Primatenforscher Gottfried Hohmann im Interview

Der Primatenforscher Gottfried Hohmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig beobachtet seit rund 30 Jahren wilde Bonobos in der Demokratischen Republik Kongo.





Schon 1880 war es möglich, im Leipziger Zoo einen Schimpansen zu beobachten. Die Menschen waren von ihrem haarigen Vorfahren fasziniert – und das hat sich bis heute nicht geändert. Doch während sich früher die Besucher in einem engen, lauten Affenhaus drängten, können sie heute durch eine 30 000 Quadratmeter große Anlage mit fünf Freigehegen und einer Tropenhalle schlendern: Pongoland gilt als größte und modernste Menschenaffenanlage der Welt. Die Tropenhalle beherbergt alle vier großen Menschenaffenarten unter einem Dach: Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos, durch Wände, Gräben und üppige Vegetation strikt voneinander getrennt.

Die Zoobesucher lieben Pongoland. Bereits im Eröffnungsjahr 2001 überstieg die Besucherzahl erstmals seit der Wiedervereinigung die Million, vor einigen Jahren kamen sogar mehr als zwei Millionen. Und auch den Affen scheint das Leben in der Anlage zu gefallen: Seit ihrem Einzug kamen jedes Jahr durchschnittlich zwei Affenbabys zur Welt.

Doch Pongoland ist nicht nur eine Anlage des Zoos: Das Max-Planck-Institut (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, selbst erst 1997 gegründet, beteiligte sich am Konzept und an der Finanzierung. Bis heute teilen sich beide Einrichtungen die laufenden Kosten, 2500 Euro täglich. Für die Forscher bietet Pongoland eine einzigartige Gelegenheit: Sie können hier nicht nur die Tiere in ihren Gehegen oder in Lern- und Testräumen beobachten, sondern sie auch direkt miteinander vergleichen: Nehmen Schimpansen ihre Umwelt anders wahr als Gorillas? Wissenschaftler aus aller Welt reisen dafür an.

Auch der Biologe Gottfried Hohmann vom MPI in Leipzig schaut gelegentlich im Pongoland vorbei. Lieber allerdings beobachtet er Schimpansen und Bonobos in der freien Wildbahn. Wochenlang ist er im tropischen Regenwald des Kongobeckens unterwegs, um das Verhalten der Affen zu studieren. Was sie von ihren Artgenossen im Leipziger Zoo unterscheidet und was wir mit Schimpansen und Bonobos gemein haben, erzählt er im Gespräch.

Herr Hohmann, wo würde Tarzan besser aufwachsen: südlich des Kongoflusses oder nördlich?

Sie meinen, ob unter Bonobos oder unter Schimpansen? Das kommt auf seine Ambitionen an. Falls Tarzan später vorhat, die Welt zu bewegen, wäre er am nördlichen Ufer bei den Schimpansen besser aufgehoben. Falls er aber ein eher konservativer Mensch werden möchte, wäre das südliche Ufer der Bonobos das geeignete Terrain für ihn.

Ach, dann sind die Bonobos eher rückständig?

Sie sind erstaunlich langweilig. Das liegt daran, dass sie Platz haben und dass ihnen der Teil des Kongobeckens, der südlich des Flusses liegt, alles bietet. Um dort zu überleben, muss man sich nicht viel einfallen lassen. Und das merkt man den Tieren an: Die gehen es ruhig an und führen ein lässiges Leben. Zugleich ist das Becken ein sehr monotones Habitat. Und die Bonobos wissen, dass sie wenig verpassen, wenn sie nicht umherstreifen – hundert Bäume weiter sieht es schließlich ganz ähnlich aus. Also bleiben sie einfach vor Ort.

Und Schimpansen?

Schimpansen sind ehrgeizig. Die können sich immer verbessern, das landschaftliche Spektrum ist viel größer. Die Tiere im Ngogo-Wald zum Beispiel leben im Schimpansen-Paradies: Die Bäume sind so dick wie bei den „Wilden Kerlen“, die Affen ertrinken geradezu in reifen Früchten, der Wald riecht zeitweise fast gegoren. Einige Kilometer weiter dagegen sitzt eine zweite Schimpansengruppe, die den Gürtel meist enger schnallen muss – also drängt sie in den Ngogo-Wald. Kurzum: Für Schimpansen lohnt es sich, ambitioniert zu sein, denn sie können noch große Ziele erreichen. Bei den Bonobos dagegen ist es egal, ob sie nach Norden, Süden, Westen oder Osten ziehen: Der Wald sieht immer ziemlich gleich aus.

