Interview mit Franz Knieps: Reformation des Gesundheitssystems

Wie viele chronisch Kranke verträgt unser Gesundheitssystem? Und wie können wir ihren medizinischen Bedarf finanzieren?  Ein Gespräch mit dem BKK-Dachverband-Chef Franz Knieps.




Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne alle Probleme mit einer großen Reform lösen

Glaubt man dem Pressespiegel, ist Franz Knieps in erster Linie eine graue Eminenz, also jemand, der im Hintergrund die Fäden zieht. Das soll er zumindest von 2003 bis 2009 als Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gewesen sein. Kann aber durchaus sein, dass in dieser Bezeichnung nur ein bisschen Neid auf die recht ungebrochene Karriere eines Überzeugungstäters mitschwingt. 

Seit er von 1987 bis 1988 an der Gesundheitsreform von Norbert Blüm mitarbeitete, hat der Jurist Brücken zwischen Politik und Gesundheitssystem geschlagen. Er leitete für den AOK-Bundesverband die Abteilung Politik, beriet Regine Hildebrandt, die Ministerin für Arbeit und Soziales in der ersten frei gewählten Regierung der DDR, und schließlich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Schmidts Nachfolger Philipp Rösler versetzte Knieps nicht einmal zwei Monate nach Amtsantritt in den einstweiligen Ruhestand – er dachte vermutlich, er sei ihn damit endgültig los.

Um Knieps wurde es tatsächlich einige Jahre ruhiger, als er für Wiese Consult, das Beraterunternehmen seines Parteigenossen Heino Wiese, tätig war. Doch nun ist er zurück auf der politischen Bühne. Als Vorstand des BKK Dachverbands vertritt der 58-Jährige 9,9 Millionen Versicherte aus 88 Betriebskrankenkassen, und zwar durchaus meinungsstark, denn das ist sein Job: Der BKK Dachverband wurde 2013 eigens gegründet, um den vielen kleinen Betriebskrankenkassen eine gemeinsame Stimme in wichtigen Diskussionen zu geben. Dazu gehört auf jeden Fall auch die Frage, wie man das Gesundheitssystem für den demografischen Wandel und die damit einhergehende wachsende Zahl chronisch Kranker fit machen kann.

Franz Knieps wirkt im Gespräch sehr entspannt – er fordert die Revolution mit der Gelassenheit des Pragmatikers. Da bleibt er sich treu. 2009 schrieb die Berliner Zeitung über eine Theorie Knieps’: „Die Strukturen im Gesundheitswesen müssten eigentlich alle paar Jahre komplett zerstört und neu wieder aufgebaut werden, um das System am Laufen zu halten. Andernfalls drohe der Kollaps, weil alle Beteiligten von Jahr zu Jahr immer besser darin würden, das System zum eigenen Vorteil auszunutzen.“

Geld ist für Franz Knieps zurzeit allerdings nicht das zentrale Thema. „Ich glaube“, sagt er am Ende des Gesprächs, „dass das System in absehbarer Zeit nicht viel teurer wird.“ Vorausgesetzt, die Revolution findet statt, versteht sich.

Herr Knieps, als wir anfingen, uns mit der demografischen Entwicklung, der mit ihr einhergehenden Zunahme chronischer Krankheiten und deren Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft zu beschäftigen, dachten wir, das sei eben eines der vielen Probleme, die wir als Gesellschaft lösen müssen. Inzwischen ist uns die Tragweite bewusst, sodass wir uns nun vor allem fragen: Wo soll das enden? Und warum passiert so wenig?

Ich weiß gar nicht, ob so wenig passiert. Und es ist ohnehin eine Illusion, zu glauben, man könne alle Probleme mit einer großen Reform lösen. Es braucht eher viele kleine Schritte, um das System anzupassen. Dafür fehlt bislang allerdings etwas Entscheidendes: eine politische Vision, die eine Richtung vorgibt. Früher war die Vision: Das Gesundheitswesen ist ein Reparaturbetrieb für akute Erkrankungen. Diesem Leitbild folgten die Medizinerausbildung und die Strukturen – Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus – mit einer hohen Autonomie jedes einzelnen Sektors, in dem das jeweilige Problem abschließend behandelt wurde.

Das funktioniert bis heute sehr gut.

