Hurra, wir leben noch

Nichts schien unmöglich. Sie wollten die Welt verändern. Hoffnungsvoll und enthusiastisch sind sie gestartet, haben Neues ausprobiert – und ihre Ideen scheitern sehen. Jetzt sind sie zurück in der so genannten alten Wirtschaft. Ernüchtert. Aber nicht entmutigt.




„Es ist ein großer Vorteil im Leben“, behauptete der britische Premierminister Winston Churchill, „die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst frühzeitig zu machen.“ Wenn das wahr ist, tummeln sich heute eine ganze Menge Leute mit enormen Vorteilen in der Wirtschaft. Sie werden „Boomeranger“ genannt, weil viele von ihnen in der so genannten Old Economy gestartet und nach einem New-Economy-Crashkurs auch wieder in der guten alten Wirtschaft gelandet sind – nicht in allen Fällen sanft, übrigens. In den vergangenen zwei Jahren bekamen sie immer wieder zu hören, warum das, was sie um die Jahrtausendwende herum versucht hatten, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Wieso etwas, das am Neuen Markt gehypt wurde, nie zu mehr als einem Hype taugte. Weshalb sie, die jungen Protagonisten der Neuen Wirtschaft, heute manchmal ziemlich alt aussehen. „Es gibt eine Regel“, sagt der Ex-Deutschland-Geschäftsführer der Crash-Company Boo.com, Christoph Vilanek. „Sie lautet: Die Feigen und Vorsichtigen, die damals nichts gewagt haben, sind heute diejenigen mit den guten Jobs.“

Wenn man allerdings genauer hinsieht, verfügen gerade die Wagemutigen von gestern über Aussichten auf beste Jobs – falls sie sie nicht bereits haben. Denn zu Asche zerfallen sind Unternehmen und Börsenwerte der New Economy, nicht aber ihre Organisationsprinzipien und Erfahrungen. Die lassen sich nutzen als Treibsätze für die Transformation traditioneller Unternehmen. „Als langfristig reformierende Kraft darf man die New Economy nicht unterschätzen“, meint Michael Hansen, Leiter Corporate Development bei der Bertelsmann AG. Flexible Netzwerke schlagen immer noch träge Großkonzerne. Flache Strukturen sind schneller als vertikale. Verantwortungsvolle Mitarbeiter sind kreativer und produktiver als die klassischen Befehlsempfänger. Unter den Bedingungen einer globalen, vernetzten Wirtschaft nimmt der Veränderungsdruck auf traditionelle, starre Unternehmen jeden Tag zu. „Jede Ecke der Old Economy wird ausgekehrt“, prophezeit Arnold Picot, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Leistungssteigerung der Technik werde noch zehn bis zwanzig Jahre andauern, bis es zu einer Balance zwischen den Prinzipien der Old und der New Economy komme. Es gehört daher nicht allzu viel Weitsicht dazu, um vorauszusagen, dass die Gestrandeten der New-Economy-Welle zu den Antreibern dieser Entwicklung werden. Eine Generation, die binnen kurzer Zeit mehr Erfahrungen sammeln musste als andere in ihrem gesamten Berufsleben, geht nicht so einfach unter. „Wir beobachten in vielen Unternehmen, dass Protagonisten der so genannten New Economy in die Vorstandsetagen einrücken“, sagt Magnus Graf Lambsdorff, Consultant bei der Personalberatung Egon Zehnder International und selbst ehemaliger Dotcom-Manager. Diese Entwicklung werde sich in den kommenden vier, fünf Jahren vermutlich weiter verstärken.

„Im Prinzip wären wir reif für die nächste Gründerwelle, angetrieben durch den Drive von gestern, gepaart mit dem Realitätssinn von heute“, meint auch Geert Peeters, früher Vice President Marketing von Canbox, heute Projektmanager bei T-Online. Und Churchill? Der definierte Erfolg als „die Fähigkeit, von Fehler zu Fehler zu gehen, ohne seinen Enthusiasmus zu verlieren“. So gesehen, dürften die Gescheiterten von gestern zu den wirklich Erfolgreichen von morgen zählen.

