So sieht es aus

03 Guter Wille reicht nicht

Alle wollen eine gute Versorgung chronisch Kranker – zum Wohle von Patienten, Wirtschaft und Gesellschaft. Aber was heißt das wirklich? Und was muss dafür getan werden? Antworten aus einer komplexen Welt.





Marion Rink, Vizepräsidentin der Deutschen Rheuma-Liga
Wir sind nicht nur ein Kostenfaktor, sondern Träger von Wissen und Können.

Die Patientin

Ich leide seit 1988 an rheumatoider Arthritis, einer entzündlichen Form des Rheumas. Davon sind meine Gelenke schmerzhaft geschwollen, Knochen und Knorpel angegriffen. Ich kann schlecht laufen und nur sehr vorsichtig Hände schütteln. Weil auch die Halswirbel betroffen sind, kann ich den Kopf kaum drehen, weshalb ich mich immer an die Stirnseite eines Tisches setze, wenn ich mit Menschen rede. Bis zum Jahr 2000 war ich Lehrerin für Mathematik, Physik und Informatik, seitdem arbeite ich in der Berliner Senatsverwaltung.

Eine gute Versorgung? Die fängt für mich beim Arzt an. Der ist für chronisch Kranke besonders wichtig, denn sie sind ihr Leben lang auf ihn angewiesen. Ich möchte vom Arzt nicht betrachtet werden wie eine Ansammlung von Laborwerten. Ich bin ein Mensch, und so möchte ich behandelt werden. Ich erwarte, dass ein Arzt mit mir redet. Und ich will die Chance haben mitzuentscheiden. In der Realität ist das leider nicht immer der Fall.

Die Versorgung bleibt unter ihren Möglichkeiten

Ebenso wichtig ist der schnelle Zugang zu Fachärzten. Das funktioniert in Deutschland eigentlich recht gut, nicht zuletzt, weil sich manchmal auch die Krankenkassen einschalten und Druck machen, damit man schneller Termine bekommt. Was allerdings nicht heißt, dass jeder Erkrankte jede Hilfe bekommt, die er benötigt.

Dabei mangelt es gar nicht an gutem Willen, wenn die Versorgung unter ihren Möglichkeiten bleibt. Ärzte zum Beispiel spielen bei chronischen Krankheiten eine Schlüsselrolle und haben doch häufig kaum eine Ahnung von der Arbeit ihrer Patienten und den Anforderungen der Arbeitgeber – wie soll da eine gemeinsame Strategie entstehen? Die Servicestellen bei den Versicherungen sind auch oft keine Hilfe, weil ihnen die Mittel und das Personal fehlen, um ein Fallmanagement zu koordinieren. Und bei der Heilmittelversorgung werden Anträge wiederholt pro forma abgelehnt, in Widerspruch zu gehen ist für chronisch Kranke aber eine echte Belastung. Ich habe fünf Jahre um eine Standheizung für mein Auto kämpfen müssen, obwohl sie mir gesetzlich zustand. Der wachsende Druck ist auch an anderen Stellen bemerkbar. So werden Patienten beispielsweise immer öfter zum Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zitiert, wenn es ums Krankengeld geht.

Aufseiten der Unternehmen zeichnet sich dagegen gerade ein Wandel ab. Sie sehen in uns Kranken nicht mehr nur einen Kostenfaktor, sondern endlich auch den Träger von Wissen und Können. Viele große Firmen haben inzwischen ihr betriebliches Eingliederungsmanagement verbessert und schaffen immer mehr krankengerechte Arbeitsplätze. Sie haben verstanden, dass chronisch kranke Arbeitnehmer oft willensstärker sind als ihre gesunden Kollegen und sich ihrem Betrieb auch stark verpflichtet fühlen.

Ich halte die berufliche Eingliederung für essenziell, weil es für die Gesundheit des Einzelnen enorm wichtig ist, gebraucht zu werden. Außerdem bekommen chronisch Kranke damit auch eine Chance, der Gesellschaft etwas zu geben. Dafür müssen sie aber Verantwortung übernehmen: Sie müssen Leistung bringen, jeden Tag ihre Übungen machen und ihre Ernährung umstellen. So etwas kostet Disziplin, Mühe und Überwindung.Aber auch Selbsthilfe ist entscheidend für eine gute Versorgung, und es gibt diverse Gruppen Betroffener, bei denen man sich Hilfe holen kann.

