Arbeitsorganisation bei Krankheitsausfall

Die Arbeit muss erledigt werden – auch wenn ein Mitarbeiter plötzlich ausfällt. Dafür braucht es nicht nur viel Flexibilität, sondern auch intelligente Formen der Arbeitsorganisation. Zum Glück gibt es schon einige. Und sie kommen der gesamten Belegschaft zugute.




Über mehrere Wochen fuhren im Sommer 2013 die Züge an Mainz vorbei. Der Bahnhof war vom Zugverkehr abgeschnitten, weil in den Stellwerken Fachpersonal fehlte – obwohl der Engpass schon lange abzusehen war. „Was in Mainz passiert ist, droht uns in allen Branchen und in ganz Deutschland“, meint Trendforscher Sven Gábor Jánszky. Es ist das Ergebnis des demografischen Wandels: Wir werden immer älter und immer weniger. Optimistische Studien gehen von zwei Millionen fehlenden Fachkräften im Jahr 2025 aus, pessimistische von bis zu 5,2 Millionen. Doch die Vorhersagen über die Konsequenzen der Überalterung der Gesellschaft beeindrucken uns so wenig wie das Stellwerks-Desaster in Mainz. Und das seit Langem. Erinnern Sie sich noch an das Unwort des Jahres 1996? Rentnerschwemme.

Arbeitnehmerparadies in Sicht

Zwar tut die Bundesregierung so, als könnte der drohende Engpass auf dem Arbeitsmarkt mit ein bisschen mehr Zuwanderung, attraktiven Angeboten für Mitarbeiter und mehr Frauen in den Betrieben ausgeglichen werden. „Das sind jedoch falsche Versprechungen, das genügt nicht!“, sagt Jánszky. „Aber natürlich traut sich kein Politiker zu sagen, dass das Renteneintrittsalter bald bei 75 Jahren liegen könnte. Wer würde ihn dann noch wählen?“ Der Trendforscher prophezeit für das Jahr 2025 ein Arbeitnehmerparadies, in dem auch heute noch Aussortierte gute Chancen haben: „Unternehmen werden vermehrt Mitarbeiter einstellen, die den heute gängigen Anforderungsprofilen kaum entsprechen. Dazu gehören Rentner, Studienabbrecher und Menschen mit chronischen Krankheiten.“

Das mag für Human-Resources-Manager bedrohlich klingen, aber keine Sorge, ein gut eingestellter Diabetiker kann problemlos in den Arbeitsalltag integriert werden. Und wer an Krankheiten leidet, die in Schüben auftreten wie Rheuma, Multiple Sklerose oder Depressionen, kann trotzdem durchaus leistungsfähig sein. Der Hamburger Arbeitsmediziner Jürgen Tempel plädiert für mehr Gelassenheit: „Krankheit ist ein Teil des Lebens. Wenn eine Firmenleitung das leugnet, ist sie schlecht beraten. Denn nur wer sich eingesteht, dass es nicht möglich ist, immer kerngesund und leistungsfähig zu sein, kann sich darauf einstellen.“

Familienfreundlichkeit hilft allen

Tobias Reuter vom IAF Institut für Arbeitsfähigkeit sieht das genauso. Er wird nicht müde, seine Botschaft an die Unternehmen zu wiederholen: „Chronisch krank bedeutet nicht, arbeitsunfähig oder eingeschränkt zu sein“, sagt er. „Sich auf Defizite zu konzentrieren hilft ohnehin niemandem. Wer sich dagegen am Potenzial eines Angestellten orientiert, wird Lösungen finden, um ihn zu halten. Die Unternehmen werden in Zukunft auf jeden Angestellten individuell eingehen müssen.“ Am Ende profitieren davon beide Seiten: Die Lebensqualität des chronisch Kranken verbessert sich. Und zugleich müssen die Unternehmen nicht auf das Wissen und die Erfahrung eines Mitarbeiters verzichten, den sie nur schwer ersetzen könnten.

Noch ist dieses neue Denken nicht überall angekommen. „Viele Unternehmen investieren Unsummen ins Recruiting, das Thema wird auf Kongressen rauf und runter diskutiert“, beobachtet Josephine Hofmann, Leiterin des Bereichs „Business Performance Management“ am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. „Dabei ist die Suche nach neuen Mitarbeitern nur ein kleiner Teil dessen, was Betriebe tun müssen, um in Zukunft genügend Personal zu haben. Das Potenzial der vorhandenen Mitarbeiter wird zu wenig genutzt.“ Sie empfiehlt Weiterbildung auch für Ältere und spricht von einer zweiten Welle der Flexibilisierung.