Der Ernüchterte

Geert Peeters, 37, arbeitete vor seinem Canbox-Engagement als freier Kommunikationsberater in Berlin. Heute ist er Projektmanager bei T-Online.

„Mein erster Arbeitstag bei Canbox* war der 13. Dezember 1999, ein Montag. Ich entsinne mich deshalb so genau an das Datum, weil man mich bereits an meinem dritten Arbeitstag fragte, ob ich nicht Lust hätte, die Investor Relations und Kommunikation für den Canbox-Börsengang vorzubereiten. Unser Going Public, so viel war nach den ersten Telefonaten mit potenziellen Konsortialbanken klar, sollte bereits Mitte März des folgenden Jahres stattfinden.

Ein Börsengang! Binnen drei Monaten! Vorzubereiten von Managern, die – zumindest, was meine Wenigkeit betraf – bis dato mit der Börse null Erfahrung hatten! So viel nur zur Frage, welche Art von Erfahrungen die New Economy bot: Sie waren berauschend. Schwindel erregend. Absolut atemberaubend.

In diesen drei Monaten mussten wir vom Beauty Contest bis zum Börsenkatalog alles perfekt machen, was nichts anderes bedeutete, als dass unser kleines Managementteam sieben Tage die Woche bis zu 20 Stunden pro Tag durcharbeitete. Niemand von uns wäre allerdings auf die Idee gekommen, es Arbeit zu nennen oder mehr Freizeit einzufordern. Es war ein Schnellkochtopf für Managementerfahrung, in den wir uns begeben hatten, und wir genossen das Agieren unter Hochdruck. Wir traten in eine Welt ein, zu der eigentlich nur langjährige, gestandene Manager Zugang hatten, und lernten, dass man unglaublich viel bewegen kann, wenn man Kompetenz und Motivation zusammenbringt.

Mit zwei Jahren Abstand kann ich sagen, dass es völlig unrealistisch war, zu glauben, dass so etwas langfristig gut gehen könnte. Zu viele First Mover, zu wenige Second Thoughts. So gesehen, war der Crash das Beste, was mir, was uns allen, was der Wirtschaft überhaupt passieren konnte. Der Absturz koppelte hochfliegende Visionen an nüchterne Realität. Bei T-Online, meinem neuen Arbeitgeber, müssen meine Ideen heute ein zweites Netz passieren, bevor sich überhaupt irgendjemand an die Umsetzung macht. Das verlangsamt die Prozesse ein wenig, aber es gibt auch Sicherheit. Es hilft Fehler zu vermeiden. Was wir früher als „unnötige Bürokratie“ ablehnten, empfinde ich heute als absolut notwendiges Controlling.

Die meisten meiner alten Kollegen sehen das übrigens genauso. Und wenn ich hier bei T-Online herumlaufe, sehe ich lauter bekannte Gesichter von damals. Im Prinzip wären wir damit reif für die nächste Gründerwelle – angetrieben vom Drive von damals und geleitet durch den Realitätssinn von heute. Ich glaube, es wäre eine Erfolg versprechende Kombination.“

* Die Canbox Systems AG war Unified-Messaging-Anbieter und Wettbewerber von GMX und Web.de

Der Erbe

Alexander Falk, 33, war Erbe des Verlags, der durch seine patentierten Faltpläne von Städten weltbekannt wurde. Als Jungunternehmer im Internet- und Mobilfunkgeschäft glückten ihm in der Boom-Phase der New Economy einige große Deals. Seit vergangenem Jahr hält er 75 Prozent der Anteile des Broker-Hauses Hornblower Fischer AG und ist dessen Aufsichtsratsvorsitzender.

McK: Herr Falk, Sie sind in die Old Economy hineingeboren worden, haben zwei New-Economy-Unternehmen aufgebaut und widmen sich mit Hornblower Fischer der Umstrukturierung einer eher traditionellen Firma. Sie haben also jede Menge Erfahrungen in beiden Ökonomien. Welche waren die interessanteren?

Alexander Falk: Der Falk-Verlag – um bei meinem ersten Unternehmen zu beginnen – war in Bezug auf den Corporate Spirit sehr konservativ und dogmatisch. Er besaß so gut wie keine Innovationskraft. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich ihn verkauft habe, mit Ausnahme der Entwicklungsabteilung für digitale Kartografie.