Und ja, chronisch Kranke müssen auch lernen, ihre Ansprüche herunterzuschrauben. Wenn jemand wegen seiner Einschränkungen im Betrieb auf einen Arbeitsplatz mit leichteren Aufgaben versetzt wird, verdient er oft weniger als zuvor. Das wäre bei einem Gesunden aber nicht anders.

Thomas Aßmann, Hausarzt
Wir sind auf Unterstützung angewiesen.

Der Mediziner

Ich bin Internist und betreibe seit 15 Jahren eine Hausarztpraxis in einer Kleinstadt. Mit chronisch Kranken habe ich am häufigsten zu tun, und das wird noch zunehmen, weil die Menschen immer älter werden. Man darf aber nicht glauben, es ginge allein um alte Menschen. Rund die Hälfte der Patienten ist jünger als 60 Jahre. Bluthochdruck oder Depressionen – das geht schon mit Mitte 20 los.

Eine gute Versorgung soll dazu beitragen, dass die Patienten ganz normal leben können. Dafür haben wir in unserem Gesundheitssystem sehr gute Medikamente und Therapien, auch die Versicherungsleistungen sind eigentlich in Ordnung. Privatversicherte profitieren von einer ausgefeilten Diagnostik, gesetzlich Versicherte haben aber am Ende oft die bessere Versorgung, weil sie an speziellen Chroniker-Programmen teilnehmen können, den Disease-Management-Programmen (DMP), etwa im Falle von Diabetes oder chronischer Bronchitis.

Gerade bei chronischen Erkrankungen ist eine strukturierte Behandlung wichtig – und die DMPs gewährleisten sie. Dabei folgen mehrere Fachärzte einem verbindlichen Plan, und bestimmte Untersuchungen finden in klaren Zeitabständen statt. Es gibt auch viel Zeit für Gespräche, in denen Patienten mehr über ihre Krankheit erfahren und den Einfluss, den ihre Lebensführung darauf hat. Oder sie lernen, wie man ein Asthmaspray richtig benutzt. Diese stete Begleitung funktioniert: Die Krankheit ist nicht mehr so ausgeprägt, die Patienten haben weniger Leidensdruck, Fehltage und Klinikaufenthalte gehen zurück – davon profitiert die gesamte Gesellschaft. Eine Ausweitung der Programme, etwa auf psychische Erkrankungen, ist deshalb ganz in meinem Sinne.

Für die Politik sind wir Hausärzte nur Dödel

Wir Ärzte sind aber nur ein kleiner Teil des Systems und deshalb auf die Unterstützung durch die anderen Beteiligten angewiesen. Und da funktioniert nicht immer alles reibungslos. Ich halte das Hausarztmodell der integrierten Versorgung für sehr gut, die Hausärzte sind die engsten Begleiter der Patienten, sie können die Fäden am besten zusammenhalten. Für die Politik sind wir aber oft nur die Dödel, und einige Krankenkassen agieren regelrecht hausarztfeindlich.

Ein wiederkehrendes Problem sind Regressforderungen bei Überschreitung des gedeckelten Budgets. Dabei benötigen doch gerade chronisch Kranke viele Medikamente und Heilmittel – sollen wir Ärzte die etwa verweigern? Wir müssen die Menschen behandeln, auch wenn uns natürlich klar ist, dass die Belange der gesamten Versichertengemeinschaft wichtig sind. Aber Medizin ist nun mal kostspielig, und zurzeit bekommen immer nur wir den Schwarzen Peter zugeschoben. Die Gesellschaft muss definieren, wofür sie Geld ausgeben will. Bislang wird alles versprochen, doch überall gibt es versteckte Fallen.

