Ordner blättern, in dem die Bürgerwünsche gesammelt wurden – von billigem Wohnraum über autofreies Wohnen bis zu vielen Parkbänken. Der Katalog wurde auch an alle Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft geschickt.
Ein Teil des Geländes gehört der Bahn, die zuerst den Fernbahnhof Altona verlegen müsste, damit gebaut werden könnte – und in dieser Sache hat sich der Bahnvorstand noch zu keiner Entscheidung durchringen können. Doch der andere Teil, eine nicht mehr benötigte Erweiterungsfläche der HolstenBrauerei, ist verfügbar, und so wurde 2010 ein Wettbewerb für die Gestaltung des gesamten Areals ausgeschrieben. Mit dem Wettbewerb begann auch die Einbindung der Anwohner. Über ein Wochenende wurde mit „interessierten Bürgern“ ein Leitbild entwickelt, das an die Architekten im Wettbewerb ging. Als die Entwürfe kamen, gab es eine öffentliche Zwischenpräsentation, die Reaktionen darauf gingen wieder an die Architekten. Zudem saßen sechs Anwohnervertreter in der Jury, zwar ohne Stimmrecht, aber durchaus aktiv. „Das hat den Beratungs- und Entscheidungsprozess im Wettbewerb verbessert“, sagt Veronika Hilbermann.
Seitdem gibt es regelmäßig Veranstaltungen: kleine Workshops für alle, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigen, und größere Informationsrunden. Doch die Transparenz hat das Misstrauen nicht gemindert. „Es gibt Leute, die haben eigene Interessen, mit denen kann man über Rahmenbedingungen reden, und dabei kommt es eben auch zu Interessenskonflikten“, sagt Kristina von Bülow. „Aber dann gibt es noch Leute, die es grundsätzlich schlimm finden, dass da jemand baut und damit Geld verdient. Es wird dann unterstellt, dass wir als Stadt viel zu schwach sind, um mit diesen privaten Investoren im Sinne des Gemeinwohls zu verhandeln.“
Dieses grundsätzliche Misstrauen zieht sich durch den gesamten Prozess: Es gibt Leute, die zu jeder Veranstaltung kommen, sich oft zu Wort melden, Transparente dabeihaben – 10, 20 Personen, schätzen die Frauen. „Häufig ist es dann so“, sagt von Bülow, „dass Menschen, die sich zum ersten Mal informieren, die Veranstaltung verlassen, weil es ihnen zu polemisch wird. Das ist auch für uns ein Problem, weil wir mit der ganzen Bevölkerung ins Gespräch kommen wollen, aber auch dieser kleineren Gruppe gerecht werden müssen.“ Doch Veronika Hilbermann sieht optimistisch in die Zukunft: „Das Misstrauen können wir ausräumen, wenn wir tatsächlich nachweisen können, dass wir das Gemeinwohl durchaus im Blick haben.“
Auch wenn sich die beiden Frauen sehr vorsichtig ausdrücken, wird klar, dass die Veranstaltungen Bühnen sind für Leute, die ihre Systemkritik wie eine Tasche von Gucci tragen. Und wenn dann einer sagt, er hätte gern Bienenstöcke im Park, und ein anderer, man solle das Gelände enteignen und Sozialwohnungen bauen, ist es klar, was Thema ist – auch wenn die Planung mit einem Drittel Sozialwohnungen, einem Drittel Mietwohnungen und einem Drittel Eigentumswohnungen vernünftig ist, weil niemand Sozialwohnungsgettos möchte. Ganz zu schweigen davon, dass Enteignungen nicht so einfach sind, und zwar nicht nur, weil der politische Wille fehlt, sondern weil die rechtlichen Grundlagen kompliziert sind, was auch sinnvoll ist, weil wir in einem Rechtsstaat leben und darüber sehr froh sein können. Denn als das letzte Mal in Deutschland großzügig enteignet wurde, waren es vor allem jüdische Geschäfte, ein Glück, dass das nicht mehr so leicht geht. Okay, ich rege mich auf. Aber darüber kann man sich auch aufregen.
Jedenfalls wurden auf Wunsch von Bürgern Beteiligungsspezialisten dazugeholt, zudem gibt es jetzt ein Gremium mit 18 Anwohnern, die das Verfahren und die Beteiligung koordinieren sollen. Von dieser Gruppe hatte man sich Vermittlung erwartet, vor allem bei offensichtlichen Partikularinteressen. Doch das Gremium ist eher misstrauisch und konfrontativ. Anderrseits: Vermutlich gibt es in jedem größeren Planungsprozess solche Phasen. „Wissen Sie“, sagt Veronika Hilbermann, „Stadt kennt jeder, und jeder hat dazu eine Meinung. Aber wenn man merkt, was alles dranhängt, wird es schwieriger. Stadtplanung ist ein komplexes Thema.“
Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.