Görlitz

Kein Geld.
Keine gute Anbindung.
Keine Grenze.
Und das sind längst nicht alle Standortvorteile von Görlitz.





Eine Grenze gibt es nicht mehr. Du gehst durch die Stadt, es ist Deutschland, über die Brücke und weiter durch die Stadt, doch jetzt ist es Polen. Als am 21. Dezember 2007 die Grenzkontrollen zwischen den beiden Nachbarländern endeten, wurde aus Görlitz und Zgorzelec wieder das, was sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren: eine Stadt – jetzt eben in zwei Ländern. Und wie das so ist mit verschwundenen Grenzen: Erst ist es unglaublich, doch nach kurzer Zeit erinnert sich keiner mehr an sie. Die Brücke ist nur noch eine Brücke.

Und diese politische Grenze ist nur eine von zahllosen, die in den vergangenen Jahren gefallen sind oder noch fallen werden. Jeden Tag verschwinden heute mehr Grenzen als früher in einem Lebensalter. Das ist die Lage. Und die Chance. Auch für diesen Ort an der unsichtbaren Grenze.

Görlitz ist eine ruhige Stadt. „Wir haben hier ein menschliches Tempo“, sagt Axel Krüger. Das klingt in unserer aufgeheizten Ökonomie nach weit hinten. Es könnte aber auch das Gegenteil sein.

„Sicher, in anderen Städten passiert mehr“, erklärt der 52-Jährige, „aber ich fühle mich hier wohl. Ich glaube, die Stadt hat mit 90 000 Einwohnern auf beiden Seiten eine ideale Größe: Man kennt sich noch, kann sich aber auch in Ruhe lassen. Man kann sich aufeinander verlassen, ist aber nicht voneinander abhängig. Man kann alles auf kurzen Wegen zu Fuß oder mit dem Rad erledigen, hat aber genug Platz, sich freizulaufen.“

Es ist ein sonniger Vormittag im Hinterhof eines kleinen Hotels, das voll gestellt ist mit alten Möbeln, Grammofonen, sogar Schaufensterpuppen. Im ersten Moment wirkt das etwas befremdlich, aber ist man länger in Görlitz, gewöhnt man sich an die üppige Präsenz vergangener Schönheit. Axel Krüger fühlt sich hier wohl. Er ist ein Lokalpatriot, aber kein gebürtiger. Er stammt aus dem Saarland und ging von dort nach Freiburg, wo er „ein wenig rumstudierte“, Jura, Volkswirtschaft, „alles, was ich brauchte, um eine Firma zu gründen“. Einen Abschluss machte er nicht. Stattdessen betrieb er ein ziemlich erfolgreiches Studentenkino und startete mit dem Gewinn eine Werbeagentur.

Axel Krüger (rechts), der sich in Görlitz immer wieder neu erfunden hat, kennt die halbe Stadt. So auch Detlef Hausmann, einst Uhrenhändler, heute Verkäufer von Mittelalter-Zubehör.

Die Wiedervereinigung erlebte er in Berlin auf dem Potsdamer Platz. Er war begeistert. Als ihn kurz darauf ein Bekannter fragte, ob er in Görlitz Marketing unterrichten könne, fuhr er mal hin – und ging nie zurück. Das war 1991. Er gründete eine neue Agentur und mit Freunden eine Kneipe, betrieb ein Restaurant, arbeitete drei Jahre für einen Konzern und hat jetzt wieder eine Agentur, daneben führt er einen kleinen Weinhandel. „Aus allem“, sagt er im Rückblick, „haben sich immer wieder neue Möglichkeiten ergeben.“

Krüger ist ein grandioser Erzähler. Das darf man auch erwarten. Immerhin ist seine Agentur Machtwort eine Kommunikations- und Personalberatung. Er führt sie mit dem deutlich jüngeren Görlitzer Mike Altmann, der einen ähnlich bunten Lebenslauf vorweisen kann. Die beiden schreiben auch Bücher und veranstalten in der Stadt Lesungen, oft mit weiteren Künstlern. „Anfangs“, sagt Krüger, „kam eine Handvoll Leute, aber da muss man durch. Inzwischen ist jeder Abend ausverkauft.“ Hört man ihm länger zu, wird bald klar, worauf die Liebe zu seiner Wahlheimat basiert: Er hat sie sich erarbeitet.