Weil Sie überzeugt waren, dass „in 20 Jahren nur noch ein paar Exoten mit gedruckten Stadtplänen herumlaufen“ werden, wie Sie damals prophezeit haben. Inzwischen sind acht Jahre vergangen, und es rennen immer noch ziemlich viele Menschen mit Stadtplänen herum.

Tja, es dauert vielleicht etwas länger als gedacht, weil die Geräte, die einen Stadtplan ersetzen, relativ hohe Übertragungsbandbreiten benötigen. Sobald wir die haben, schlägt auch das letzte Stündlein des Stadtplans als Massenprodukt. Da bin ich ganz sicher.

Die Ision Internet AG, die Sie nach Ihrem Ausstieg bei Falk aufgebaut und dann für viel Geld verkauft haben, ist heute nur noch einen Bruchteil des Verkaufspreises wert. Einigen gelten Sie daher als klassischer Prototyp des New-Economy-Glücksritters, der an der Börse Kasse macht und dann das Weite sucht.

Das sehe ich anders, denn mir ist es ja gelungen, nicht nur für mich, sondern auch für zumindest einen Teil der Aktionäre hohe Gewinne zu erzielen.

Was bleibt für Sie, außer Verkaufserlösen, von der New Economy?

Es gibt zwei Komponenten, die Sie, sobald unsere Umstrukturierung abgeschlossen ist, auch bei Hornblower Fischer wiederfinden werden. Zum einen hat die New Economy gezeigt, was möglich ist, wenn Mitarbeiter wirklich begeistert sind, was man also mit teamorientierter Mitarbeiterführung und Corporate Spirit erreichen kann. Wirklich vorbildlich war auch die beständige Überprüfung der Geschäftsmodelle, der Versuch, skalierbare Unternehmensstrukturen aufzubauen und das Verständnis von Customer Ownership. Natürlich hat die New Economy all das nicht erfunden, und in den meisten Fällen hat sie ihre Ziele auch nicht erreicht. Aber sie bildete einen klaren Kontrast zur selbstgefälligen, dogmatischen Art der Unternehmensführung, wie sie viele deutsche Großkonzerne pflegten.

Gibt es Merkmale jener Ära, die Sie heute vermissen?

Mir hat die breite Demokratisierung des Kapitalismus gefallen. Im Prinzip bekam ja jeder, der intelligent war, über eine gute Idee und Unternehmergeist verfügte, auch das Geld, um diese Idee umzusetzen. Dadurch wurden diejenigen bestraft, die satt und zufrieden im Sessel saßen, anstatt etwas zu unternehmen.

Im Moment ist es für Gründer allerdings schwerer als zuvor, an Geld zu kommen.

Ja, leider. Man muss sich mal in Erinnerung rufen, dass der Neue Markt 1997 als Wachstums- und Risikosegment der Deutschen Börse gegründet wurde, also per definitionem als riskantes Anlagefeld konzipiert war. Das haben die Leute nur übersehen. Denen galt der Neue Markt als Einbahnstraße ins Aktionärsglück. Ihre Enttäuschung hat die Aktionäre heute aber leider vergessen lassen, wie wichtig ein Risikosegment an der Deutschen Börse wäre. In den USA und Großbritannien läuft es glücklicherweise anders. Der Londoner Alternative Investment Market hat gerade eine Offensive Richtung Deutschland gestartet, um deutsche Wachstumsunternehmen am AIM zu listen. Das könnte wieder zu mehr Freiheit für Ideen führen.

Der Boo-Mann

Christoph Vilanek, 35, war bei Boo.com Geschäftsführer des deutschen Ablegers. Nach dem Crash wechselte er zu Ravensburger Interactive. Heute ist er Berater bei McKinsey.

Wenn der Neue-Markt-Crash ein Hurrikan war, dann war die Pleite von Boo.com jener heftige Hagelschauer, mit dem sich derartige Katastrophen anzukündigen pflegen. „Boo Day“ wird heute (in Anlehnung an den D-Day, die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944) jener Tag im Mai 2000 genannt, an dem nicht nur für den Londoner Internet-Modehändler der Anfang vom Ende begann. Zu diesem Zeitpunkt waren von knapp 200 Millionen Euro Investorengeldern gerade noch 500.000 in der Kasse. Die Firma, deren Gründer die „Philosophie der drei Cs“ (Champagner, Concorde, Caviar) gelebt hatten wie wenige andere, schaltete ihre Server ab.