Die Fachzeitschrift Nature hat durchgezählt und auch Ihre Publikationen dafür herangezogen: Forscherinnen und Forscher haben 152 Fälle dokumentiert, in denen Schimpansen durch andere Schimpansen getötet wurden. Aber es gab nur einen einzigen Bonobo, der durch seine Artgenossen getötet wurde ...

... und selbst dieser eine Fall war nicht beobachtet, wir haben die Tötung nur rekonstruiert – ein Indizienfall sozusagen. Das genau macht den Unterschied: Die Bonobos haben nie die Region gewechselt, weil sie kaum etwas dadurch gewinnen können, und lösen soziale Spannungen durch Sex und Körperkontakt. Sie fürchten sich nicht vor Fremden, sie sind nicht territorial und investieren nicht in die Verteidigung des Heimatwaldes – ergo gibt es auch nicht Mord und Totschlag.
Dagegen sind Schimpansen mobiler und aggressiver. Auf der Suche nach einem besseren Ort ist ihre Risikobereitschaft viel höher: Sie können Fehler machen – aber sie können auch das große Los ziehen.

Wären die Bonobos schon von den Schimpansen ausgerottet worden, läge nicht der breite Kongofluss zwischen ihnen?

Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die beiden Arten koexistieren. Dann würden sie aber unterschiedliche Gebiete bewohnen. Und die Bonobos würden nicht im Paradies leben, sondern eher am Stadtrand.

Wie ist es zur Aufspaltung in Pan troglodytes und Pan paniscus gekommen – in Schimpanse und Bonobo?

Wir gehen heute davon aus, dass ein Vorfahr beider Arten, ein Proto-Pan also, vor fünf Millionen Jahren entstanden ist und bald ganz Zentralafrika bewohnt hat. Vor etwa zwei Millionen Jahren hat sich dann der Kongofluss gebildet. Die Tiere am südlichen Ufer entwickelten sich zu den heutigen Bonobos, die am nördlichen Ufer zu Schimpansen – Erstere weitgehend sesshaft, Letztere mit ganz erheblichen Wanderbewegungen. Seitdem gab es keine Vermischung dieser Arten mehr, sagen die Genetiker. Das ist zumindest der heutige Stand.

Bonobos wurden schon als „Kamasutra-Affen“ bezeichnet und als Hippies, die den Anti-Vietnamkrieg-Slogan „Make love, not war“ von Natur aus lebten, weil sie Konflikte nicht mit Gewalt lösen, sondern mit Sex.

Das sind schöne und plakative Labels. Aber sie sind falsch.

Warum?

Sexy sind Bonobos nur im Zoo. Einige meiner Kollegen schreiben von „Zungenküssen“, „Oralverkehr“ und so weiter – aber so etwas bekommen Sie im Freiland nicht zu sehen.
Im Zoo leben alle Tiere eng beieinander, keines kann weglaufen. Deshalb entstehen dort viel häufiger Konflikte, die die Bonobos dann in der Tat mit Sex beilegen – aber im Zoo passiert das eben viel häufiger als im Kongo.

Ist das der einzige Unterschied?

Nein. Im Zoo leben viele nicht verwandte Tiere zusammen, im Freiland dagegen sind alle männlichen Tiere einer Gruppe mehr oder weniger eng miteinander verwandt. Nur die Weibchen wandern regelmäßig ab und suchen sich eine neue Gruppe. Das wird ihnen genetisch eingeflüstert, denn sonst würden sie sich mit ihren Vätern, Brüdern oder Halbbrüdern paaren. Durch diesen Gruppenwechsel ergeben sich ganz andere Möglichkeiten für Kooperationen, Freundschaften und Feindschaften als im Zoo. Ein dritter Unterschied: Im Zoo gibt es Besucher – und auf die reagieren die Tiere.