Wir Ärzte sind nur Helfer. Gesundung ist ein aktiver Prozess, der Willen und Selbstdisziplin voraussetzt. Ich bräuchte eigentlich Patienten, die mit ihrer Krankheit leben und nicht für sie. Aber in der Realität verstehen sich viele vor allem als Leidende, nicht als zentrale Einflussgröße auf ihre Krankheit. Sie glauben an Pillen. Und wenn sie eine Knieprothese bekommen, essen sie trotz massiven Übergewichts ungehemmt weiter, weil das Knie nicht mehr schmerzt. Oder sie bauen sich mentale Notausgänge, nach dem Motto: „Warum soll ich mit dem Rauchen aufhören? Helmut Schmidt raucht mit 96 Jahren auch noch.“

Kurz aufpäppeln – und zurück ins System

Auch deshalb spricht vieles dafür, auf Vorbeugung zu setzen. Nach dem neuen Präventionsgesetz sollen sich die Krankenkassen verstärkt um Gesundheitsförderung etwa in Kitas, Schulen und Betrieben kümmern – das kann ich nur begrüßen. Dass es an einem Schulkiosk vor allem Süßigkeiten gibt, darf nicht sein. Das Schulessen muss gesund sein, schon wegen des Lerneffektes. Auch in Betrieben findet wirksame Prävention bislang kaum statt. Und bei psychischen Problemen werden die Leute kurz aufgepäppelt, um dann in ein System entlassen zu werden, das sie krank gemacht hat.

Ein verbindlicher Rahmen vonseiten der Politik wäre sehr gut, aber Floskeln nützen nichts. So heißt es beispielsweise im Gesetzentwurf, die Kassen sollten den Empfehlungen des Hausarztes folgen – ohne Sanktionen wird sich vermutlich nur kaum einer daran halten. Es müsste auch ein Lastenheft geben, das regelt, welche Konsequenzen sich aus einem bestimmten Befund in der Vorsorgeuntersuchung ergeben.

Bei Übergewicht beispielsweise müsste bewusst interdisziplinär vorgegangen werden, nicht nur mit der Einbeziehung von Ärzten, sondern auch von Sportvereinen. Außerdem müsste es für Patienten verbindlich sein, sich mit ihren Risiken auseinanderzusetzen – obwohl ich nicht weiß, wie man das anstellen könnte. Ein entsprechendes Angebot wäre zumindest ein Anfang.

Hilde Mattheis, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Faktion im Deutschen Bundestag
Wir müssen Ärzte gezielt in schlecht versorgte Stadtteile lenken.

Die Politikerin

Die Versorgung chronisch Kranker ist bei uns bereits sehr gut und effizient, doch es gibt noch einiges zu verbessern. Zwei Punkte sind dabei für mich entscheidend: Wir müssen chronischen Erkrankungen vorbeugen – durch Prävention, die den Bürger wirklich erreicht. Und wir müssen die Versorgung optimieren.

Gerade bei chronisch Kranken ist die medizinische Versorgung Teamarbeit, an der viele verschiedene Professionen beteiligt sind. Der Hausarzt, diverse Fachärzte, Betriebsärzte, Heilpädagogen und Heilmittellieferanten müssen Hand in Hand arbeiten – mit dem Hausarzt im Mittelpunkt. Dafür muss man sie vernetzen. Wir haben bei chronischen Erkrankungen gute Erfahrungen mit den Disease-Management-Programmen (DMP) gemacht, weshalb sie bald auf Patienten mit Rückenleiden und Depressionen ausgeweitet werden.

Doch das reicht nicht. Wichtig ist auch, dass der Zugang zur Versorgung erleichtert wird. Es gibt ein Gefälle zwischen Stadt und Land – der Ärztemangel in ländlichen Regionen ist Realität. Um das auszugleichen, bedarf es einer veränderten Bedarfsplanung. Und die Politik muss Anreize schaffen, damit sich mehr Ärzte auf dem Land niederlassen.

Aber auch in Großstädten sind die Wege bis zum Hausarzt, dem zentralen Ansprechpartner chronisch Kranker, mitunter zu weit. Die meisten Angebote finden sich in Stadtteilen eher gut situierter Bürger, betroffen sind aber häufiger Menschen, deren Lebensweg nicht von höherer Bildung und einem gesunden Lebensstil geprägt ist. Um diesen Patienten den Zugang zum Versorgungssystem zu erleichtern, müssen wir Ärzte gezielt in schlecht versorgte Stadtteile lenken. Ein guter Ansatz dafür wären lokale Gesundheitszentren. Wir haben auch positive Erfahrungen mit bestehenden Praxisnetzen gemacht.