„Flexibel“ – damit verbindet so mancher Angestellte nicht nur Positives, und es stimmt auch: Aus Sicht des Unternehmens hieß Flexibilität eben oft Sonderschichten, Überstunden, von heute auf morgen ein neuer Arbeitsort. „Die Folge waren Wochenendbeziehungen und lange Stunden in Bahn, Auto oder Flugzeug“, sagt Hofmann, die sich am IAO vor allem mit Führungskonzepten und flexiblen Arbeitsformen beschäftigt. „Doch das Machtverhältnis verschiebt sich langsam. Längst wählen Bewerber ihren Arbeitgeber auch nach der Work-Life-Balance aus.“

Im „War for Talents“ erleichtert ein positives Image das Recruiting. Eine flexible Arbeitsorganisation im Interesse der Mitarbeiter trägt dazu bei. Längst gehört es dazu, mit Teilzeit oder Homeoffice-Tagen junge Väter oder Mütter anzulocken, die mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen möchten. An chronisch Kranke denken aber bisher nur wenige Unternehmen, wenn sie flexible Arbeitsorganisation anbieten. Doch wo ist der Unterschied, ob ein Arbeitszeitmodell familienfreundlich ist – oder chronisch Kranken hilft, mit Belastungen besser umzugehen? Ist es nicht egal, ob ein Mitarbeiter ausfällt, weil er von einem Headhunter abgeworben wird – oder ob er plötzlich erkrankt? Das Ergebnis ist gleich: Ein Mitarbeiter fehlt. Und das Unternehmen muss damit umgehen.

Die Arbeit passt sich den Menschen an

„Krankheitsverläufe können sehr unterschiedlich sein. Es ist wichtig, dass ein leistungseingeschränkter Mitarbeiter das Modell in Anspruch nehmen kann, das für ihn am besten ist“, sagt Mathilde Niehaus, Professorin für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität Köln. Anders gesagt: Es ist alles eine Frage der Organisation. Bisher mussten sich die Menschen an die Arbeit anpassen – jetzt muss sich die Arbeit an die Menschen anpassen.

Noch sind wir nicht so weit. Doch viele Unternehmen erahnen das neue Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt bereits und positionieren sich neu – auch um erfahrene Kräfte zu halten. Beide Seiten bewegen sich aufeinander zu. Wir befinden uns in einer Übergangsphase auf dem Weg in eine Zukunft, in der im Job vieles Verhandlungssache sein wird.

Beispiel 1: John Deere

Zeitkonten und Gruppenarbeit

Der Landmaschinenhersteller John Deere bietet seiner Belegschaft mehr als 470 verschiedene Arbeitszeitmodelle an. „Dazu gehören die unterschiedlichsten Teilzeitformen oder auch Jobsharing – kurz alles, was man nicht eins zu eins nebeneinanderstellen kann“, sagt Personaldirektor Ingolf Prüfer. „Es lohnt sich aber auch für uns, auf die Wünsche der Mitarbeiter einzugehen. Wir bekommen dafür im Gegenzug eine motivierte und einsatzbereite Belegschaft.“

Das Arbeitgeber-Image sei zudem wichtig, um für Bewerber attraktiv zu bleiben. „Neue Angebote lohnen sich“, sagt Prüfer, der selbst schon 30 Jahre bei John Deere arbeitet. „Wir beobachten schon länger ein Phänomen: Wenn wir Homeoffice-Tage einführen oder eine neue Kindertagesstätte eröffnen, werden die Angebote häufig nur von wenigen genutzt – doch die Mitarbeiterzufriedenheit steigt. Vielleicht weil die Belegschaft denkt: Sollte ich das irgendwann brauchen, ist es gut, dass es das bei uns gibt.“

Und wenn ein Kollege angeschlagen ist? Oder chronisch krank? Tatsächlich können viele der Angebote auch in dieser Situation helfen. Zum Beispiel weil sie in bestimmten Phasen die Arbeitszeit und damit die Arbeitsbelastung reduzieren. Oder auf andere Weise Stress verringern. Auch Heimarbeit kann eine Lösung sein, wenn durch sie lange Wege wegfallen. Niemand steht gern eine Stunde in Bus und U-Bahn – schon gar nicht mit chronischen Rückenschmerzen.