„Görlitz“, sagt Krüger, „wirft dich auf dich selbst zurück. Wir haben damals eine Kneipe gegründet, weil es keine Kneipe gab, die uns gefiel. Ich habe das Restaurant geführt, weil ich ein gutes Restaurant wollte. Wenn einer sagt: Hier gibt es keine Disco, sagen wir: Mach eine gute Disco. Es gibt Platz, es gibt Menschen, die kämen – tu es einfach. Irgendwer wird dir schon helfen. Versuche es.“

Ausprobieren und gewinnen

Für ihn ist dies das Prinzip Görlitz: „Es gibt unwahrscheinlich viele Möglichkeiten. Man kann sich hier ausprobieren, und zwar zu kleinen Preisen, weil wir viel Platz haben. Beim Projekt Jakobspassage sieht man das gut: Da waren junge Leute an dem Ladenraum interessiert, und der Hausbesitzer war froh, dass ihn einer haben wollte. Die Jungs haben selbst saniert und zahlten lange nur die Betriebskosten, nun sieht das Objekt besser aus, und andere Interessenten werden kommen, die mehr bezahlen. Das ist für alle eine Gewinnsituation – und das funktioniert bei uns.“

Zur Jakobspassage kommen wir gleich. Zu Fuß oder mit dem Rad. Ist nicht weit. Aber vorher ein kurzer Einschub zur Geschichte von Görlitz: Die heute östlichste Stadt Deutschlands wurde im Mittelalter ein sehr reiches Handelszentrum, das sie lange blieb, und erlebte während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine zweite Blüte. Sie war, kurz gesagt, die meiste Zeit eine der reichsten Städte Deutschlands. Und da sie nie von Fürsten regiert wurde, sondern von Kaufleuten, floss das schöne Geld nicht in Schlösser und Ländereien, sondern in den Ausbau der Stadt. Das sieht man noch heute.

In der Jakobspassage geht es nicht nur um Produkte, sondern auch um Aufbruchsstimmung, Selbstwirksamkeit und die Arbeit an einer gemeinsamen Zukunft.

Man könnte es Glück nennen, aber tatsächlich waren es Standortvorteile, die die Stadt mehrfach retteten, wie Axel Krüger erzählt. Im Zweiten Weltkrieg gelang es den Engländern nicht, Görlitz zu bombardieren, obwohl es dort kriegswichtige Industrie gab: Es lag so weit ab, dass das Benzin der Bomber für die Strecke nicht reichte. Die einmarschierenden Russen umfuhren Görlitz weiträumig, weil das Neiße-Ufer in diesem Gebiet zu steil für ihre Panzer war. Und in der DDR ließ man die Altstadt stehen, weil man dort wegen der dichten Bebauung nicht sprengen konnte und andere Arten des Abrisses zu teuer waren.

Das hat dazu geführt, dass in Görlitz rund 4000 Baudenkmäler stehen: In der Innenstadt ziehen bestens erhaltene, top restaurierte Spätgotik-, Renaissance- und Barockhäuser eine stetig wachsende Zahl von Touristen an. Und um den Stadtkern liegen ausladende Gründerzeit- und Jugendstilviertel, das Ergebnis der zweiten Blüte, flankiert von üppigen Parks, deren Pflege die Stadt sich offensichtlich etwas kosten lässt. Doch ein nicht geringer Teil dieser Pracht steht leer. Denn Görlitz hat, wie der gesamte deutsche Osten, erheblich an Einwohnern verloren: 1990 lebten rund 72 000 Menschen im deutschen Teil der Stadt, heute sind es noch rund 56 000. Seit einiger Zeit geht es allerdings langsam bergauf. Oberbürgermeister Siegfried Deinege, ein ehemaliger Bombardier-Manager, über den sämtliche Gesprächspartner nur Bestes zu sagen wussten, hält es für durchaus möglich, dass seine Stadt in fünf Jahren 60 000 Menschen beherbergt.