Außerdem muss eine Vorsorge, die den Namen verdient, lebensnah gestaltet sein. Das gehen wir nun mit dem Präventionsgesetz an, auf das sich die Regierungsparteien 2014 geeinigt haben. Es verpflichtet die Krankenkassen zu deutlich höheren Investitionen in Vorsorgeangebote. Man könnte einwenden, dass dieses Geld bei der Versorgung fehlt, doch auf lange Sicht spart Prävention Geld, weil sie teure Behandlungen überflüssig machen kann.

Nur nichts dem Zufall überlassen

Das Geld soll ausgegeben werden, wo es wirklich langfristig um Gesundheit geht – in Kindertagesstätten, Schulen, Wohnquartieren und Betrieben. Dafür wird es feste Quoten geben. Und auch was mit dem Geld geschieht, soll nicht dem Zufall überlassen bleiben: Politik, Verbände und Kassen werden eine bundesweite Strategie festlegen, die von lokalen Akteuren nach Bedarf angepasst werden kann. Außerdem werden die Präventionsprogramme der Kassen zertifiziert und regelmäßig evaluiert werden.

Ich finde übrigens nicht, dass die Politik durch Vorgaben das Wettbewerbsprinzip der Kassen unterminiert. In der Daseinsvorsorge müssen Mindeststandards gelten. Sind die erfüllt, bleibt noch genügend Raum für Wettbewerb.

Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender DAK-Gesundheit
Versorgungsmanagement heißt nicht Druck, sondern Partnerschaft.

Der Krankenversicherer

Wenn wir von der optimalen Versorgung chronisch Kranker sprechen, heißt das für uns: die Behandlung in einem Netzwerk zielgerichtet abgestimmter therapeutischer Schritte. Das ist aber schwer zu organisieren. Zum Beispiel weil sich die Medizin immer weiter in Spezialdisziplinen diversifiziert, was gerade bei chronisch Kranken häufige Arztwechsel und Parallelkontakte nach sich zieht. Auch die Heilmittelversorgung ist komplex. Das kann zu Schnittstellenverlusten mit ernst zu nehmenden Folgen führen: Die Behandlung ist nicht optimal, sie dauert länger als nötig, etwa wegen Wartezeiten bei Terminen, und manches wird doppelt gemacht. Das erhöht die Kosten der Versorgung, was für Kassen wie Gesellschaft schlecht ist. Und es verhindert oft, dass die Menschen mit schweren Erkrankungen schnell wieder normal leben und in ihren Beruf zurückkehren können.

Wir verstehen uns nicht nur als Geldgeber

Also lautet die entscheidende Frage: Wie koordiniert man die Akteure und die Abläufe der Behandlung? Wer begleitet den Patienten über den gesamten Zeitraum? Eine Krankenkasse kann dabei wertvolle Unterstützung leisten. Denn wer hat die umfassendsten Informationen? Nicht der Hausarzt oder die Fachärzte, sondern die Kasse. Sie kennt alle Verordnungen, Behandlungen, Rehabilitationsmaßnahmen – schließlich wird all das über uns abgerechnet. Deshalb verstehen wir uns nicht nur als Geldgeber, sondern leisten auch einen Beitrag zur Organisation des Versorgungsprozesses.

Die DAK-Gesundheit tut das seit drei Jahren verstärkt – bundesweit mit Gesundheitsberatern in Regionalzentren, in denen wir mit Ärzten und anderen Akteuren zum Beispiel Termine ausmachen und Therapiekonzepte abstimmen. Wir rufen auch mal einen Logopäden an. Das ist die Seite des Versorgungsmanagements, aber daneben kümmern wir uns auch um die Wirtschaftlichkeit, beispielsweise bei der Versorgung mit Hilfsmitteln wie etwa Rollstühlen oder Gehhilfen. Die können wir über unsere Vertragspartner zu guten Preisen besorgen.

Aber natürlich mischen wir uns nicht in Therapieentscheidungen oder die Verordnung von Medikamenten ein – das ist Sache des Arztes. Unsere Stärke ist die Organisation, wohlwis-send, dass eine solche Kooperation ein zartes Pflänzchen ist, das wir nicht gefährden wollen.