Gesparte Zeit kann auch Entlassungen verhindern

Zeit sparen, das geht bei John Deere im wahrsten Sinne des Wortes: mit Zeitwertkonten. „Wir unterscheiden zwei Modelle“, sagt Prüfer. „Auf dem Flexzeitkonto kann der Mitarbeiter bis zu 70 Stunden ansparen und darüber selbst stunden- oder tageweise verfügen.“ Liegen jedoch mehr als 70 Extrastunden vor, fließen diese automatisch auf ein Langzeitkonto ein, auf das nur sehr restriktiv und auf Initiative des Arbeitgebers zugegriffen werden kann. „Das ist für uns ein Stoßdämpfer in Krisenzeiten“, erklärt Prüfer.

In der Landmaschinenbranche gilt die Faustregel: Wenn die Landwirte gut verdienen, läuft das Geschäft. 2014 war zwar ein gutes Erntejahr, doch genau deshalb sind die Preise für Getreide und Ölsaaten niedrig. „Die Landwirte investieren kaum, das trifft unsere gesamte Branche“, erklärt Personalchef Prüfer. „Deshalb machen wir gerade von den angesparten Stunden Gebrauch.“ Mithilfe der Langzeitkonten könnte John Deere bei einer mauen Auftragslage theoretisch sieben bis acht Monate alle Werke schließen, ohne auch nur einen einzigen Mitarbeiter entlassen zu müssen.

Im Schichtbetrieb arbeitet John Deere mit einer sogenannten Qualifikationsmatrix: Die Mitarbeiter werden für verschiedene Tätigkeiten ausgebildet, kennen sich an mehreren Arbeitsplätzen aus und rotieren regelmäßig. Ziel ist es, Abwechslung zu bieten, einseitige Belastungen zu vermeiden – und zugleich eine Vertretung zu haben, wenn in einer Gruppe mal jemand ausfällt. Ein Modell, das auch bei chronisch kranken Mitarbeitern nützt. Sollte ein Kollege fehlen, bleibt das Team trotzdem funktionsfähig.

So etwas ist besonders hilfreich bei altersgemischten Teams, die laut wissenschaftlicher Studien produktiver sein sollen. „Wir haben ganz tolle Mischungen, die sich gegenseitig ergänzen“, bestätigt Prüfer, „mit unterschiedlichen Nationalitäten und Altersgruppen. Und eine Gruppe, die gut zusammenarbeitet, nimmt auf einen Kollegen mit Gesundheitsproblemen durchaus Rücksicht. Sie überlässt ihm zum Beispiel Tätigkeiten, die für ihn leichter sind, etwa Bestellvorgänge oder Schreibarbeiten.“ Aber, warnt der Personalchef: „Wenn jemand simuliert, kann eine Gruppe darauf sehr energisch reagieren!“

Beispiel 2: Dyckerhoff

Familienfreundlichkeit gehört dazu

Neben der Hauptverwaltung des Zement- und Baustoffherstellers Dyckerhoff steht die firmeneigene Kindertagesstätte, die „Villa Bambini“. „Alle Unternehmen müssen sich heute überlegen, was sie Familien bieten können“, sagt Georg Markowski, Personalchef bei Dyckerhoff. „Darauf legen die Mitarbeiter sehr viel Wert. Und wir müssen ein attraktiver Arbeitgeber bleiben. Das wird in Zeiten des demografischen Wandels immer wichtiger.“

Deshalb bietet Dykerhoff auch klassische Teilzeit- oder Freistellungsoptionen an, die die Arbeitsbelastung in bestimmten Lebensphasen reduzieren. Damit sollen die Mitarbeiter aber nicht in eine langfristige Teilzeitfalle gedrängt werden, die zu geringen Verdiensten und Altersarmut führen kann. Junge Eltern können ihre Arbeitszeit auf Wunsch reduzieren, aber „sie danach schrittweise wieder aufstocken, wenn sie eine Kinderbetreuung organisiert haben“, erklärt Markowski. „Dann gehen sie im zweiten Jahr vielleicht auf 30 Stunden und im dritten Jahr wieder auf Vollzeit.“