Zur Vorhut gehören Clemens Kießling, Sebastian König und Robert Melcher, die Betreiber der Jakobspassage, an der alles echt ist – bis auf den Namen: Eigentlich ist es nur ein Laden, den man zwar durchqueren kann, aber dann steht man bloß auf einem netten Hinterhof. Doch alles andere im Reich der drei Jungunternehmer ist ausgesprochen bodenständig: An Kleiderständern hängen Hoodies und Hosen von Fair-Trade-Labels, daneben stehen restaurierte Vintage-Fahrräder, und wer an der kleinen Bar eine Matelimonade bestellt, kann sie auf einem sehr bequemen rollenden Sessel genießen. Und natürlich kann man das alles auch kaufen.

Clemens Kießling hat den Laden gefunden. Er studierte in Dresden Politikwissenschaft, als er 2013 feststellte, dass es in Sachsen keinen Handel für Fair-Trade-Kleidung gab. Also eröffnete er einen Onlinestore, für den er anfangs ein WG-Zimmer als Lager nutzte. Als der Laden lief, suchte er einen größeren Raum, fand aber nichts, „nicht einmal was Unbezahlbares. Der Immobilienmarkt der Stadt hat sich in fünf Jahren komplett gedreht. Es gibt in Dresden keinen Leerstand mehr“, glaubt er. Der wirtschaftliche Boom, der Aufstieg der Universität zur Exzellenz-Uni, ja der gesamte Erfolg Dresdens erzeugt an der Basis einen Druck, mit dem sich Kießling nicht anfreunden konnte. Also sah er sich um – und fand Görlitz.

Kommen und bleiben

Seinen jetzigen Vermieter lernte er über einen Bekannten kennen. Er bekam den Laden anfangs mietfrei, um ihn auszuprobieren, nutzte ihn als Lager und bald auch zum Verkauf. Es war ein roher Raum ohne Heizung, er musste schließen, wenn es kalt wurde. „Aber so war ich schon mal mit einem Bein hier.“ Dann bot ihm der Vermieter eine sehr billige Wohnung über dem Geschäft an, die er selbst renovieren sollte. Und er erinnerte ihn an ihren Deal: Nach der Testphase würde er Miete zahlen. Kurz darauf traf der 26-Jährige bei den „Zukunftsvisionen“, einem alljährlichen internationalen zeitgenössischen Kunstfestival, das von Studenten organisiert wird, Sebastian König, der dort in einem Popup-Store seine Fahrräder anbot.

Unternehmer, Zukunftsbauer und Betreiber der Jakobspassage. Von links im Uhrzeigersinn: Robert Melcher, Sebastian König und Clemens Kießling

König stammt aus der Nähe von Rosenheim. Er ist vor sieben Jahren nach Görlitz gezogen. „Ich habe hier oft einen Schulfreund besucht – und die Besuche wurden immer länger. Ich mag die Stadt“, erzählt er. Der 38-Jährige, der früher in der Textilbranche tätig war, benutzt oft das Wort „Fügung“ – seine Geschichte legt es aber auch nahe. Kurz nach seinem Umzug traf er seine heutige Frau, und bald fand er auch sein neues Geschäftsfeld: alte Fahrräder. „In Polen gibt es sehr viele, vor allem vom Sperrmüll der Achtziger- und Neunzigerjahre. Und die werden von Sammlern in aller Welt gesucht.“ Er handelt zurzeit in erster Linie mit restaurierten Fahrrädern und baut ab und zu individuelle Stücke, denkt inzwischen aber auch über eine eigene Produktion nach. Was ihm lange fehlte, war ein Laden – bis er auf Kießling stieß.

Mitfiebern und mitmachen

König erzählt von Görlitz wie von einem Geschenk: „Der Leerstand! Das Abenteuer! Im Süden braucht man ganz andere Mittel und ein anderes Netzwerk, um so etwas zu entwickeln. Außerdem habe ich schnell Anschluss gefunden und mich willkommen gefühlt. Als wir mit der Jakobspassage begonnen haben, wurde das noch mal spürbar. Die Leute haben richtig mitgezittert, ob wir das schaffen. Auch ältere Menschen kamen rein und fanden es toll, dass hier was passiert. Das war für uns alle eine schöne Erfahrung.“

Klingt das nach Märchen? Oder zumindest unwahrscheinlich? Tja, die große Weltoffenheit der Görlitzer bestätigten sämtliche Zugereisten. Und übrigens: Görlitz ist auch sehr sonnig, regenarm und hat prächtige Sommer. Okay, das wird jetzt albern. Aber es stimmt.

