Yassin Nasri im Interview

Yassin Nasri ist vor fast 30 Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Nun möchte er in Sachsen aus Flüchtlingen Unternehmer machen. Ein Gespräch über Gründerlust, Behördenangst und die Erkenntnis, dass gegenseitige Kontrolle nervig und hilfreich sein kann.





Herr Nasri, Sie sind Architekt, Unternehmer und Schriftsteller. Als was empfinden Sie sich zuallererst?

Wenn ich wählen müsste: Unternehmer. Aber vor allem sehe ich mich als Visionär. Ich bin rastlos und habe immer neue Ideen, die ich umsetzen, immer neue Dinge, die ich anpacken möchte.

Sie planen eine Flüchtlingsinitiative in Sachsen. Welche Idee steht dahinter?

Untersuchungen belegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund stärker als gebürtige Deutsche dazu neigen, ein Unternehmen zu gründen. Das hat damit zu tun, dass in den Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen, die Arbeitnehmerrechte in der Regel nicht so stark sind wie hier. Außerdem haben Flüchtlinge auf dem deutschen Arbeitsmarkt größere Chancen, wenn sie sich selbstständig machen. Leider werden sie in Deutschland in ein System gepresst, das diesen Gedanken gar nicht vorsieht. Dabei sind die Leute, die jetzt aus Syrien kommen, nicht nur arme, schlecht ausgebildete Wirtschaftsflüchtlinge – da flieht der gesamte Mittelstand, darunter viele Unternehmer. Das ist eine riesige Chance.

Das klingt nach Win-win-Situation – woran scheitert sie?

Die Möglichkeiten der Unterstützung für Existenzgründer werden den Flüchtlingen gar nicht gezeigt. Und die Flüchtlinge selbst kommen natürlich nicht darauf. Es müsste jemand mit ihnen zum Arbeitsamt gehen, zur Bank, zur IHK, zu Geldgebern, zum Finanzamt. Wenn man eine gute Idee hat, wird einem in Deutschland ohne Ende geholfen. Das habe ich selbst erfahren. Aber das muss einem jemand sagen. Ich möchte den Flüchtlingen die Angst vor dieser Komplexität nehmen, die das deutsche Arbeits- und Steuerrecht eben hat.

Wie soll das konkret funktionieren? Die Leute, die die Flüchtlinge begleiten, müssen sich selbst auskennen und Zeit haben – woher bekommen Sie die? Und wie finden die potenziellen Flüchtlings-Unternehmer zu Ihnen?

Ich will kein Helicopter Parenting anbieten. Mein Ziel ist es, punktuell dort zu helfen, wo existierende Beratungsstrukturen nicht greifen. Eben weil sie nicht auf Fremde ausgelegt sind. Und am Anfang, wenn wir mit einem Pilotprojekt in Leipzig starten würden, wäre ein Mentor genug.

Also nur Sie allein?

Genau. Ich würde dafür nach Deutschland kommen. Und wenn das läuft, bauen wir es aus. Dafür würden wir bikulturelle Experten hinzuholen und auch entsprechend bezahlen. Die lassen sich aus meiner Sicht mühelos finden. Wir arbeiten mit der Landesregierung in Sachsen zusammen und hoffentlich mit weiteren öffentlichen Partnern, die dabei eine große Hilfe sein werden. Und was die Flüchtlinge angeht: Die befinden sich am Anfang sowieso in der Obhut des Staates. Und lassen sich so gut erreichen.

Richtet sich Ihre Initiative vor allem an syrische Flüchtlinge?

Die werden natürlich eine große Rolle spielen, aber letztlich sollen alle unterstützt werden, die neu ins Land kommen und Hilfe brauchen, um sich hier zurechtzufinden.

Wie war das bei Ihnen, als Sie nach Deutschland gekommen sind? Syrien war ein Polizeistaat – da ist es vermutlich nicht so einfach, sich auf neue Behörden einzustellen.

Ich habe zwölf Jahre gebraucht, um ein sicheres Auftreten gegenüber deutschen Behörden zu entwickeln. Am Anfang habe ich mich kaum in ein deutsches Amt getraut. Und wenn ich mit dem Auto an der Ampel stand und neben mir ein Polizeiauto hielt, habe ich manchmal angefangen zu zittern. Durch den Krieg ist das Misstrauen noch größer geworden. Die Syrer, die heute ankommen, sind noch viel stärker traumatisiert.