Aufgabenorientierte Arbeitszeiten

In der Zentrale hat Dyckerhoff schon lange keine Kernarbeitszeit mehr. „Wir arbeiten aufgabenorientiert“, erklärt der Personaler. Dabei können die Mitarbeiter zwischen zwei Modellen wählen: flexible Arbeitszeit zwischen 7 und 19 Uhr, mit Zeiterfassung. Oder Vertrauensarbeitszeit, bei der jeder Mitarbeiter selbst verantwortlich zeichnet. „Wer den Freitag frei braucht, weil ein Handwerker kommt, kann zu Hause bleiben und holt die Zeit später nach“, sagt Markowski, der selbst die Vertrauensarbeitszeit nutzt. „Auch Heimarbeit ist möglich. Und wir haben Zeitkonten eingerichtet, bei denen bis zu 60 Stunden angespart werden können.“

Im Schichtbetrieb der Zementwerke ist es schwieriger, flexible Zeiten anzubieten. „Die Schichtmodelle sind derzeit auf dem Prüfstand, aber wie viel wir da ändern können, müssen wir noch sehen“, erklärt Thomas Zlaugotnis, Personalleiter der Werksgruppe Süd. Schon jetzt gibt es für die Mitarbeiter in den Werken Zeitkonten, auf denen sie bis zu 250 Stunden ansammeln können. Die Konten gleichen aber auch Auslastungsschwankungen aus: „Die Produktion von Transportbeton ist sehr witterungsabhängig. Zwischen Dezember und Februar ist es manchmal zu kalt, oder die Anfahrt ist kompliziert. Dann bauen wir Guthaben-Stunden ab.“

Zwar entscheidet der Betrieb, wann die Stunden abgebaut werden, doch das Kontenmodell nützt auch den Mitarbeitern, vor allem in ländlichen Regionen, wo einige im Nebenerwerb Landwirte sind. Sie haben Thomas Zlaugotnis immer wieder gebeten: „Lassen Sie mich ein paar Stunden ansparen!“ – „Die brauchen freie Zeit für ihren Hof, zum Beispiel wenn die Ernte ansteht“, erklärt der Personalleiter. „Und wir versuchen das möglich zu machen.“ Chronisch kranken Mitarbeitern helfen Zeitwertkonten natürlich auch, weil sie sich bei Bedarf schonen können. Und weil sie dem Unternehmen die generelle Bereitschaft abverlangen, Abwesenheiten jederzeit auszugleichen.

Dyckerhoff probiert auch unkonventionelle Modelle aus, etwa mit den Mitarbeitern im Steinbruch des Werks Göllheim. Dort muss das Mischbett immer mit genügend Rohmaterial gefüllt sein. „Aber wenn wir etwa 4000 Tonnen Material brauchen, können die Mitarbeiter und ihre Schichtleiter selbst entscheiden, wann sie sich darum kümmern“, sagt Zlaugotnis. „Das ist wie beim Kuchenbacken“, fügt Personalchef Markowski hinzu. „Sie brauchen alle Zutaten bis Samstag zwölf Uhr. Doch wenn jemand anders für Sie einkaufen geht, ist es egal, wann er es macht und wie lange er dafür braucht – solange am Samstag alles rechtzeitig da ist.“

Beispiel 3: Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein AG

Der Demografie-Tarifvertrag

Der Bus muss fahren – das ist klar. Aber in den vergangenen 15 Jahren fand bei der VHH in vieler Hinsicht ein Umdenken statt. „Das fängt bei den Fahrern an“, sagt die Personalleiterin Verena Bouquet. „Es genügt längst nicht mehr, einen Bus von A nach B zu lenken. Sie müssen serviceorientiert denken und gut mit Menschen umgehen können.“ Das macht es nicht leichter, geeignete Mitarbeiter zu finden. „Wir versuchen verstärkt, Frauen anzusprechen, und trainieren neue Fahrer in unserer Fahrschule“, erklärt Bouquet.

Der demografische Wandel trifft das Busunternehmen doppelt: Einerseits werden die Kunden älter, Busse und Haltestellen müssen barrierefrei sein. Andererseits ist bereits heute die Hälfte der Mitarbeiter der VHH über 50 Jahre alt. Besonders die mehr als 1300 Busfahrer sind gefährdet, schon vor dem Rentenalter arbeitsunfähig zu werden, denn sie arbeiten immer in der gleichen Haltung und haben einen stressigen Alltag. „Doch wir möchten die Fahrer, die wir haben, halten“, betont Bouquet. „Sie sollen so lange wie möglich so gesund wie möglich bei uns bleiben, am besten bis zur Rente.“

Um das zu erreichen, setzt das Unternehmen ein finnisches Konzept um: das „Haus der Arbeitsfähigkeit“, entwickelt am Institut für Arbeitsmedizin in Helsinki, das für seine Entwicklung mehr als 6000 Arbeitnehmer über 20 Jahre begleitet hat. „Ziel ist, eine Balance zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbelastung zu finden“, sagt Jürgen Tempel, bis vor Kurzem Betriebsarzt bei der VHH.

