Kreuzfahrt auf Venezianisch

Wir schreiben das Jahr 1201. Papst Innozenz III. plant den vierten Kreuzzug und schickt seine Emissäre zur Verhandlung nach Venedig (dargestellt unten auf einem Stahlstich aus dem 19. Jahrhundert). Die führende Seemacht jener Zeit soll den gewaltigen Transport der Kreuzritter nach Jerusalem organisieren. Eine schwierige Entscheidung für den venezianischen Dogen Enrico Dandolo:
Der Auftrag könnte Venedig noch reicher und mächtiger machen – die Stadt könnte aber auch alles verlieren.
Dandolos Lösung sollte sich als eine der am besten durchdachten Strategien des Mittelalters erweisen.




Was tun, wenn Boten des Papstes vor der Tür stehen und fragen, ob man sich nicht an der Befreiung der Christenheit beteiligen möchte? Enrico Dandolo konnte sie nicht einfach ein Haus weiter schicken wie verirrte religiöse Eiferer. Schließlich war er der Doge von Venedig, gewähltes Oberhaupt eines der einflussreichsten Stadtstaaten des Abendlandes, und die Boten waren französische Adelige unter der Leitung von Geoffroy de Villehardouin.

Seit seiner Wahl 1198 betrieb Papst Innozenz III. die Vorbereitungen für einen vierten Kreuzzug gen Jerusalem. Gut zweieinhalb Jahre rumorte es jetzt schon in der Christenheit. Ein vierter Zug: Stand die Befreiung der heiligen Stadt von den Sarazenen tatsächlich bevor? Dandolo, seit 1192 Doge, hatte mit dem Besuch Villehardouins längst gerechnet. Schon im August 1198 hatte er dem Papst die Hilfe seiner Stadt angeboten. Mittlerweile drängte die Zeit. Die von Innozenz III. gesetzte Frist für den Beginn des Zuges war längst überschritten. Doch viele christliche Krieger Europas hatten andere Sorgen. In Deutschland gab es gerade einen König zu viel: Durch den Thronstreit zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig waren viele potenzielle Kreuzritter gebunden. So übernahmen schließlich französische Edelleute die Initiative.

Nicht, dass man in Venedig nicht längst über den Fall eines Hilfeersuchens nachgedacht hätte. Aber Dandolo hasste Spekulation. Zu lange war er einer der wichtigsten Diplomaten Venedigs gewesen, als dass er mit einer Planung beginnen würde, so lange die Ausgangslage noch völlig unklar war. Vor allem war er der Stadt verpflichtet. Trotz seines hohen Alters – er soll damals schon über 80 gewesen sein – hatte der Große Rat Venedigs ihn in einem komplizierten Wahlverfahren, das alle machtpolitischen Intrigen auszuschließen versuchte, zum Oberhaupt unter öffentlicher Kontrolle bestimmt. Enrico Dandolo wusste: Er war der Primus inter Pares. Das wussten auch die anderen Ratsmitglieder. Und er war ein Fuchs. Das sollte seine Strategie innerhalb der nächsten vier Jahre zeigen.

An diesem Februartag 1201 drosselte Dandolo zunächst das Tempo der Verhandlungen. Nach den gegenseitigen Respektsbekundungen und dem Hinweis auf die Dringlichkeit der Mission ließ der Doge seine Besucher erst einmal vier Tage warten. Schließlich war nicht ihm die Mission eilig, sondern denen, die bereit waren, „das Kreuz aufzunehmen“. Sie waren Bittsteller, das sollten sie auch spüren. In Genua und Pisa waren die päpstlichen Boten bereits abgewiesen worden. Das brachte Dandolo in eine günstige Verhandlungsposition: Es bestand kein Zwang für den Dogen, auf die Bitten einzugehen. Venedig konnte zu nichts verpflichtet werden, aber alles zusagen. Und es gab eine Fülle von Möglichkeiten zu handeln.

Sollten sich die französischen Edelleute doch erst einmal drei Tage lang seine Stadt anschauen. Sollten sie sehen, wie stolz und mächtig seine Kaufleute waren. Venedigs Größe bestand nicht in gewaltigen Ländereien, die es mühselig und kostenaufwendig zu verteidigen galt. Venedigs Macht und Reichtum erwuchsen aus dem Verhandlungsgeschick seiner Kaufleute, aus der Dauer der langjährigen Geschäftsbeziehungen in alle Winkel der damals bekannten Welt, und sie basierten auf der Diplomatie, die unermüdlich die Handelsvormacht im Mittelmeer zu erhalten versuchte, was freilich nicht immer gelang. Venedigs Stärke bestand aber auch in den Fähigkeiten seiner Schiffbauer: Jede Spante in einem venezianischen Schiffsrumpf festigte gewissermaßen die Seemacht der Stadt. Dandolo wusste, dass die Franzosen vor allem deshalb zu ihm kamen.