„Boo.com war die Inkarnation des Allmachtstraumes der New Economy“, sagt Christoph Vilanek, damals „Employee No. 13“ und Geschäftsführer der Überflieger-Company in Deutschland. Ein paar Tage nach dem Crash besuchte er in München eine Party und trug dabei ein T-Shirt, das einen Bungee-Springer zeigte und darunter den Satz: „Boo.com – I did it“. Der 35-jährige Innsbrucker erinnert sich an „jede Menge Leute in der Szene, die uns erzählen wollten, warum es gar nicht hatte funktionieren können. Vier, fünf Monate später sah alles schon ganz anders aus. Da ahnten die meisten, dass es auch für sie sehr schwer würde.“

Längst sind die Wolken abgezogen und die gröbsten Trümmer beseitigt. Für Vilanek blieben nicht viel mehr als bruchstückhafte Erinnerungen. Die berühmte Netzwerkstruktur der New Economy? „War Teil der Blase. Funktionierte nur kurzfristig. Sobald es hart auf hart kam, fand plötzlich jeder Netzwerkpartner heraus, dass er übervorteilt worden war.“ Die beispiellose Dynamik? „Führte zu übereilten, verhängnisvollen Entscheidungen.“ Flache Hierarchien, kurze Wege? „Großer Irrtum. Systematik, Hierarchien und Organisation lassen sich nicht durch intelligente Software und motivierte Mitarbeiter ersetzen.“ Immerhin, die Szene sei von einem unglaublichen Gründergeist getragen gewesen, „doch den kann man in alteingesessenen Firmen auch etablieren. Ein paar Strukturen herausnehmen, Hierarchien glätten – und plötzlich entsteht selbst in überaus traditionellen Unternehmen eine ganz andere Motivation.“

Vilanek erzählt all das abgeklärt, distanziert, wie geläutert. Bei ihm klingt es, als sei der Neue-Markt-Rausch eine Ewigkeit her. Und in der Zeitrechnung der New Economy ist er das ja auch. „Trotzdem“, meint der 35-Jährige, der nach einem Intermezzo bei „Ravensburger Interactive Media“ heute für McKinsey & Company Klienten berät, „würde ich es jederzeit wieder machen. Die New Economy hat mich Dinge gelehrt, die ich nirgendwo sonst hätte lernen können. Ich war am Anfang und am Ende dabei. Ich habe die gleichen Leute entlassen müssen, die ich zuvor selbst eingestellt hatte. Ich weiß um die Grenzen. Das ist eine Erfahrung, die mein Denken, Handeln und Führen bis heute bestimmt.“

Die Überlebende

Martha Lane Fox war gerade 25 Jahre alt, als sie 1998 zusammen mit Brent Hoberman, damals 28, den Online-Reisevermittler Lastminute.com gründete. Beim Börsengang zwei Jahre später war ihre Aktie 47-fach überzeichnet. Fox wurde von der Presse gefeiert. Mittlerweile hat sich der Jubel gelegt. Die Aktie notiert bei etwa einem Viertel ihres Ausgabewerts, aber Lastminute.com gibt es noch. Das Londoner Unternehmen tätigte im vorigen Geschäftsjahr Transaktionen für 246 Millionen Pfund, beschäftigt 900 Menschen in zwölf Ländern und ist mittlerweile Europas meistbesuchte Reise-Website.

McK: Miss Fox, stört es Sie, wenn Sie heute als eine Art Überlebende der New Economy herumgereicht werden?

Martha Lane Fox: Stören nicht, aber es ist schon eine seltsame Sichtweise. Wenn man ein Unternehmen führt, denkt man nicht an gestern, sondern an die nächsten drei Monate und wie man in dieser Zeit das Wachstum bewältigen will. Wir stehen noch am Anfang unserer Reise; die allererste, aufregende Etappe liegt gerade mal hinter uns. Da bleibt keine Zeit für Nostalgie.