Robert Melcher stammt aus der Region. Er hat Zimmermann gelernt, Spielplätze gebaut, Holzgestaltung, Möbel- und Produktdesign studiert, in Leipzig gelebt. 2010 zog er für ein Jahr nach Görlitz, um an einem Projekt zu arbeiten – und blieb. 2011 machte er sich selbstständig, 2012 eröffnete er eine Galerie. „Ein abgeranzter Raum, den ich repräsentabel gemacht habe. Ich habe Künstler aus meinem Netzwerk ausgestellt und meine Sachen angeboten.“ Zweieinhalb Jahre versuchte er es, „doch es funktionierte nicht: Ich war für alles allein verantwortlich und habe wenig verkauft.“

Das Zusammentreffen mit Kießling und König, den er zuvor schon kannte, war für ihn ein Glücksfall. Er designte alles im Laden, eine Treppe aus Schränken, Schreibtische auf einem Holzpodest, und selbstverständlich stehen in dem Raum seine Möbel, zum Beispiel die rollenden Stühle, die sich mit einigen Handgriffen zu einem Sofa zusammenbauen lassen. So hat er jetzt nicht nur ein Büro, „wo mich interessierte Kunden besuchen können – ich kann ihnen auch gleich zeigen, was ich tue“. Der 38-Jährige grinst. „Früher habe ich immer mit Fotos herumhantiert.“

Die Geschichte dieser perfekten Partnerschaft ist für Görlitz nicht repräsentativ. „Wir kamen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort“, sagt Clemens Kießling. „Die Stadt hat uns wirklich sehr geholfen, aber nicht zuletzt, weil sie schon mit der Kreativwirtschaft geworben hat, obwohl sie kaum welche hatte.“

Zukunftspotenzial 1: Das Kaufhaus Görlitz, vermutlich das schönste Jugendstilkaufhaus Deutschlands, wird 2018 eröffnet.

Die Jakobspassage zeigt ein Potenzial, das vielleicht auch an anderen Orten existiert, hier aber besonders deutlich wird.

1. Es gibt einen Bedarf. Das ist nicht selbstverständlich. Wer jemals versucht hat, in Metropolen oder Szenehauptstädten wie Hamburg, Berlin oder Leipzig eine Marktlücke zu finden, weiß das.

2. Es gibt Möglichkeiten: Räume, eine unterstützende Stadt, Partner. Für die Renovierung, die das Trio zu rund 80 Prozent in Eigenleistung organisierte, fand sich sogar jemand, der ein Privatdarlehen anbot.

3. Es gibt hier Menschen, die Fair-Trade-Kleidung, restaurierte Fahrräder und Designer-Möbel kaufen. Um es noch einmal ausdrücklich zu sagen: Das sind alles keine Billigprodukte.

Robert Melcher entwirft zurzeit vor allem für Privatkunden Einzelstücke, Regale, Schränke, die individuell an die Wohnungen und Lebenssituationen der Menschen angepasst sind. „Wenn die Leute über 30 sind und Familien gründen, geht es ihnen immer häufiger darum, etwas anzuschaffen, das länger als einige Jahre hält. Die Leute leben heute bewusst, sie wollen Nachhaltigkeit.“

Clemens Kießling, das wohl ruhigste Mitglied des allgemein sehr unaufgeregten, bedacht wirkenden Trios, sieht das ähnlich: „Görlitz ist beim Kaufkraft-Index mehrfach auf dem letzten Platz gelandet, aber es gibt auch bei uns Menschen, die sich gute Waren leisten können. Auch junge. Die finden hier nur keine Angebote. Wir sind dabei, eine Klientel zu aktivieren, die zum Einkaufen eher nach Bautzen oder nach Dresden fährt, weil sie in Görlitz keine Qualität erwartet.“