Wenn man in Leipzig vor der Glasscheibe sitzt und Joey, Yasa oder Kuno anschaut, fragt man sich manchmal, wer hier wen beobachtet.

Genau. Die Bonobos interessieren sich für das, was der Besucher isst, was er trinkt, was er für Kleidung trägt. Das geschieht im Freiland nicht mehr.

Das heißt, im Kongo sind Sie für die Tiere Luft?

Ja, mehr oder weniger. Wir mussten sie anfangs allerdings dazu bringen – indem wir immer da waren. Inzwischen ist es ihnen völlig egal, ob wir zum Frühstück eine Banane essen oder Tee trinken. Sie tolerieren unsere Nähe. Darüber sind wir sehr glücklich, weil wir nicht genau das beobachten wollen, was Bonobos auch im Zoo täten.

Wächst das Interesse der Affen, wenn Sie in ihre Intimsphäre eindringen?

Wir bemühen uns sehr darum, den Tieren nicht auf die Pelle zu rücken. Zum einen, weil wir nicht wollen, dass uns irgendwann ein Bonobo auf der Schulter sitzt wie Herr Nilsson bei Pippi Langstrumpf. Und zum anderen, weil die Tiere extrem anfällig sind für Krankheiten, die für Menschen harmlos wären: Schon ein Husten oder ein Schnupfen kann für einen Bonobo tödlich sein. Deshalb tragen wir auch alle Mundschutz, wenn wir von der Forschungsstation in den Wald gehen. Das sieht komisch aus, aber auch daran haben sich die Affen gewöhnt.

Hat jeder Bonobo so etwas wie eine Persönlichkeit?

Bei den erwachsenen Tieren ist das so. Da gibt es bestimmte Charaktere, die sich kaum verändern. Jugendliche Tiere dagegen entwickeln sich sehr. Olymp zum Beispiel ist ein junger Mann – und bei jeder meiner Reisen ein anderer. Bei meinem nächsten Besuch wird er wieder deutlich größer sein als vor vier Monaten und viele Dinge gelernt haben. Zum Beispiel wie er hartschalige Früchte öffnet. Oder Flusskrebse fängt. Oder ein Nest baut.

Sie geben den Bonobos Namen?

Ja. Wir haben Olymp, dann einen Camillo, eine Parvati, eine Lea, eine Iris, eine Merit und so weiter. Wir nennen sie schon deshalb so, weil wir notieren oder ins Diktiergerät sprechen, was die Tiere tun – dafür müssen wir sie präzise unterscheiden. Das birgt zwar die Gefahr, dass wir mit den Namen Eigenschaften assoziieren – aber ohne Namen wäre unsere Arbeit nicht möglich. Außerdem ist es nett: Unsere Abende im Camp leben von den Anekdoten, was Lea heute getan hat, was Luna passiert ist, dass Ben von einer Wespe gestochen worden ist und so weiter.

Haben Sie Lieblinge?

Das nicht, aber sagen wir: Es gibt Sympathien. Die Tiere, die man am längsten kennt, sind einem irgendwie näher als welche, die neu in die Gruppe gekommen sind. Camillo zum Beispiel, der Alpha-Mann, ist ein sehr charismatisches Tier.

Wie autoritär führt Camillo seine Gruppe?

Letztlich bestimmen die Weibchen die Richtung. Wenn sie sich zusammentun – und das kommt häufig vor – dann hat Camillo wenig zu melden. Was ihn zum Boss macht, ist unter anderem seine Herkunft: Er ist der Sohn des ranghöchsten Weibchens in der Gruppe. Bei den Bonobos beobachten wir eine ganz wichtige, enge und lebenslange Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Das gibt es unter Primaten sonst nur bei uns Menschen. Diese Beziehung führt auch dazu, dass bis zu vier Generationen in einer Gruppe leben können, zusammengehalten von einer Patriarchin. Bonobo-Frauen können richtig alt werden.

Wie alt?

So genau wissen wir das natürlich nur bei Tieren im Zoo. In Frankfurt sitzt die derzeit älteste Bonobo-Dame: Sie ist 62 Jahre alt. Die Männer sterben deutlich früher: Wenn sie 35 werden, nähern sie sich schon der roten Linie.