Immerhin gilt es schon als mittlere Sensation, dass ein Dotcom wie Ihres nach fünf Jahren noch am Markt ist.

Noch so eine seltsame Sicht der Dinge. Klassischerweise bringt jede neue Industrie zwei oder drei Gewinner hervor, nicht aber tausende von Traumfirmen. 80 Prozent aller neuen Geschäftsideen scheitern, ganz unabhängig davon, ob sie zur Old oder New Economy zählen. Wir gehören glücklicherweise zu den restlichen 20.

Was haben Sie anders gemacht? Warum haben Sie es geschafft?

Entscheidend dürfte gewesen sein, dass unsere Geschäftsidee wirklich eine echte Internet-Geschäftsidee war, die ohne das Web gar nicht möglich gewesen wäre. Genauso ist es mit Ebay und Google – die haben mit den Möglichkeiten der neuen Technologie wirklich völlig neue Marktplätze kreiert. Viele gescheiterte Dotcoms hingegen haben einfach versucht, Geschäftsideen aus der realen in die virtuelle Welt zu übertragen. Um hippe Klamotten zu kaufen, besuche ich aber die Boutique nebenan und nicht Boo.com.

War es für Sie je von Nachteil, mit der New Economy assoziiert zu werden?

Eigentlich nicht. Obwohl: Als unsere Aktie unter ihren Ausgabekurs fiel, erhielt ich Woche für Woche 2000 bis 3000 E-Mails von Aktionären, und die Art und Weise der Beschimpfungen war unglaublich. Es dauerte ein bisschen, bis die Leute kapiert hatten: Nicht Lastminute.com war zusammengebrochen, sondern der Aktienmarkt.

Sie haben Allan Leighton, den ehemaligen Chef des Einzelhandelsriesen Asda, als Non-Executive Chairman für Lastminute.com gewinnen können. Steht dessen Verpflichtung für das Vertrauen, das Ihnen die so genannte Old Economy mittlerweile entgegenbringt?

Allan ist bereits seit fast drei Jahren bei uns. Nach meiner Erfahrung sind ernsthafte Geschäftsideen wie unsere immer ernst genommen worden. Es gab sicher ein paar Leute, die es merkwürdig fanden, mit jemandem wie mir zu verhandeln, der viel jünger war als sie selbst. Aber das wäre in keiner Branche anders gewesen. Die Zweiteilung der Welt in New und Old Economy ist eine Erfindung.

Tatsächlich? Und was ist mit all den Firmen, die zwischen 1998 und 2000 auf den Neuen Markt drängten?

Im Prinzip streben alle Unternehmen das Gleiche an: stärkere Umsätze, kontrollierbare Kosten und wachsende Profite. Der einzige Unterschied zwischen Internet-Companies und den klassischen Firmen ist, dass wir gerade erst angefangen haben. Wir versuchen noch herauszufinden, welche Geschäftsmodelle in unserer Branche auf Dauer tragen und welche nicht. Was die Gesetze des Geschäfts oder die Art und Weise, ein Unternehmen zu führen, betrifft, kann ich keine nennenswerten Differenzen erkennen.

Und was ist mit dem Netzwerkgedanken, mit flachen Hierarchien statt starrer Strukturen?

Flache Hierarchien findet man heute in beiden Lagern, und für jede Firma besteht die Kunst darin, die für ihre Unternehmensgröße adäquaten Strukturen zu finden – besonders, wenn man, wie wir, jedes Jahr um 50, 60 Prozent wächst. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal länger als sechs Monate die gleichen Strukturen gelebt hätten.

Gibt es Dinge aus der Anfangszeit, die Sie heute vermissen?

Ein börsennotiertes Unternehmen mit 900 Leuten zu führen ist schon etwas anderes als ein kleines Start-up. Es bedeutet zum Beispiel, nicht mehr jedem erzählen zu dürfen, was wir mit der Firma vorhaben und was gerade irgendwo im Unternehmen passiert. Manchmal vermisse ich die Zeiten, in denen die ganze Company in einem Raum zusammensaß und enthusiastisch die Pläne für die nächste Zukunft diskutierte.