In dem Konzept werden alle Faktoren, die Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben, verschiedenen Stockwerken zugeordnet: Die physische und psychische Gesundheit ist die Grundlage, das Erdgeschoss. Darüber stehen die Kompetenzen des Mitarbeiters, ein Stock höher sind Motivation und die Bindung zum Unternehmen untergebracht. Ganz oben, unter dem Dach, ist die Arbeitsorganisation angesiedelt. Diese ganzheitliche Betrachtung stellt sicher, dass kein Faktor unbeachtet bleibt – von Arbeitspensum und Zeitdruck bis zu Rehabilitationsmöglichkeiten, Arbeitszufriedenheit und auch dem Verhalten von Führungspersonen.

Zum Konzept gehört eine neue Denkweise, sagt Tempel. „Früher hieß es in den meisten Unternehmen, wer sein Pensum nicht schafft, muss gehen. Die VHH fragt ihre Mitarbeiter: Was können wir tun, damit Sie bleiben?“ Gespräche mit Führungskräften seien wichtig, das hätten die Studien aus Finnland gezeigt. „Wenn ein Mitarbeiter zwischen dem 51. und dem 62. Lebensjahr weniger Anerkennung und Respekt im Arbeitsleben erhielt, stieg das Risiko für eine verminderte Arbeitsfähigkeit um das 2,4-fache“, erklärt der Betriebsarzt. Bei der VHH finden deshalb regelmäßig Mitarbeitergespräche statt, „wertschätzende Dialoge“, für die die Führungskräfte extra geschult wurden. Dabei geht es auch um Wünsche der Mitarbeiter, wie ihr Arbeitsalltag besser organisiert werden kann.

Mehr freie Tage für Ältere

Außerdem wurde die Pausenregelung für alle Fahrstrecken nach arbeitsmedizinischen Erkenntnissen überarbeitet. Zu frühe Pausen sind vergeudet, zu späte verfehlen ebenfalls ihre Wirkung. Wichtig sind kurze Pausen zwischendurch, weil der Erholungseffekt in den ersten 15 Minuten doppelt so groß ist wie in den folgenden 15 Minuten. Zugleich wurde die maximale Schichtlänge verkürzt. Lag sie früher bei 10,5 Stunden, sind nun 9,75 Stunden das Maximum, in Ausnahmefällen auch mal zehn. Das Unternehmen verpflichtet sich, allen Mitarbeitern jedes Jahr drei freie Wochen am Stück zu ermöglichen – und achtet streng darauf, dass sie zumindest einmal im Jahr zwei Wochen zusammenhängend Urlaub nehmen.

Vor zwei Jahren trat bei dem Hamburger Busunternehmen zudem ein Demografie-Tarifvertrag in Kraft, der ältere Mitarbeiter systematisch entlasten soll. Über 55-Jährigen stehen danach vier voll bezahlte Entlastungstage zu, kurz vor dem Renteneintritt sind es bis zu zehn Tage pro Jahr. Mitarbeiter, die Entlastungstage in Anspruch nehmen, dürfen allerdings keine Nebentätigkeiten ausüben und an freien Tagen keine Dienste leisten. Wer mehr Ruhezeit braucht, kann das Urlaubsgeld in Urlaubstage umwandeln. Bei gesundheitlichen Problemen bietet der Arbeitgeber therapeutische Hilfe an, zudem gibt es ein Abkommen mit einer Fachklinik, die Mitarbeiter des VHH auch kurzfristig aufnimmt. Gemessen wird die Wirkung der neuen Regelungen anhand des Arbeitsbewältigungs-Index. Die ersten Ergebnisse werden 2016 vorliegen.