Wie kann man Misstrauen und Verunsicherung abbauen?

Die Menschen brauchen positive Beispiele. Personen aus ihrer Gegend, die übersetzen können, die Brücken schlagen und sagen: Leute, der Staat ist eigentlich total in Ordnung, der ist für euch da. Die besten Vorbilder und Mutmacher sind arabische Unternehmer, die selbst erfolgreich sind. Ich habe oft erlebt, dass den Flüchtlingen Selbstvertrauen fehlt. Die gehen jahrelang geduckt, als würde ihnen etwas Schweres auf den Schultern liegen. Laut einer Statistik der Agentur für Arbeit sind 50 Prozent der Flüchtlinge fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland noch immer arbeitslos. Das ist viel zu lange. Die müssen viel schneller lernen, wieder aufrecht zu gehen!

„Für Menschen, die eine Firma gründen wollen, sind Städte wie Leipzig oder Dresden ideal.“ – Yassin Nasri

Ihr Projekt ist nur für Sachsen geplant. Es gäbe Bundesländer, in denen Fremde freundlicher aufgenommen werden.

Für Menschen, die eine Firma gründen wollen, sind Städte wie Leipzig oder Dresden ideal. Der Wohnraum ist günstig, die Büros sind günstig. Es gibt gut ausgebildete, bezahlbare Arbeitskräfte, das Schul- und Universitätssystem ist gut, die Infrastruktur perfekt.

Die Landesregierung hat Ihnen bereits Unterstützung zugesagt. Was fehlt jetzt noch, damit es losgehen kann?

Ich bin im Moment auf der Suche nach einem Träger. Genauso wichtig wie eine gesicherte Finanzierung ist eine Organisation, mit der ich das Projekt umsetzen kann.

Als Sie 1987 nach Deutschland gekommen sind, waren Sie 21 Jahre alt. Was war Ihr erster Eindruck?

Alles war grün. Ich dachte: Das ist das erste Land, in dem der Rasen anfängt, den Asphalt zu besiedeln. Der zweite Eindruck war enttäuschend: In den Filmen, die ich gesehen hatte, war der Westen voller Hochhäuser, aber hier kam mir alles überschaubar vor, geradezu dörflich.

Worin bestand für Sie in der ersten Zeit die größte Herausforderung?

Es war echt schwierig, Leute kennenzulernen. Ich erlebte eine Welt, in der jeder auf sich allein gestellt ist. Viele Ausländer kommen damit nicht zurecht. Sie empfinden die Gesellschaft als abweisend. Dabei hat jeder Münchner, der nach Hamburg zieht, das gleiche Problem. Es ist eine Wettbewerbsgesellschaft.

Haben Sie das als kalt empfunden?

Ja, schon. Aber die Begeisterung für Deutschland war größer.

Woher kam diese Begeisterung?

Ich weiß es nicht. Vielleicht war es eine Art Seelenverwandtschaft. Schon meine Schulfreunde in Damaskus fanden es total merkwürdig, dass ich mich so für Deutschland interessierte.

Wurden Sie von der Wirklichkeit enttäuscht?

Nein, eigentlich wurden meine Erwartungen übertroffen. Aber ich fand es schwierig, mich zu integrieren. Wir Araber sind stolze Menschen – und hier wird man die ganze Zeit zurechtgewiesen. Wenn man zum Beispiel im Supermarkt in der Schlange steht und die Einkäufe nicht schnell genug aufs Band legt, wird das sofort kommentiert. Und wenn man mal abends auf dem Fahrrad ohne Licht unterwegs ist, kann es sein, dass man deswegen beschimpft wird. In Beirut oder Kairo könnten Sie mit einem Lkw ohne Licht herumfahren, und niemand sagt etwas. Zurechtweisungen werden dort schnell als Angriff wahrgenommen.

Was hilft gegen das Gefühl der Fremdheit im neuen Land?

Ich möchte dieses Gefühl eigentlich niemandem nehmen. Im Gegenteil: Ich möchte Neuankömmlingen einen Schock versetzen, um ihnen klarzumachen, dass sie sich selbst bemühen müssen.

Wie kam es dazu, dass Sie von Braunschweig nach Dresden gegangen sind? Haben Sie den Schock gesucht?