Der Spieler

Tobias Zwingmann, 29, begann seine New-Economy-Karriere im Frühjahr 1998 bei Amazon.com in Seattle, wechselte 1999 zur Verbraucherplattform Dooyoo und ist seit Anfang 2002 Marketingmanager bei der HUK24 in Coburg.

„Sagen wir es mal so: Es war eine große grüne Spielwiese, auf der jede Menge Platz für Ideen und das Ausprobieren blieb und auf der lange Zeit niemand nach Abschlüssen oder konkreten Ergebnissen fragte. Das machte sie so aufregend, wunderbar und mitreißend. Und das war gleichzeitig jene Eigenschaft, der sie schließlich zum Opfer fiel.

Ohne diesen Freiraum hätte niemand die Chance gehabt, neue Teamstrukturen und Geschäftsmodelle im Echttest auszuprobieren, Schwächen zu erkennen und so weit zu verbessern, dass sie heute für weite Teile der Wirtschaft attraktiv sind und übernommen werden. Nur auf der Spielwiese ließen sich interaktive Marketingkonzepte fürs Internet ausprobieren, Instrumente, die wir heute jeden Tag für unser traditionelles Unternehmen einsetzen.

Und weil damals nichts unmöglich schien, entstand diese Haltung, die man nicht mehr verlernt: wenig als gegeben zu akzeptieren, alles in Frage zu stellen und zu überlegen, ob man es nicht auch anders, besser machen kann. Es ist die Haltung, aus der Innovationen entstehen. Heute ist die Spielwiese in vielen Abschnitten aufgekauft, zum größten Teil einfach abrasiert worden. Die Teams, die tatsächlich überlebt haben, schießen ihre Tore heute für die professionellen, etablierten Vereine. Und davon profitieren sowohl die Clubs als auch die Spieler, in jeder Sekunde des Spiels.

Der Rückkehrer

Magnus Graf Lambsdorff, 41, stieg im Februar 2000 für elf turbulente Monate beim Ticketbroker Tallyman ein.
Heute steht sein Schreibtisch – genau wie vor dem Tallyman-Abstecher – bei der Personalberatung Egon Zehnder an der Hamburger Außenalster.

Er spricht langsam, wohl überlegt, distinguiert. Er trägt Seitenscheitel, einen grauen Dreiteiler unter dem Fischgrätmantel, Ehering. Er ist ein Neffe jenes Otto Graf Lamsdorff, den jeder kennt. Er ist 41 Jahre alt und arbeitet bei Egon Zehnder International, einem Unternehmen in Hamburg, das, wie er selbst sagt, als „Inkarnation des Seriösen“ bekannt ist. Kann man sich einen vornehmen Mann wie diesen in einer zusammengezimmerten Start-up-Klitsche vorstellen? Als Senior unter „einer Handvoll Chaoten, darunter zwei Vollfreaks mit Haaren bis zum Po, die genial im Programmieren, aber kommunikativ nicht gerade talentiert“ waren? Mit 18-Stunden-Tagen und Sechs-Tage-Wochen? Niemals. Nicht einmal er selbst konnte es. Aber genau so war es.

Am 1. Februar 2000 quittierte Magnus Graf Lambsdorff seinen Job als gut bezahlter Personalberater bei Egon Zehnder und zog von der Außenalster ans andere Ende der Hansestadt, als Vorstandsvorsitzender der Ticketpreisagentur Tallyman AG. Größer konnte der Kontrast nicht sein: Hier die angesehene internationale Beratungsfirma, die jeden Aspiranten durch 40 Interviews in drei, vier Länder scheucht, bevor sie ihm überhaupt ein Angebot unterbreitet. Dort die vier Monate junge Aktiengesellschaft, deren Belegschaft binnen Wochen zusammengetrommelt worden war und im Durchschnitt gerade mal 25 Jahre zählte. Lambsdorff war der Einzige, der älter war als 35, der Einzige mit Familie, der Einzige mit profunder Managementerfahrung.

Kein Wunder, dass einige von Lambsdorffs alten Kollegen verständnislos den Kopf schüttelten. Er hatte doch beste Aussichten. Er stand unmittelbar vor der Aufnahme in den Kreis der Partner. Eine solche Chance schlug man nicht leichtfertig in den Wind. Doch dieses „hoch spekulative unternehmerische Abenteuer“, der Thrill, aufs Gründerkarussell aufzuspringen, das sich in diesen Tagen immer schneller zu drehen begann, reizte ihn zu stark. Vielleicht auch deshalb, weil er nicht wirklich ahnte, was da auf ihn zukam.