Sind es also die alten Damen, die das Erfahrungswissen einer Gruppe speichern und weitergeben?

Ich würde alles darum geben, das nachweisen zu können. Aber wir können nicht wirklich festmachen, was das Wissen eines Individuums ist und was das Wissen einer Gruppe. Das ist nicht so wie bei Elefanten, die in ein trockenes Gebiet geraten, wo nur noch die älteste Elefantendame weiß, wo die Herde vor 50 Jahren Wasser gefunden hat. Solche Beobachtungen machen wir bei Bonobos nicht. Dennoch bin ich sicher, dass es auch bei ihnen etwas Ähnliches gibt.

Sie messen auch den Hormonhaushalt der Tiere. Wie stellen Sie das an?

Das ist gar nicht so schwer. Bonobos verbringen zwar die eine Hälfte des Tages auf dem Erdboden, die andere aber in den Bäumen. Dort pinkeln sie relativ viel, und das fangen wir mit einer Frisbeescheibe oder einem Fächer aus Blättern auf. Dann verfrachten wir den Urin mit Pipetten in Probenröhrchen, die wir im Camp in flüssigem Stickstoff konservieren. So halten sie sich gut, bis sie nach mehreren Monaten in Leipzig ankommen. Hier messen wir dann Steroide, Peptide und so weiter.

Was bringen Ihre Messungen?

Ein Beispiel: Das Geschlechtsteil von Bonobofrauen kann rosa anschwellen. Das kennen Sie sicher von Pavianen oder Makaken. Wir gingen lange davon aus, dass diese „Lampe“ knallrot leuchtet, wenn die Bonobofrau maximal fruchtbar ist. Unsere Urintests haben aber gezeigt, dass die Tiere lediglich 30 bis 50 Prozent dieser Zeit fruchtbar sind. Schwellung und Eisprung sind im Laufe der Zeit auseinandergedriftet. Das ist sensationell!

Warum?

Weil die Evolution hier einen ganz anderen Weg gewählt hat als etwa bei den Schimpansen. Dort läuft die Fortpflanzung häufig über Gewalt während der fruchtbaren Tage des Weibchens. Für Bonobomänner dagegen gilt: Wer Vater werden will, muss freundlich sein. Und er wird vermutlich mehrere Anläufe brauchen, denn bei einem einzigen Geschlechtsakt kann er nie sicher sein, wirklich ein Kind gezeugt zu haben.

Sex ist bei den Bonobos also zumindest teilweise von der Vermehrung und Arterhaltung entkoppelt. Sie tun es auch für den Frieden in der Gruppe und womöglich aus purer Freude. Kennen Sie eine weitere Tierart, wo das der Fall ist – abgesehen vom Homo sapiens?

Nein, so nicht. Zwar ist sozialer Sex von vielen Tierarten bekannt. Neu ist aber, dass Sex vom hormonell gesteuerten Fortpflanzungszyklus entkoppelt ist. Und zugleich von ebenfalls hormongesteuerten visuellen Signalen, die den weiblichen Sex-Appeal beeinflussen.

Sie reisen seit 30 Jahren in den Kongo, um Affen zu beobachten. Mehrmals im Jahr fliegen Sie erst acht Stunden nach Kinshasa, dann zwei Stunden mit einer Propellermaschine, dann gehen Sie noch einmal sechs Stunden zu Fuß und fahren schließlich mit einem Einbaum in Ihr Forschungscamp. Wozu dient das alles letztlich?

Wir wollen etwas über die Natur des Menschen erfahren. Und tatsächlich bekommen wir langsam zumindest eine Idee, wie verschlungen die Entwicklungen wohl gewesen sein mögen, die wir als Spezies hinter uns haben. Wir sehen aber noch mehr. Beispielsweise, dass es im Tierreich so etwas wie Gleichberechtigung geben kann. Die Bonobos haben etwas erreicht, was wir modernen westlichen Menschen gerade erst auf die Reihe bringen. Die schönste Erkenntnis aber, die wir gewonnen haben, ist diese: Die Evolution geht nicht immer den Weg von Gewalt, Blut und Tod. Das angeblich eherne Gesetz von der physischen Dominanz wird gelegentlich ausgehebelt – und diplomatische Strategien sind roher Gewalt überlegen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.