Stimmt. Doch chronische, vielleicht sogar degenerativ verlaufende Erkrankungen erfordern genau das Gegenteil: eine enge Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Professionen. Denn neben den Ärzten sind beispielsweise auch die Pflegekräfte und die Ernährungsberater gefragt, die Physiotherapeuten oder Psychotherapeuten. Und da zeigt sich ein Mangel unseres aktuellen Systems: Es gibt keine fließenden Übergänge zwischen Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus, Reha-Einrichtung und Pflege. Alle Bereiche denken und handeln innerhalb ihrer klar definierten Sektorengrenzen.

Und wie sähe eine Vision aus, die das ändern würde?

So eine Vision müsste einer schlichten Tatsache folgen: Chronische Erkrankungen sind heute viel verbreiteter als akute Erkrankungen. Nahezu jeder hat eine. Schauen Sie mich an, ich bin multimorbid: Ich habe Diabetes, hohen Blutdruck und einen Arterienverschluss am rechten Auge, sodass ich damit nichts mehr sehen kann. Ich mache aber trotzdem einen Fulltime-Job.

Müssten wir also zuerst unsere Idee von Krankheit überdenken?

Krankheit wird immer gleichgesetzt mit einer schweren Erkrankung, die einen arbeitsunfähig macht. Das ist aber nicht mehr so. Ich bin vielleicht fünf bis zehn Tage im Jahr arbeitsunfähig – den Rest der Zeit bin ich voll belastbar. Der Arbeitgeber muss sicherlich meine Bedürfnisse berücksichtigen, dass ich zum Beispiel ab und zu zum Arzt muss. Diese Zeit brauche ich. Aber sonst arbeite ich normal.

Im Unternehmensalltag lässt sich mit gutem Willen sicher viel bewegen. Aber wir stehen doch vor einem viel größeren Problem: Bei einer akuten Erkrankung sind die Behandlungskosten bis zur Heilung absehbar – Chroniker sind ein endloser Kostenfaktor.

Ich weiß nicht, ob das vor allem ein Finanzierungsproblem ist. Ein gut eingestellter Bluthochdruck kostet nicht viel, die Medikamente sind in der Regel Generika. Das gilt für die meisten Standardtherapien. Teuer wird es erst, wenn die Behandlung nicht optimal ist und Folgekrankheiten auftauchen. Um das zu vermeiden, gilt es, nicht mehr nur einen Behandler im Blick zu haben, sondern die Behandlungskette. Es geht um organisierte Zusammenarbeit.

Aber wollen die Ärzte das? Und können sie das schaffen?

Speziell niedergelassene Ärzte sind traditionell Einzelkämpfer, die oft keine Behandlungskette organisieren können – viele haben das noch nie gemacht. Außerdem werden sie dafür auch nicht bezahlt. Kommunikation wird nicht bezahlt, Koordination wird nicht bezahlt, Kooperation wird nicht bezahlt. Bezahlt wird medizinische Hilfe, am besten mit Technik und im Notfalleinsatz. Dabei müssten Ärzte eigentlich dafür bezahlt werden, dass sie kontinuierlich einen Patienten betreuen.

Darüber beschweren sich die Hausärzte schon lange: dass sie Geld bekommen, wenn sie ihre Patienten in irgendeiner Form vermessen, aber nicht, wenn sie mit ihnen sprechen.

Das ist ein Problem. Aber die Ärzte müssten auch einige Aufgaben an andere Professionen abgeben. Wenn Sie das deutsche Gesundheitssystem mit den Systemen anderer Länder vergleichen, stellen Sie zwei große Unterschiede fest. Zum einen gibt es nirgends diese strikte Trennung von ambulant und stationär. Und zum anderen ist bei uns die Fixierung auf den Mediziner extrem: Vieles, was hierzulande Ärzte machen, wird in den meisten Ländern von anderen Professionen erledigt.

In den USA, Skandinavien oder England zum Beispiel haben Krankenschwestern eine ganz andere Stellung. Sie sind akademisch gebildet und agieren mit dem Arzt auf Augenhöhe. Bei uns ist das undenkbar. Stattdessen nennt sie der Präsident einer Ärztekammer „akademisiertes Proletariat“.

Wie bitte?