Beispiel 4: Hug-Verlag

Die Belastungs-Ampel im Computer

„Ja, Frau Hug ist noch eingeloggt“, sagt der Herr, der den Anruf kurz vor Feierabend entgegennimmt. Er weiß das genau, denn ein Computersystem des Hug-Verlags, der die Kinderzeitschrift Junior produziert, erlaubt es allen Mitarbeitern zu sehen, wer gerade arbeitet – auch wenn es ein Kollege zu Hause tut. Zudem gibt in dem Schweizer Verlag jeder, der sich gerade im System befindet, mithilfe einer Ampel seine Arbeitsbelastung an. Rot heißt: „Nichts geht mehr.“ Gelb: „Ich bin ausgelastet, aber etwas Luft ist noch.“ Grün: „Gern neue Aufgaben.“ „Das System hilft uns, wenn ein Mitarbeiter über- oder unterfordert ist“, erklärt Julia Hug, die den Verlag seit fünf Jahren in dritter Generation führt, gemeinsam mit ihrem Mann. „Außerdem nützt es, wenn ein Kollege ausfällt. Ich sehe sofort, wer noch Luft hat und einspringen kann.“

2014 wurde der Schweizer Verlag, der rund 50 Mitarbeiter beschäftigt, vom Kanton Zürich für seine guten Arbeitsbedingungen mit dem Prix Balance ausgezeichnet. Die Angestellten dürfen Hunde mit zur Arbeit bringen, für Kinder bis elf Jahre gibt es Geld für die Betreuung. Viele Mitarbeiter nutzen Teilzeitmodelle oder arbeiten von zu Hause aus. „Wir produzieren eine Kinderzeitschrift, deshalb bewerben sich viele Eltern bei uns. Und wir möchten sie halten“, sagt Julia Hug.

Detaillierte Dokumentation fördert den Arbeitsfluss

Wenn jemand ausfällt, sorgt die detaillierte Dokumentation aller Vorgänge dafür, dass der Arbeitsfluss nicht beeinträchtigt wird. „Ich speichere immer im System ab, was ich mit welchem Kunden wann besprochen habe“, erzählt Angela Grosso, die im Verkauf arbeitet. „Deshalb kann im Notfall ein anderer Kollege ohne große Übergabe einspringen.“ Grosso kommt nur montags in den Verlag, den Rest der Woche arbeitet sie zu Hause.

Dem Grafikleiter Markus Greter widmete der Tages-Anzeiger vor Kurzem einen Artikel mit dem Titel: „Der Meister der Work-Life-Balance“. Drei Monate im Jahr verbringt Greter im Fahrradsattel. Ein Teil sind Urlaubstage, der Rest ein unbezahltes Mini-Sabbatical. Sein Traum: Er will einmal um die Welt radeln, bis er 60 Jahre alt ist – elf Jahre bleiben noch. Bei jeder Tour fährt er eine neue Etappe, mehr als 82 000 Kilometer hat er bereits geschafft. Zurück in der Schweiz lädt er zur Diashow ein, zu der auch Julia Hug und viele Kollegen gern kommen.

„Zum Glück haben wir eine wunderbare Vertretung, die auch immer wieder für uns arbeitet, wenn Markus im Haus ist“, erklärt die Verlagschefin. „So braucht es keine lange Einarbeitungszeit. Ganz einfach war die Organisation anfangs nicht, aber wir wissen eben, dass Markus, wenn er in der Schweiz ist, exzellente Arbeit leistet.“ Es sei schon ein Glück, dass nicht alle Mitarbeiter Weltenbummler sind und sich drei Monate Sabbatical im Jahr wünschen, erzählt Julia Hug. Aber sie denkt wirtschaftlich und weiß, dass sich die Mühe letztlich rechnet: „Zufriedene Mitarbeiter sind uns wichtig. Und wo ein Wunsch besteht, versuchen wir ihn zu erfüllen.“

Mal ist es ein Wunsch, der eine gute Lösung auf den Weg bringt, mal schiere Notwendigkeit. Was die Veränderung auslöst, ist letztlich gar nicht wichtig. Es kommt vielmehr darauf an, was sie braucht, um zu gelingen: Man muss sich selbst entbehrlich machen – denn nur wenn Mitarbeiter Fachwissen nicht horten, können Kollegen ihre Aufgaben im Notfall kurzfristig übernehmen. Doch nur jemand, der sich wirklich sicher sein kann, dass während seiner Abwesenheit niemand an seinem Stuhl sägt, wird alle Informationen mit den Kollegen teilen. Das bedeutet: Der Mitarbeiter muss vertrauen – und das Unternehmen muss zeigen, dass es vertrauenswürdig ist. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.