Bei Tallyman ging es jeden Tag rund. „Die ersten vier, fünf Monate waren ein einziges wütendes Nach-vorne-Stürmen. Unser Vorbild war Ricardo. Unser Ziel hieß: Börsengang, so schnell wie möglich. Unser Tempo war enorm.“ Binnen drei Monaten schlossen Lambsdorff und sein Team Kooperationsverträge mit 44 internationalen Airlines. Tallyman rückte unter die ersten fünf deutschen Ticket-Sites vor. Die „Vollfreaks“ programmierten eine Buchungs-Software, um die sie die gesamte Reisebranche beneidete. Sogar in den Werbepausen bei „ran“ liefen in dieser Zeit Tallyman-Spots. „Es war unglaublich“, sagt Lambsdorff, „und keiner hat geglaubt, dass es so schnell wieder zu Ende gehen würde.“

Es schien alles so klar: Priceline.com, das Vorbild aus den USA, wurde 1999 an der Börse zeitweise mit 17 Milliarden Dollar bewertet. Das Business-Modell – Vermittlung von Flugtickets zu Preisen, die die Kunden bestimmen – stimmte. „Es stimmt noch heute“, sagt Lambsdorff, „wie so viele Business-Modelle der New Economy im Prinzip richtig waren. Nur kamen sie zur falschen Zeit.“ Priceline, das fast zwei Jahre vor Tallyman gestartet war, setzt heute eine Milliarde Dollar pro Jahr um.

Von Tallyman blieb nichts als der Name. „Mitte des Jahres merkten wir, wie sich das Klima abkühlte. Potenzielle Geldgeber bekamen kalte Füße. Die Banken redeten nicht mehr vom Börsengang. Wir liefen nur noch dem Geld hinterher. Wir waren einfach zu spät gestartet.“ Den Herbst 2000 verbrachte Lambsdorff mit verzweifelten Versuchen, eine Insolvenz zu verhindern. Das gelang, weil die Lufthansa die Booking-Engine abkaufte. Ende Dezember 2000 fuhr ein Schrotthändler beim Tallyman-Büro vor und holte die letzten Tische und Stühle ab. Da war alles vorbei.

Oder etwa nicht? Nein, sagt Lambsdorff, „auch wenn es viele anders sehen: Die New Economy lebt. Die Blase ist geplatzt, aber die Essenz, die Art des Umgangs, die Bereitschaft zu Kooperationen, das Teilen von Informationen, das Wissen, dass man nie vor Revolutionen gefeit ist, das ist geblieben. Heute sehe ich überall die Protagonisten der New Economy in die Vorstandsetagen der alten Deutschland AG einrücken. Der Prozess wird sich fortsetzen, und diese Leute haben wirklich die Chance, etwas zu verändern: mit dem Enthusiasmus der New Economy und dem Wissen, woran sie gescheitert ist.“

Ein Jahr nach seinem Weggang kehrte Graf Lambsdorff zu seinem alten Arbeitgeber zurück. „See it as a maternity leave“, riet ihm ein erfahrener Partner, nimm’s als Erfahrung, wie einen Mutterschaftsurlaub. „Ich hatte das Gefühl, nie von hier weg gewesen zu sein. Ich habe gemerkt: Hier gehöre ich her. Bei Tallyman war ich im Grunde immer ein Fremdkörper.“

Der Berater blickt zur Decke. Es klingt alles so weit weg. Vor zehn Tagen haben sie ihn zum Partner gewählt, mit großer Mehrheit und unter Anrechnung aller Verdienste, die er sich vor seinem kurzen Ausstieg ins New-Economy-Abenteuer erworben hatte. Jetzt ist er einer von 140 Teilhabern. Nach dem Selbstverständnis der Firma gilt solch ein Commitment ein Leben lang. Es ist ein Stück langweiliger. Aber es ist auch ein Stück sicherer.