Versorgungsmanagement heißt für uns nicht, Druck auszuüben, sondern Partnerschaft. Und auch wenn das einzelne Ärzte kritisch sehen: Der Arzt ist nicht unser Gegner, es geht uns einfach um Evidenz. Und die Ärzte haben den Vorteil, dass sie sich weniger um Regressforderungen sorgen müssen. Denn wenn man koordiniert arbeitet, vermindert sich die Gefahr der Budgetüberschreitung. Was nicht heißt, dass wir sparen wollen – wir wollen vor allem die Betreuung verbessern. Und der teu-erste Patient ist immer der unbetreute Patient.

Länger leben – aber nicht mehr dafür zahlen

Chronische Krankheiten werden zunehmen, und damit werden auch die Kosten steigen. Jeder will länger leben – aber keiner will deshalb für seine Krankenversicherung mehr bezahlen. Also muss man mit den vorhandenen Mitteln intelligent umgehen. Die Bekämpfung chronischer Volkskrankheiten durch Prävention halte ich allerdings für einen schönen Traum. Natürlich kann man einzelne Krankheiten wie etwa Herzinfarkte erfolgreich verhindern, wenn man es zum Beispiel schafft, dass die Leute weniger rauchen. Aber es gibt die Biologie, verschiedene Umwelteinflüsse – und wir wissen sehr wenig darüber, was wirklich gesund oder krank macht.

Daran kann kein Präventionsprogramm etwas ändern, das muss man realistisch sehen. Das neue Gesetz begrüßen wir trotzdem, selbst wenn sich dadurch die Präventionsausgaben der Kassen verdoppeln. Auch dass sie quotiert und unsere Angebote evidenzbasiert zertifiziert werden sollen, geht für uns in Ordnung.

Aber es ist bei der Prävention wie bei der Behandlung: Ich finde, bei der Suche nach dem besten Konzept sollte das Wettbewerbsprinzip gelten. Wenn die Kassen miteinander konkurrieren – zum Beispiel auch bei Konzepten für eine koordinierte Versorgung – können Systeme entstehen, die später kollektiven Lösungen wie neuen Disease-Management-Programmen als Benchmark dienen. Davon muss sich dann jede Kasse erneut positiv absetzen. So entsteht eine Dynamik, die allen Beteiligten dienlich ist.

Stefan Buchner, Geschäftsführer der UBGM-Unternehmensberatung für betriebliches Gesundheitsmanagement
Wir arbeiten sozusagen auf dem Dach eines rasenden Schnellzugs.

Wir arbeiten im Auftrag von Unternehmen an allen Fragen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Wir beraten zum Beispiel bei der gesetzlich vorgeschriebenen Eingliederung von Langzeiterkrankten, kümmern uns aber auch darum, wenn ein Betrieb seinen Mitarbeitern ein Angebot zur gesundheitlichen Vorsorge machen möchte. Meist werden wir gerufen, wenn sich der Krankenstand erhöht und die Fehlzeiten steigen. Chronische Beschwerden spielen dabei oft eine Rolle. Es geht dann darum, im Interesse aller Beteiligten Lösungen für konkrete Probleme zu finden, ob es nun um die Versetzung chronisch kranker Mitarbeiter an neue Arbeitsplätze geht oder um die Veränderung von Betriebsabläufen mit auffälligen gesundheitlichen Risiken.

Dafür braucht es Fingerspitzengefühl, denn die Firmen stehen unter Kosten- und Zeitdruck, was zu beschleunigten und verdichteten Arbeitsprozessen führt, die sich kaum ändern lassen. Wir arbeiten sozusagen auf dem Dach eines rasenden Schnellzugs. Deshalb müssen wir strukturiert und begründet vorgehen: Wir müssen die Probleme analysieren, passgenaue Maßnahmen ableiten und alles evaluieren. Dafür bräuchten die Unternehmen eigentlich eigene Gesundheitsmanager mit entsprechendem Budget, doch das ist leider nur selten der Fall.