Es ist nicht so, dass in Görlitz wirtschaftlich gar nichts passiert. Bombardier, Siemens und Birkenstock haben hier Standorte, es gibt eine kleine Software-Szene, ein wenig Biotech, etwas Medizintechnik. Die Hochschule teilt sich Görlitz mit Zittau, was zumeist als der stärkere Standort betrachtet wird, aber dafür hat Görlitz ein herausragendes Institut für Bodenbiologie (siehe Seite 104) Kurz: Es wird hier durchaus Geld verdient. Aber es ist schwierig, es in der Stadt auszugeben. Auf dem verkramten Wochenmarkt bieten fliegende Händler Handtaschen für eine Handvoll Euro an, der polnische Imbisswagen daneben serviert eine amtliche Portion Piroggen für vier Euro. Ja, man kann in Görlitz mit wenig Geld gut leben. Aber was, wenn man das nicht immer will? Wo geht es hier zum Shoppen?

Erinnern Sie sich nur an den Film „Grand Budapest Hotel“. Er wurde in Görlitz gedreht, wie viele Filme – das Stadtbild ist eine beliebte Kulisse. Im Zentrum der Hollywood-Komödie, die vier Oscars, einen Golden Globe und einen Haufen weiterer Preise gewonnen hat, steht ein Luxushotel, so prächtig, dass man sofort denkt: Daran haben die Ausstatter lange gearbeitet. Um so verblüffender, wenn man plötzlich in den vermeintlichen Kulissen steht, die aussehen wie im Film – und alles ist echt. Das ist das Kaufhaus Görlitz, ein Jugendstiltraum. Gut möglich, dass es das schönste Kaufhaus Deutschlands ist. Nur steht es leider seit sieben Jahren leer. Aber das wird sich ändern.

Vor drei Jahren hat Winfried Stöcker das Haus gekauft, ein Unternehmer aus der Medizinbranche, der heute in Lübeck lebt, aber aus der Oberlausitz stammt. Er gibt seiner Heimat seit Jahren von seinem Erfolg zurück, unter anderem durch zwei Standorte seines Unternehmens Euroimmun Medizinische Labordiagnostika im Einzugsbereich Görlitz, und so ist er häufig in der Gegend. Stöcker sagt, er erinnere sich gern daran, wie er als Kind in diesem Haus einkaufen war. Als er es leer fand, nahm er sich vor, es neu zu beleben.

Erinnern und neu denken

Die Entwicklung des Projekts leitet der Bauingenieur Jürgen Friedel, eigentlich ein Spezialist für Flughäfen, der recht norddeutsch wirkt – kein Euphoriker. Aber natürlich muss er Optimismus ausstrahlen, immerhin soll das Kaufhaus in zwei Jahren eröffnet werden. Interessant ist jedoch seine Argumentation. Das Haus soll vor allem teure Mode und Produkte des gehobenen Bedarfs anbieten – das legt die Architektur auch nahe. Doch so optimistisch kann man nicht sein, zu glauben, die örtliche Kaufkraft könne einen derartigen Konsumtempel tragen. Das muss die Stadt auch nicht, glaubt Friedel. „Görlitz liegt zwischen Breslau und Dresden – das ist unser Markt. In Polen geht es seit Jahren aufwärts. Wenn Sie in Breslau sind, stellen Sie fest, dass Sie dort sehr hochwertig einkaufen können. Die polnischen Damen haben viel Interesse und Gespür für Mode.“ Und können sie sich leisten.

Zukunftspotenzial 2: Das Kühlhaus am Rande von Görlitz, erbaut in den Fünfzigern, ist jetzt ein Kommunikationszentrum im Werden.

Womit wir wieder bei den Grenzen wären – und bei der Geografie. Einerseits ist Görlitz absurd abgeschnitten: Nach Berlin braucht man auf Landstraßen rund drei Stunden zwischen Treckern und Milchtransportern. Mit dem Zug dauert es fast genauso lange. Das verhindert, dass Wochenendfluchtberliner in Görlitz einfallen und schützt auch vor einem neuen „Hypezig“.