Der Bertels-Mann

Michael Hansen, 41, ist Leiter Corporate Development bei der Bertelsmann AG in New York.
Hansen arbeitete von Ende 1999 bis Mai 2001 als Europa-Manager beim IT-Dienstleister Proxicom in Reston, Virginia, heute Teil der südafrikanischen Dimension Data.

McK: Herr Hansen, vor gut 30 Jahren ist in Deutschland schon einmal eine Generation mit ziemlich hochfliegenden Utopien dramatisch gescheitert, um dann langsam, aber sicher doch noch Staat und Gesellschaft zu durchdringen. Was glauben Sie: Wiederholt sich die Geschichte?

Michael Hansen: Beim Vergleich mit der 68er-Generation fallen in der Tat einige interessante Analogien auf. Wie es aussieht, werden sowohl die Errungenschaften der New Economy als auch die Lehren aus ihren Misserfolgen unsere Wirtschaft immer weiter durchweben. Einer der Fehler der Neuen Wirtschaft bestand ja zum Beispiel darin, Mitarbeiter und Kunden mit der Geschwindigkeit des Wandels zu überfordern. Heute wissen wir: Was sich am langsamsten verändert, sind die Menschen. Es gibt keinen Schalter, den man nur umlegen muss, und schon verwandelt sich eine hierarchische Organisation in ein flach vernetztes Team. Auch das Kaufverhalten von Konsumenten verändert sich nur graduell.
Aber: Es verändert sich. Dieser Transformation kann sich heute niemand mehr entziehen. Nehmen wir etwa jene radikale Kundenfokussierung, die Dotcom-Überlebende wie Yahoo, Amazon.com und Ebay so erfolgreich gemacht hat. Dieser Umgang mit Klienten setzt wirklich Maßstäbe. Heute muss sich jedes Einzelhandelsunternehmen überlegen, wie es Kunden stärker bindet und wie es Technologien einsetzen kann, um dieses Ziel zu erreichen.

Ihr Unternehmen hat sich allerdings gerade partiell wieder von den neuen Technologien verabschiedet.

Das stimmt, unser Versuch, mit Bol.com einen Wettbewerber gegen Amazon.com aufzubauen, ist beendet. Aber heißt das auch, dass für Bertelsmann das Thema E-Commerce passé ist? Keineswegs. Unser Kerngeschäft ist das Buchclub-Geschäft, und das erweitern wir fortlaufend mit Internet-Technologien. Jeder Bertelsmann-Buchclub hat heute seine eigene Website, und die werden von den Mitgliedern mittlerweile sehr, sehr häufig genutzt.

Nun gibt es einige Leute, die sagen: Die New Economy bildete nicht nur eine Blase an der Börse, sondern auch eine in den Köpfen – in Wirklichkeit habe es sie nie wirklich gegeben.

Wenn man über die Bewertungsexzesse redet, war die New Economy in der Tat ein weithin von Medien und Wall Street geschaffenes Phänomen. Aber als langfristig transformierende Kraft darf man sie nicht unterschätzen. Ein Beispiel: Es war früher extrem teuer, Kunden oder Mitarbeitern detaillierte, auf sie zugeschnittene Informationen zur Verfügung zu stellen. Heute kann ich das individuell und zugleich standardisiert, also zu vertretbaren Kosten hinkriegen. Und das hat weitreichende Folgen für die Struktur von Unternehmen, für den Multi-Channel-Ansatz in der Kundenkommunikation, für die Kundenbindung und schlussendlich für die Profitabilität von Unternehmen.

Heißt das: Das Ziel war richtig, nur der Weg war falsch?

Das Modell stimmte in den Grundzügen, seine Umsetzung fiel allerdings zu extrem und zu schnell aus. Im Moment schlägt daher das Pendel stark in die andere Richtung aus. Spätestens in ein paar Jahren werden wir uns jedoch auf einem Mittelweg wiederfinden. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass wir in Großunternehmen dauerhaft wieder zu den alten, sehr hierarchischen Strukturen zurückfinden werden. Auch die Bereitstellung von Incentives für Mitarbeiter, die zu Hoch-Zeiten des Börsenhypes leider einige Auswüchse annahm, ist im Prinzip vernünftig. Und gute Unternehmen stellen sich schon heute darauf ein.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.