Acht Tage und jede Menge Ungewissheiten

„Herr Herzog, wir wissen, dass kein Volk auf dem Meere so große Macht hat wie Ihr, und bitten Euch, Ihr möchtet Sorge tragen, dass die Kreuzfahrer eine Flotte bekommen, um ihre Pilgerfahrt auszuführen, auf jede Weise, die Ihr ihnen loben oder raten könnt, vorausgesetzt, dass sie es tun oder leiden können.“ – Mag sein, dass Villehardouin, der auch als Dichter von sich reden machte, seine Erinnerung bei der Aufzeichnung mit einem lyrischen Grundton versah. Was er hier aussprach, war jedoch nichts Geringeres als der Transportauftrag für das gesamte Kreuzfahrer-Heer. Venedig wurde ein riesiges Geschäft in Aussicht gestellt: 4500 Ritter sollten mitsamt ihren Pferden, 9000 Knappen und 20.000 Kriegsknechten in Venedig für die Fahrt übers Mittelmeer eingeschifft werden – und, wie damals für den Dienst im Sinne der guten Sache üblich, die Passage aus eigener Tasche zahlen. Auf dieser Grundlage konnten Dandolo und der Große Rat kalkulieren. Das Angebot klang interessant, aber die Zeit war knapp. Acht Tage, so wurde vereinbart, blieben Dandolo, um über Wohl oder Wehe seiner Stadt zu entscheiden. Acht Tage, um eine Strategie zu entwerfen, bei der es jede Menge Ungewissheiten gab.

Der Verlauf der geheimen Beratungen der Venezianer ist nicht überliefert. Angesichts der Ergebnisse ihrer Entscheidung lässt sich jedoch zum Teil auf die damaligen Überlegungen schließen. Die größte Unbekannte stellten die Kreuzritter dar. Sie waren bei allem Kampfeswillen für den Papst und seine Befreiungsidee am schwersten einzuschätzen. Konnte man ihnen wirklich trauen? Sich auf ihre Zusagen verlassen? Ein hohes Risiko: Immerhin musste die Stadt für die kriegerisch gestimmten Pilger in Vorleistung treten, musste Schiffe bauen, Sammelstätten für die Krieger und Lagerhäuser für den Proviant errichten. Eine derart große Flotte, wie sie dem Papst vorschwebte, konnte auch die Seemacht Venedig nicht aus dem Ärmel schütteln. Nur selten wurden Transporter für tausend Mann gebaut. Und davon brauchte man jetzt eine große Menge, ganz zu schweigen von den Schiffen für die Pferde.

Wer garantierte den Venezianern die Finanzierung des gewaltigen Projekts? Wie sollte man Aufwand und Ertrag exakt kalkulieren? Für Dandolo und seinen Rat waren verschiedene Szenarien denkbar. Es konnten alle Kreuzritter kommen und zahlen – oder zu wenige, dann würde Venedig auf seinen Kosten sitzen bleiben. Natürlich, auch diejenigen, die dem Zug fern bleiben würden, wären zur Zahlung verpflichtet. Aber würden sie der Pflicht auch nachkommen? Was, wenn sie die geforderte Summe nicht aufbrächten? Wer würde für den Ausfall aufkommen? Der Proviant für das Heer und die Flotte musste rechtzeitig zur Abfahrt bereitstehen, und die Ritter mussten so lange untergebracht werden. Was würde passieren, wenn es Verzögerungen gab? Was, wenn Nahrung und Trinkwasser knapp werden und sich Krankheiten und Seuchen unter den Kreuzfahrern ausbreiten würden? Und: Wie war der Wert der Beute überhaupt einzuschätzen, die die Ritter auf der Reise machen konnten? Im besten Fall würde Venedig noch viel reicher werden, ja es könnte endgültig die Herrschaft über den Mittelmeerhandel erringen. Im schlimmsten Fall müsste die Stadt Abschreibungen in astronomischer Höhe verbuchen und würde einen großen Teil ihrer Macht einbüßen. Dandolo war klar: Eine wirkungsvolle Strategie musste all diese Unwägbarkeiten berücksichtigen – und im Idealfall in ein Angebot an Villehardouin münden, von dem Venedig in jedem Fall profitieren würde.