Aber man braucht mit dem Auto keine zwei Stunden nach Breslau und nur gut zwei Stunden nach Prag. Trotzdem, sagt Eva Wittig, die Leiterin der Wirtschaftsförderung, sehen viele Firmen die Stadt am Rand eines Halbkreises – eben an der deutschen Grenze. Dabei liegt Görlitz im Zentrum Europas, doch das ist in den Köpfen noch gar nicht angekommen. Alles ist in Bewegung, und kaum einer kriegt es mit.

Wer sich ein paar Tage in Görlitz aufhält, bekommt das Gefühl, hier sei eine Stadt im Entstehen. Oder besser: Hier findet eine Stadt auf neuen Wegen zu einer Form, die sie lange hatte. Dazu gehört, dass sich überall Projekte im Aufbau befinden – auch wenn ihr Erfolg naturgemäß nicht absehbar ist. Da gibt es zum Beispiel das Kühlhaus Görlitz, ein gigantisches Areal, auf dem ein Jugend- und Kommunikationszentrum von einigen enthusiastischen Aktivisten betrieben wird. Sie veranstalten Konzerte und Feste, Lesungen, Kurse und Vorträge und werden zurzeit von der Robert Bosch Stiftung unterstützt. Wie lange noch, ist allerdings unklar.

Erinnert das Kühlhaus an Berlin-Kreuzberg in den Achtzigern, wirkt das Rabryka wie aus dem Leipzig der Neunziger gefallen: In dem soziokulturellen Zentrum auf einem alten Fabrikgelände geht es um Stadtentwicklung und Selbermachen, etwa beim Urban Gardening, im Bauraum oder im Tonstudio und natürlich in den diversen Workshops. Drum herum werde sich wohl ein alternatives Viertel entwickeln, glauben viele. Also vielleicht.

Planen und hoffen

Am Obermarkt, einem zentralen Platz in der Innenstadt, hat gerade ein junger Mann, der ein vegetarisches Café betreibt, für wenig Geld ein schönes, aber recht abgerocktes Gründerzeithaus gekauft. Dort will er ein Hostel eröffnen, die Renovierung soll vor allem in Eigenleistung bewältigt werden. Bisher ist das allerdings nur ein prima Plan.

Und das sind nur einige der größeren Brocken, die halbe Stadt scheint sich in einem stillen Prozess zu befinden. Die Vielzahl der Projekte spiegelt die Vielzahl der Akteure wider, aber ihnen allen ist eine Ungewissheit gemein, die nicht nur lokal bedingt ist. Und sie gilt nicht nur für kleine Player, die mit begrenzten Ressourcen hantieren.

Arne Myckert, der das städtische Wohnungsunternehmen Kommwohnen leitet, dem etwa 6000 Wohnungen gehören, zählt eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten auf, die mit Görlitz nichts zu tun haben, für seine Arbeit aber relevant sein könnten. Die Digitalisierung zum Beispiel: Sie wird etliche Arbeitsplätze vernichten, etwa in Callcentern – von denen es in Görlitz viele gibt, weil in der Gegend nicht sächsisch gesprochen wird, sondern ein nahezu akzentfreies Hochdeutsch. Und wenn jetzt seine Mieter alle arbeitslos werden?

Oder die Alterung der Gesellschaft: In Görlitz leben schon heute viele Senioren, und es werden immer mehr, doch nur wenige Häuser haben Fahrstühle – und viele Altbauten sind für den Einbau ungeeignet. Wo sollen die Senioren wohnen? Ja, und was ist, wenn eines Tages das Bürgergeld kommt? Und was, wenn nicht?

Myckert ist einer der gut informierten Menschen, die man früher nur in Metropolen traf – doch auch der Wissensvorsprung der urbanen Zentren löst sich zügig auf. Er stammt aus Bremerhaven und hat schon an vielen Orten gelebt. Jetzt sei Görlitz seine Wunschstadt, sagt er, und das liege auch am großartigen Umland. Myckert zählt die Naherholungs-Höhepunkte auf: das gut eine Stunde entfernte Riesengebirge, wo man im Winter Ski fahren kann, und das Hirschberger Tal in Polen mit seinen vielen Schlössern und Burgen, das mit dem Auto 90 Minuten entfernt ist. Von der fantastischen Landschaft rund um die Stadt mit ihren vielen idyllischen Dörfern ganz zu schweigen. „Das ist hier bei uns fast wie in München“, findet er.