Gemeinsam kann man Lösungen finden

Wir setzen an zwei Punkten an: beim Unternehmen, das für die Arbeitsbedingungen zuständig ist, und beim einzelnen Mitarbeiter und seiner Gesundheit. Auf individueller Ebene ist Gesundheitsförderung gar nicht so kompliziert: organisierter Betriebssport, regelmäßige Workshops oder Coaching zum Umgang mit Stress können nachhaltig wirken. Und all das ist nicht einmal besonders teuer. Vor allem wenn man sich weder auf die Gesundheitsgurus noch die Gesundheitsmuffel konzentriert, sondern auf die vielen Mitarbeiter dazwischen.

Die Veränderung der Arbeitsbedingungen ist eine größere Baustelle. Da greift man in Kernprozesse eines Unternehmens ein, und dessen Zweck ist nicht in erster Linie die Förderung der allgemeinen Fitness und Gesundheit, sondern die Erzielung von Gewinn. Darauf konzentrieren sich die Führungskräfte, und so ist die Arbeit organisiert. Druck abzubauen oder im Eingliederungsmanagement alternative Arbeitsplätze zu finden ist deshalb schwer. Aber es ist möglich, wenn ein Unternehmen nicht in einer Zwangslage steckt und die Geschäftsführung gesunde Arbeitsbedingungen wirklich will. Gemeinsam kann man individuelle Lösungen finden, also zum Beispiel einen Arbeitsplatz umbauen, ein neues Stellenprofil entwickeln oder Prozesse verändern. Auch Jobrotation kann Belastungen mindern, wenn etwa jemand nicht mehr schwer heben kann.

Und natürlich ist auch die Unterstützung der Führungskräfte wichtig. Sie müssen lernen, wie essenziell Wertschätzung ist, dass Mitarbeiter Verschnaufpausen brauchen oder Hilfe bei der Priorisierung von Projekten. Auch dass jemand offen Nein sagt, ist vielerorts noch nicht üblich. Es ist aber wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und sie nicht dauerhaft zu überschreiten.

Ein gutes Gesundheitsmanagement erschöpft sich eben nicht in Ergonomie am Arbeitsplatz. Es sind oft die Führungskräfte, die ihren Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter unterschätzen – er kann gesundheitsförderlich, aber auch gesundheitsgefährdend sein. Weiche Faktoren im gemeinsamen Umgang sind sehr wichtig, weil sich nur so ein gesunder Geist im Unternehmen etablieren kann. Was sich zum Beispiel in einer Einladung zu einem Eingliederungsgespräch niederschlagen kann, die so formuliert ist, dass sie ein chronisch kranker Mitarbeiter als Unterstützung betrachtet und gern annimmt.

Bernhard Biehler, Personalleiter, Freudenberg Performance Materials
Die Versorgung von chronisch Kranken ist eine Frage der Haltung.

Der Personalchef

Freudenberg Performance Materials ist Teil der Freudenberg Gruppe, die weltweit rund 40 000 Mitarbeiter beschäftigt. Unser Werk in Kaiserslautern mit seinen 270 Beschäftigten ähnelt aber eher einem klassischen Mittelständler. Wir produzieren Vliesstoffe für die Automobil- und Bauindustrie, für Teppichhersteller und den Gartenbau. Wir fahren sieben Tage die Woche Wechselschicht. In der Produktion gibt es Hitze und Lärm, auch körperlich ist die Arbeit anstrengend, etwa beim Reinigen oder Umrüsten der Maschinen. In der Administration erledigen wir alle Tätigkeiten eines vollwertigen Unternehmens – mit dem üblichen Termindruck.

In Bezug auf chronische Krankheiten ist es bei uns wie überall: Wir haben Skelett- und Muskelerkrankungen, Kreislaufprobleme, psychische Belastungen. Und natürlich altert unsere Belegschaft – im Jahr 2017 werden zwei Fünftel älter als 55 Jahre sein. Auf diese Altersgruppe entfallen schon heute rund 80 Prozent der Langzeiterkrankten.

Chronische Erkrankungen sind für uns eine sehr ernste Herausforderung. Einmal wegen der Fehlzeiten, die auch zu einer Überlastung der übrigen Mitarbeiter führen. Zum anderen sind wir auf das Wissen unserer erfahrenen Leute angewiesen. Deshalb ist es für uns essenziell, den Umgang mit chronischen Krankheiten in den Griff zu bekommen – und zwar frühzeitig. Seit vier Jahren beschäftigen wir uns systematisch damit.