Ich war schon immer total fasziniert von dieser Stadt. Und dann wurde mir in den Neunzigern dort ein Job angeboten. Sogar meine deutschen Freunde haben mich damals gefragt: „Bist du sicher? Willst du wirklich nach Sachsen?“ Einige haben mir sogar empfohlen, einen Helm zu tragen. Kennen Sie das Titanic-Cover von damals: „Helmpflicht für Ausländer“ unter einem Bild von einem Nazi mit Schlagstock? So war damals die Stimmung.

So ähnlich ist sie auch heute noch manchmal – nicht nur in Sachsen.

Ja, mag sein, aber ich bin nicht nur Kosmopolit, sondern auch ein Utopist. Ich will die Welt besser machen. Deshalb betrachte ich es auch als meine Pflicht, nicht abzuhauen, wenn es ungemütlich wird. Sachsen hat ein großes Potenzial, positiv ins Zentrum der Welt zu rücken. Ich will dabei sein, wenn es so weit ist.

Haben Sie selbst in Dresden Fremdenfeindlichkeit erlebt?

Ja, aber wirklich angepöbelt wurde ich nur ein einziges Mal. Meist kommen eher Sprüche wie etwa: „Sie sind hier in Deutschland, und da machen wir das so und so.“ Andererseits habe ich hier sehr viele weltoffene Freunde. Mehr als irgendwo sonst in Deutschland.

In den vergangenen zwölf Monaten wurden Flüchtlingsheime angezündet, in Dresden ist Pegida auf die Straße gegangen, und es gab die Silvesternacht in Köln. Zugleich wurden syrische Flüchtlinge in München am Bahnhof mit Applaus begrüßt. Überall in Deutschland helfen Tausende von Menschen ehrenamtlich. Und laut aktuellen Untersuchungen hat sich die positive Stimmung gegenüber Flüchtlingen kaum geändert, in vielen Gegenden ist sie sogar noch etwas besser geworden. Was erwarten Sie für die Zukunft?

Wenn ich mir Deutschland ansehe, mache ich mir keine Sorgen. Das Thema Integration ist in Deutschland ein kleineres Problem als woanders.

Wie meinen Sie das?

Deutschland ist ein perfektes Land, um Fremde zu integrieren. Man wird hier gut zurechtgerückt – man wird eingenordet. Die Menschen kontrollieren sich gegenseitig und passen aufeinander auf. Das hat Nachteile, es ist das Gegenteil von „leben und leben lassen“. Aber es hilft enorm, denen eine Richtung zu geben, die neu ankommen.

Die Deutschen erwarten, dass man sich voll integriert?

Es gibt einen Unterschied zwischen der Erwartungshaltung, die in Politik und Medien formuliert wird, und dem, was die Bevölkerung erwartet. Die Politik will vor allem, dass man das Grundgesetz achtet, Steuern zahlt und sich zur Demokratie bekennt. Aber die Gesellschaft erwartet viel mehr. Sie verzeiht es zum Beispiel nur selten, wenn man keinen Alkohol trinkt. Man wird einmal, zweimal zu einer Party eingeladen, und wenn man in einer Ecke steht und Saft trinkt, wird man beim dritten Mal nicht mehr gefragt. Wenn Sie gewisse Sachen nicht mitmachen, sind Sie draußen. An solchen Situationen muss den Leuten irgendwann klar werden, dass sie manchmal zu viel verlangen von den Neuen.

Welchen Rat gäben Sie einem 21-jährigen Syrer, der gerade in Deutschland ankommt?

Gib nach schlechten Erfahrungen nicht auf! Such den Kontakt zu Deutschen, mach Volkshochschulkurse, such dir eine WG mit deutschen Mitbewohnern, auch wenn dich erst mal niemand will! Du rufst da an, hast einen Akzent – und anfangs holst du dir nur Abfuhren. Ja und? Das ist ganz normal und geht den Deutschen nicht anders. Du musst dranbleiben. Wenn du es zehnmal versuchst, klappt es vielleicht nur dreimal. Aber das reicht doch.

Warum haben Sie damals Ihre Heimat Syrien verlassen?

Syrien ist ein Märchenland. Man sagt viele blumige Wörter und meint doch eigentlich etwas anderes. Freundlichkeit steht über Ehrlichkeit. Und ich bin nicht mit dem Leben in der Diktatur klargekommen. Man durfte vieles nicht sagen. Man kam schon wegen kleiner Fehler ins Gefängnis, und ich wusste, dass ich auch irgendwann dort landen würde. Ich wollte einfach meine Ruhe haben und mit Ehrlichkeit weiterkommen.