Wer von Görlitz kommend die Neiße überquert, schaut auf das polnische Zgorzelec. Hübsch – hüben wie drüben.

An dieser Stelle fällt natürlich auch das Stichwort „War for Talents“, der Kampf um Spitzenleute, die überall arbeiten könnten. Das gibt dem Wirtschaftswissenschaftler die Gelegenheit, vom Berzdorfer See zu erzählen, einem gefluteten Tagebauloch, das von der Görlitzer Innenstadt gerade neun fahrradfreundliche Kilometer entfernt ist und um dessen Erschließung er sich ebenfalls kümmert. „Da können Sie abends einfach kurz hinfahren. Die Leute surfen da jetzt schon.“

Gerade wird ein Hafen gebaut, hinter ihm an der Wand hängen Pläne für weitere ambitionierte Projekte. Noch fehlt allerdings fast die komplette Infrastruktur, und ob sich am Ende für die Häuser am See, von denen es bisher nur dekorative Zeichnungen gibt, die richtigen Bewohner finden, ist unabsehbar. Wie überhaupt alles.

Nur eines ist sicher.

Die Annahme, dass alles so weitergehen wird wie bisher, ist angesichts der enormen Veränderungen, die unsere Gesellschaft gerade durchläuft, total abwegig. Sicher, es wird weiter Metropolen geben, in denen Menschen große Räder drehen und dickes Geld verdienen – und Görlitz wird dafür immer zu klein sein. Genau wie es weiterhin Szenestädte mit Craft-Beer und Cold-Brew-Bars voller junger Menschen geben wird, die in jungen Firmen disruptive Technologien und Geschäftsmodelle entwickeln – doch für die liegt Görlitz zu weit ab von den Pfaden der digitalen oder investierenden Nomaden.

Leben und leben lassen

Aber ist das schlimm? Nicht jeder, der etwas unternehmen oder auch nur tun will, ist für Wettbewerb, Verdrängung, Finanzierungsrunden und Interkontinentalbonusmeilen geeignet. Es mag angesichts der verbreiteten Neigung zu eskalierenden Geschäftsplänen seltsam klingen, aber das war vor wenigen Jahrzehnten normal: Kein Bäcker eröffnete 1976 eine Bäckerei, um daraus in fünf Jahren eine Franchise-Kette zu machen. Nur: Wo gibt es heute Orte für solche Menschen?

Der Möbeldesigner Robert Melcher bringt Görlitz gut auf den Punkt. „Sicherlich kommt man nicht hierher, um den Arbeitsmarkt zu bedienen – der fehlt hier. Nein, man kommt hierher, weil man eine Idee hat. Die Stadt ist für alles dankbar, was den Ort belebt, und unterstützt es. Nicht finanziell, aber strukturell. Das führt dazu, dass man keine Zuschüsse konsumiert, sondern selbst etwas tut. Und dafür erhält man viel Anerkennung, außerdem findet man schnell ein Netzwerk: Alle, die hier etwas tun, kennen und helfen sich. Wir haben keine Passivkultur wie in den Großstädten. Man kann hier jeden Abend was erleben – aber es wird immer etwas Aktives sein. Und all das erzeugt eine stadtweite Selbstwirksamkeit.“

Vielleicht ist Görlitz Vorbild für die nächste Stadt, die nächste Idee einer Stadt. Nach den internationalen Metropolen und den brodelnden Szenehauptstädten ist es vielleicht Zeit für den Aufstieg des Selbstwirksamkeitszentrums. Oder der Eigenleistungsstadt. Ich tu was. Du tust was. Wir tun was. Mit viel Engagement, aber ohne große Ambitionen. Einiges funktioniert. Einiges funktioniert nicht. Doch es ergibt sich immer wieder etwas Neues. Und so können wir alle prima damit leben. Wer ist dabei?


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.