Prävention ist gar nicht so schwierig

Wir müssen eine Balance zwischen den betrieblichen Anforde-rungen und den Bedürfnissen der Betroffenen schaffen. Zuerst einmal wollen wir natürlich verhindern, dass Mitarbeiter überhaupt chronisch erkranken. Wir können aber nicht die ganze Produktion umstellen und die Gesetze des Marktes ändern. Also sorgen wir für möglichst gesunde Arbeitsplätze – der einzelne Mitarbeiter muss jedoch auch selbst etwas für seine Gesundheit tun. Wir unterstützen ihn dabei, das ist für uns selbstverständlich. Wichtig ist, dass es gemeinsam erfolgt. Um individuelle Lösungen zu finden, ist ein Gespräch mit den betroffenen Mitarbeitern im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements von größter Bedeutung. Diese Maßnahme wird von allen Beteiligten – Mitarbeiter, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung – sehr positiv aufgenommen.

Prävention ist gar nicht so schwierig. Man muss erst einmal erkennen, wer überhaupt in Gefahr ist. Dafür haben wir uns die Arbeitsplätze angeschaut und alle Mitarbeiter befragt. Die Gefährdeten haben wir zu einem zweitägigen Workshop eingeladen. Da ging es um Ernährung, Ergonomie, Selbstreflexion, außerdem haben sie individuelle Handlungspläne entwickelt. Und weil es bei uns besonders um körperliche Gesundheit geht, haben wir mit einem Sportstudio Sonderkonditionen ausgehandelt.

Doch Gesundheitsförderung im Betrieb ist mehr – es muss auch um die Arbeit an sich gehen. Dabei ist einiges möglich, selbst für einen Mittelständler mit begrenzten Ressourcen. Chronischen Knieerkrankungen zum Beispiel lässt sich vorbeu-gen, indem man die Mitarbeiter mit Knieschützern ausstattet – das haben wir gemacht. Oder Muskelerkrankungen bei dauerhaftem Luftzug – in unserer Produktion wurde eine Jalousie vors Rolltor montiert, und die Gefahr ist beseitigt.

Bereits erkrankte oder akut gefährdete Menschen im Arbeitsprozess zu halten ist eine andere Sache. Man kann leicht fordern, dass für leistungsgeminderte Mitarbeiter besondere Arbeitsplätze geschaffen oder zusätzliche Kräfte eingestellt wer- den sollten, um die Arbeitsbelastung zu senken. Das geht aber nicht ohne finanziellen Mehraufwand. Die entstehenden Kosten tragen wir – doch bei nur 270 oft spezialisierten Beschäftigten hat man wenig Verschiebespielraum.

Wir haben Mitarbeiter aus der Nachtschicht genommen oder von einer schwer zu fahrenden Anlage auf eine leichter bedienbare versetzt. In der Verwaltung haben wir die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt und jemanden zusätzlich eingestellt, um einen überlasteten Mitarbeiter zu schützen. Aber ich kann neue Mitarbeiter nur einstellen, wenn sie voll ausgelastet sind – die zehnprozentige Leistungsminderung eines chronisch Kranken lässt sich damit nicht auffangen. Und wenn ich jemanden aus der Nachtschicht nehmen will, muss ein anderer Mitarbeiter für ihn einspringen – diesen Freiwilligen suchen wir dann.

Die Versorgung von chronisch Kranken in Unternehmen ist eine Frage der Haltung. Hier baut Freudenberg auf seine Werte und Grundsätze zum verantwortungsvollen Miteinander. Denn was die Leute krank macht, sind Verhaltensweisen, die gar nicht nötig sind.

Muss immer alles sofort erledigt werden? Muss man Mitarbeiter im Urlaub anrufen? Nein, natürlich nicht! Was übri-gens auch im Sinne des Unternehmens ist, denn Perfektion für den Kunden schafft nicht der einzelne Mitarbeiter, sondern die Organisation, die Fehler notfalls auffängt. Das kann sie aber nur, wenn sie gesund ist. Und dafür müssen die einzelnen Mitarbeiter gesund sein. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.