Den Abgesandten des Papstes wurde schließlich ein hoher, aber nicht unfairer Preis genannt. Die geforderte Summe belief sich auf 850.00 Kölnische Mark – eine damals in weiten Teilen Europas als Rechengröße akzeptierte Währung. Das entsprach 30 Tonnen Feinsilber und war zu zahlen in drei Tranchen, wovon die höchste, 50.000 Mark, von den Rittern zu Beginn des Kreuzzugs zu hinterlegen war. Wichtig: Dandolo offerierte ein Pauschalangebot. Der Preis war unabhängig von der Anzahl der tatsächlich zu transportierenden Kreuzfahrer. Im schließlich ausgehandelten Vertrag standen zudem weder Angaben über Tragfähigkeit oder Zahl der benötigten Schiffe, noch ließ sich ihm entnehmen, wie die Kreuzfahrer bis zur Abreise untergebracht und versorgt werden sollten. Ein bemerkenswerter Vorteil für Venedig, aber das Vertrauen der päpstlichen Emissäre war offensichtlich groß. So groß, dass ihnen nicht auffiel, dass die Venezianer dabei waren, den Kreuzzug für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Die Kreuzritter staunten über die Großzügigkeit Venedigs

Dandolo und sein Rat planten sorgfältig – und machten sich überdies die schlechte Vorbereitung der Kreuzfahrer zunutze. Eine Taktik, die bis heute oft genug erfolgreich ist: Haben die beteiligten Parteien keine klare Vorstellung von den notwendigen Schritten, kann das beherzte Vorgehen sogar des scheinbar Schwächsten die Wegrichtung der Masse beeinflussen. Dandolos Angebot wurde jedenfalls akzeptiert. Und es ist anzunehmen, dass die Venezianer bereits in der Vertragsgestaltung den Verlauf des Kreuzzuges so geplant hatten, wie er schließlich auch eintraf.

Venedig machte scheinbar großzügige Zusagen. Auch deshalb sollte sich das Vertragswerk später als eine der am besten durchdachten Strategien des Mittelalters erweisen. Nicht nur, dass die Stadt den gesamten Transport übernehmen würde, sie wollte sich am Zug sogar beteiligen. Kein Geringerer als der Doge selbst würde der Passage übers Mittelmeer vorstehen. Zu seinem Schutz würden ohne Aufgeld 50 Galeeren zusätzlich aufgeboten. Außerdem würde Venedig bis zur vollständigen Sammlung des Heeres dessen Unterbringung und Versorgung übernehmen. Als Gegenleistung verlangte die Stadt lediglich eine 50-prozentige Beteiligung an der zu erwartenden Beute.

Welche Großzügigkeit! Die Verhandlungspartner staunten, wohl wissend, dass Venedig auch für sich selbst ein lukratives Geschäft abgeschlossen hatte. Doch das war in Ordnung, längst war es kein Tabu mehr, christliche Heilsgedanken mit materiellen Interessen zu verknüpfen. Die Forderungen der Stadt lagen im Trend der Zeit. Und sie verschleierten geschickt, was der Vertrag auch garantierte: Macht. Dandolo war im Begriff, die Kontrolle über den Zug zu übernehmen. In ihrem religiösen Eifer gingen die Kreuzfahrer stets vom Gelingen ihres Vorhabens aus. Es würde ein gewaltiger Zug werden. Sie würden gewinnen. Der Plan war gut, das heilige Ziel nah, der Vertrag wurde unterschrieben und vom Papst bestätigt.

Der Rest der Geschichte ist rasch erzählt. Natürlich kamen längst nicht so viele Kämpfer nach Venedig, wie Villehardouin veranschlagt hatte. Dandolo ließ sie auf San Niccolo del Lido unterbringen, einer der Inseln vor der Stadt. Die Fährverbindungen von und zu diesem Ort und die gesamte Versorgung unterstanden Venezianern. Damit waren die Kreuzfahrer faktisch, was sie anfangs nicht einmal merkten, in Geiselhaft. Weil das Eintreffen der Kämpfer eher langsam vonstatten ging, verzögerte sich die Abreise mehr und mehr. Je länger die Kreuzfahrer aber warten mussten, desto schwieriger wurde ihre Situation. Sie waren zum Kämpfen angereist, zur Zahlung verpflichtet – und zur Bewegungsunfähigkeit in brütender Hitze und unter miserablen Bedingungen verdammt. Und noch immer hatten sie nicht das vereinbarte Geld aufgebracht: Es waren nicht nur deutlich weniger Ritter gekommen als erwartet. Von denen, die zu Hause geblieben waren, hielten es nur die wenigsten für nötig, sich zumindest finanziell an dem Vorhaben zu beteiligen.