Sie haben einmal geschrieben: „Heimatlosigkeit ist das schöne Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein.“ Gilt das nach dem Syrien-Krieg noch?

Wie meinen Sie das?

Nun ja, jetzt ist es eine erzwungene Heimatlosigkeit. Sie könnten nicht zurück, selbst wenn Sie wollten.

Ich habe mich schon sehr lange von Syrien gelöst. Die Brutalität des Assad-Regimes war schon damals unvorstellbar. Ich wollte mit dem Land nichts mehr zu tun haben.

Befinden sich noch Angehörige von Ihnen in Syrien?

Meine Mutter ist ausgewandert. Sie lebt heute als Flüchtling in Kanada. 2011 hat sie mich in Dubai besucht, als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, und konnte nicht mehr zurück. Aber mein Vater ist noch in Syrien, und er will dort auf keinen Fall weg. Er besitzt in einem umkämpften Gebiet außerhalb von Damaskus Land, an dem er sehr hängt, besonders an den Bäumen. Es gibt dort Feigen, Granatäpfel, Aprikosen. Er durfte lange nicht hin, bis es im vergangenen Jahr eine Waffenruhe gab. Als er sah, dass alle Bäume tot sind, hat er einen Schock bekommen und sechs Monate lang kein Wort gesprochen. Er hat einfach nicht mehr geredet.

Haben Sie Angst um Ihren Vater?

Ich habe Angst um ihn als Menschen, aber nicht als Vater. Mich verbindet nur wenig mit ihm. Er ist ein typisch orientalischer Vater, extrem autoritär. Davon wollte ich mich lösen. Fürchten Sie nicht, dass Sie ihn vielleicht nie wiedersehen? Natürlich. Aber ich habe auch Angst davor, ihn wiederzusehen. Genauso wie ich Angst davor habe, irgendwann wieder nach Syrien zu fahren, wenn der Krieg vorbei ist, und zu sehen, was er mit den Menschen gemacht hat.

Fürchten Sie nicht, dass Sie ihn vielleicht nie wiedersehen?

Natürlich. Aber ich habe auch Angst davor, ihn wiederzusehen. Genauso wie ich Angst davor habe, irgendwann wieder nach Syrien zu fahren, wenn der Krieg vorbei ist, und zu sehen, was er mit den Menschen gemacht hat. 

Haben Sie noch Hoffnung für das Land?

Meine Hoffnung ist, dass die Menschen irgendwann lernen, den Hass zu hassen. Wenn man schon etwas hassen muss, dann bitte den Hass selbst. Sie sagen, Sie haben sich in Deutschland so wohl gefühlt – und sind trotzdem nach Dubai gegangen. Warum? Ich bin nach Dubai gegangen, weil ich Teil der globalisierten Welt sein wollte. Dubai ist für mich wie ein Flughafen-Terminal – dort sind die Heimatlosen zu Hause. Dort wollte ich meine Zukunft aufbauen, jenseits meiner geografischen Heimat. Inzwischen habe ich zwei Kinder und denke anders. Die Kinder haben meine Sicht verändert. Ich weiß jetzt, dass ich ihnen eine Heimat geben muss – und dass Deutschland dafür deutlich besser geeignet ist.

Sagen Sie, Sie haben sich in Deutschland so wohl gefühlt – und sind trotzdem nach Dubai gegangen. Warum?

Ich bin nach Dubai gegangen, weil ich Teil der globalisierten Welt sein wollte. Dubai ist für mich wie ein Flughafen-Terminal – dort sind Heimatlosen zu Hause. Dort wollte ich meine Zukunft aufbauen, jenseits meiner geografischen Heimat. Inzwischen habe ich zwei Kinder und denke anders. Die Kinder haben meine Sicht verändert. Ich weiß, jetzt, dass ich ich ihnen eine Heimat geben muss – und dass Deutschland dafür deutlich besser geeignet ist. 

Wieso das?

Zum einen sind da all die großen Schätze wie Kunst, Kultur, Musik, die schöne Natur. Aber es gibt auch sehr viele kleine Dinge. Die Menschen in Deutschland haben beispielsweise eine ganz andere Einstellung zur Umwelt. Es tut mir immer weh, wenn ich sehe, wie viel Müll bei uns überall rumliegt. Ich möchte meine Kinder dort großziehen, wo auf solche Dinge geachtet wird.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.