Das ist das alte Denken. Die jungen Leute, die mit der digitalen Welt aufgewachsen sind, können damit gar nichts mehr anfangen. Die verstehen auch nicht, warum die Medikation, die der Patient im Krankenhaus angeben muss, auf einem handgeschriebenen Zettel steht.

Das neue E-Health-Gesetz sieht übrigens für die nächsten Jahre erst mal nicht vor, dass die verwendeten Arzneimittel auf der Gesundheitskarte des Patienten gespeichert werden, sondern dass der Patient jedes Jahr einen neuen Ausdruck bekommt. Das kann doch nicht wahr sein! Wir hinken Jahre hinter den aktuellen technischen Entwicklungen her.

Weshalb ist das Gesundheitssystem so träge?

Da gibt es handfeste Machtinteressen der Institutionen. Und jede Großorganisation im Gesundheitswesen ist ein Vetospieler: die Ärzte, die Kassen, die Industrie, die Krankenhäuser.

Aber die gewinnen doch auch, wenn sich die Welt verändert. Wenn das System in 20 Jahren noch so ist, haben alle verloren.

Sicher, aber das interessiert niemanden, denn alle schauen immer nur auf das laufende Jahr. Sie können bei jedem beliebigen Akteur im Gesundheitswesen ein Konzept präsentieren, das garantiert 20 Prozent Return on Investment bringt – aber erst in drei Jahren. Das wird keiner umsetzen!

Bizarr. Und nun?

Wir brauchen viele kleine Schritte. Die Einführung der Disease-Management-Programme, mit denen chronisch Kranke vernetzt behandelt werden, hat sehr viel gebracht. Die Ärzte sind erst dagegen Sturm gelaufen, doch das hat sich schnell gelegt.

Gibt es eine Idee, die ähnlich viel bewegen könnte?

Man könnte von der aktuellen Sektorensteuerung auf eine Integrationssteuerung umstellen, eine Gesamtsteuerung. Das wäre revolutionär. Einen Ansatz gibt es schon: Vor einigen Jahren wurden Landesgremien eingeführt, in denen Vertreter der Politik, Kassen, Ärzte und Krankenhäuser sitzen. Bisher können diese Gremien nur Empfehlungen aussprechen, aber wenn man ihnen Entscheidungskompetenz gäbe, müssten sie die verschiedenen Interessen ausgleichen – und immer mit Blick auf den Patienten. Bisher ist es stattdessen so, dass jeder versucht, seinen Sektor zu optimieren. Die Betriebswirtschaft dominiert über die Volkswirtschaft.

Mehr Machtbefugnis für die Gremien allein würde kaum reichen.

Stimmt, aber dann könnte man in einem zweiten Schritt sehen, welche Anteile Qualität und Ergebnis an der Vergütung haben. Ich weiß, dass das sehr schwierig ist. Aber wenn man zumindest die Idee etablieren könnte, dass ein Arzt für Kommunikation, für Koordination und letztlich für Erfolg bezahlt wird, wären wir viel weiter.

Das klingt überzeugend. In nächster Zeit ist aber wohl kaum mit dem großen Wurf zu rechnen. Was kann der Einzelne tun, als Patient, Arzt oder Arbeitgeber, um die Situation zu verbessern?

Ich fange mal bei den Unternehmen an. Die können ihre Gesundheitsdaten gemeinsam mit den Kassen für ein Arbeitsunfähigkeitsprofil zusammenführen, das zeigt, aus welchen Gründen es im Betrieb besonders viele Arbeitsunfähigkeitstage gibt, etwa wegen psychischer Diagnosen oder wegen Rückenproblemen. Darauf kann ein Gesundheitsbericht basieren, über den man sich wiederum mit der Belegschaft verständigt: Was ist los? Was können wir tun?

Bei einem großen Automobilhersteller wurde so zum Beispiel festgestellt, dass viele Rückenprobleme ein Generationsproblem sind: Die jüngeren Mitarbeiter sind im Schnitt größer als die älteren, doch die Ergonomie war auf die älteren ausgerichtet. In jedem Unternehmen gibt es viele solcher kleinen Stellen, an denen man mit einfachsten Mitteln etwas tun kann. Aber zuerst einmal muss man sich einen Überblick verschaffen, das ist der erste und wichtigste Schritt.

Aber das ist doch ziemlich aufwendig.