Mit jedem Tag Verzögerung wuchs die Schuldenlast der Ritter – und die Macht der Venezianer. Als die Flotte im Oktober 1202, also anderthalb Jahre nach Vertragsunterzeichnung, endlich in See stach, führte der Weg deshalb nicht Richtung Jerusalem, im Interesse Venedigs wurden zwei Umwege gemacht. Zunächst zogen die Kreuzfahrer gegen die verfeindete dalmatinische Stadt Zara. Deren Bewohner waren zwar Christen, was die Kreuzfahrer entsetzte – Christen erhoben das Schwert gegen Christen! Aber hoch verschuldet und gebunden durch ihr Kreuzzugsgelübde blieb ihnen nichts übrig, als den Weisungen der Venezianer zu folgen. Dandolos Schlacht verlief erfolgreich, also nutzte er die Notlage der Kreuzfahrer unverzüglich für seinen zweiten, den größten Coup aus: Er lenkte den Zug in Richtung Konstantinopel. Mit der unermesslich reichen Kaiserstadt hatte Venedig noch eine alte Rechnung offen.

Als die Kreuzfahrer, angeführt vom venezianischen Dogen, Konstantinopel 1204 nach langem Kampf einnahmen, endete die Geschichte des byzantinischen Reiches. Die Formel, nach der die Schätze der reichsten Stadt der Welt aufgeteilt wurden, ist Geschichte geworden: „Ein Viertel und ein Halb“ der Beute fielen an Venedig. Weil die Kreuzritter den festgelegten Preis nicht hatten zahlen können, waren aus dem ursprünglich vereinbarten 50-Prozent-Anteil am Ende 75 Prozent geworden. Dandolos Vertrag hatte seine Stadt zur reichsten der Welt gemacht, ihr Monopol im Mittelmeerhandel gefestigt und ihr zudem den Schwarzmeerhandel erschlossen. Jerusalem erreichte der vierte Kreuzzug von Papst Innozenz III. nie.

Vier ineinander greifende Prozesse

Strategiefindung unter Unsicherheit gehört zum Alltag jedes Unternehmers, und der Weg zum Ziel lässt sich durchaus strukturieren. Unsicherheit bedeutet nichtUnvertrautheit – man muss den Gegenstand der Unsicherheit zunächst also kennen, um ihn strategisch zu bearbeiten.
Danach gibt es vier Stufen von Rest-Unsicherheit. Auf der ersten sieht die künftige Entwicklung einigermaßen klar aus, die zweite Stufe kennt verschiedene Möglichkeiten künftiger Szenarien. Stufe drei geht von einem ganzen Bündel künftiger Ergebnisse aus, die vierte, sehr selten anzunehmende Stufe von Rest-Unsicherheit, ist tatsächlich Vieldeutigkeit. Rest-Unsicherheit wird durch Gestaltung des Marktes, durch Verzögerung der Gesamtinvestition oder durch den Aufbau eines Portfolios bewältigt. Dabei stehen Entscheidungsgeschwindigkeit und Handeln an oberster Stelle. Risikofreude kann weniger verlustreich als Anpassung sein. Wer handelt, platziert sich am Markt.
Im ersten Level gibt es nach dieser Einschätzung also keine Unsicherheit. Und wo kein Risiko ist, wird auch kein Risikomanagement benötigt. Auf Level zwei, bei alternativen Zukunftsszenarios, ist Hedging das Mittel der Wahl – man sichert sich nach beiden Seiten ab. Im dritten Unsicherheits-Level gilt es, der Menge von möglichen Szenarien durch Diversifikation zu begegnen. Für Level vier, die Vieldeutigkeit, ist Hedging nicht machbar und Diversifikation zu teuer. Hier muss deshalb mit einer Absicherung gearbeitet werden, um das Worst-Case-Szenario mit einem optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnis zu lindern.

Strategiefindung unter Unsicherheit erfordert also vier ineinander greifende Prozess-Schritte:
1. Definition des Problems und des Levels von Unsicherheit,
2. Generierung von strategischen Wahlmöglichkeiten,
3. Analyse möglicher Lösungen sowie die Entscheidung für eine Strategie,
4. Kontrolle und Erneuerung der Strategie während der Ausführung.

Das Thema Entscheidung unter Unsicherheit können Sie auch nachlesen in: Hugh Courtney: 20/20 Foresight. Harvard Business School Press, Boston Massachusetts, 2001; 224 Seiten; 28,68 Euro.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.