Nein, das können auch kleine Unternehmen. Die Daten sind überall vorhanden. Wir haben gerade mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein Projekt zur Prävention in kleinen und mittleren Betrieben durchgeführt, in dem wir in zwölf Regionen gezeigt haben, was möglich ist. Es gibt auch eine Unmenge an wissenschaftlicher Expertise und praktischer Erfahrung, die man an vielen Stellen umsetzen könnte. Es fehlen allerdings die Plattformen, um sich auszutauschen.

Wenn sich der Patient kümmert, ist auch für den Arzt viel gewonnen.

Das beklagen vor allem auch die Arbeitsmediziner: dass ihnen der Austausch fehlt.

Das Problem der Betriebsmediziner ist, dass sie aufgrund gesetzlicher Beschränkungen im eigenen Saft schmoren: Sie stellen ein Problem fest, schicken den Betroffenen zum niedergelassenen Kollegen – und hören nie wieder von ihm. Dabei könnte man Betriebsmediziner an der integrierten Versorgung beteiligen. Es wäre doch enorm praktisch, wenn ich als Patient für einfache Untersuchungen nicht zum Hausarzt müsste, sondern sie da erledige, wo ich sowieso bin: bei der Arbeit.

Die neue Generation der Betriebsmediziner ist daran auch interessiert, da findet ebenfalls ein Generationswechsel statt. Aber den anderen Arztverbänden würde das wohl erst mal nicht gefallen. Die sagen zwar, die Ärzte seien überlastet. Aber wenn man sie fragt, welche Aufgaben sie abgeben könnten, antworten sie: keine.

Das ist das Schicksal des Einzelkämpfers.

Ja, aber immerhin sind die jungen Leute schon viel weiter. Die wollen alle zumindest in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten, am liebsten aber in einem Versorgungszentrum als Angestellte. Doch solche Kooperativformen werden bei uns diskriminiert – nicht offiziell, sondern durch viele kleine Tricks. In der DDR war das ganz anders, da arbeiteten die meisten Ärzte angestellt in Polikliniken. Aber von denen blieben nach der Wiedervereinigung nur einige Ambulatorien und Polikliniken übrig, das sind quasi Vorläufer der integrierten Versorgung. Von ihnen abgesehen, waren bis 2003 Medizinische Versorgungszentren in Deutschland sogar verboten.

Dass sich das verändert hat, verdanken wir übrigens dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Professor Wolfgang Böhmer. Bei den Koalitionsverhandlungen 2002 sagte eine junge Abgeordnete, nur ein freiberuflicher Unternehmer-Arzt könne ein echter Arzt sein. Und Böhmer hat geantwortet: „Wollen Sie mir erklären, dass mein Berufsleben verpfuscht ist, weil ich 14 000 Kinder als angestellter Chefarzt zur Welt gebracht habe?“ Damit war die Debatte beendet.

Angestellt zu sein ist schließlich auch kein Makel.

Wenn Sie junge Ärzte und Ärztinnen befragen – zu zwei Dritteln weiblich übrigens – dann wollen 80 Prozent von ihnen nicht Unternehmer werden. Sie wollen im Team arbeiten, sie wollen Austausch, Unterstützung, Begleitung. Eine Einzelpraxis ist in den meisten Gegenden der Republik heute nicht mehr verkäuflich. Nur gehören die Funktionäre, die die Ärzteschaft repräsentieren, zu einer anderen Generation. Die sitzen seit Jahrzehnten allein in ihrer Praxis und finden das völlig normal.

Das klingt, als würden Sie von den Jüngeren viel erwarten.

Die neue Generation ist digital sozialisiert. Wenn sie auf ein Problem stößt, das sie nicht kennt, sucht sie eine Lösung mit dem i-Pad. Auch das Verhältnis zu anderen Professionen verändert sich langsam. Wir haben inzwischen in Deutschland an einigen Unis Studiengänge, in denen zumindest zeitweise künftige Ärzte neben anderen Gesundheitsberufen sitzen. So kennen sich die Leute aus dem Studium und verstehen sich natürlich besser. Da wird sich in Zukunft noch viel bewegen.

Und was kann der Patient tun, um diese Entwicklung zu fördern?

Er kann sich informieren, den Arzt nach Behandlungsalternativen fragen, sich an Selbsthilfegruppen wenden. Wenn sich der Patient kümmert, ist auch für den Arzt viel gewonnen. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.