Zeit der Zeugnisse

Die meisten Lehrer glauben zu wissen, was guter Unterricht ist. Aber wissen sie es wirklich? Und selbst wenn: Ist gut wirklich gut genug? Niedersachsen will es genau wissen und überprüft deshalb akribisch die Qualität seiner Schulen. Seit etwa anderthalb Jahren sind die Inspektoren jetzt unterwegs, sie besuchen jede Einrichtung im Land. Protokoll einer nicht einfachen Prüfung.




LEIBESÜBUNGEN

Es ist eine Sportstunde, wie man sie sich nicht wünscht für sein Kind. Die Schüler traben im Kreis durch die Turnhalle. Manche laufen drei Minuten, mehr schaffen sie nicht, manche eine Viertelstunde. Während die Klassenkameraden im Kreis joggen, sitzen die Kurzatmigen untätig in der Mitte der Halle herum, erst keuchend und schwitzend, dann frierend. Fünf Minuten, zehn Minuten. Es ist kalt in der Halle. Die Kinder langweilen sich. Einige laufen wieder los, weil das Rumsitzen ihnen zu öde ist, andere gehen pinkeln oder zu ihren Getränkeflaschen. Jeder macht seins. Die Lehrerin lässt es geschehen.

Auf der Tribüne sitzt eine Frau und malt mit einem Bleistift Kringel auf einen Bogen Papier. „Unterrichtsbeobachtungsbogen“ steht darauf. Ellen Raith, Inspektorin in Diensten der Niedersächsischen Schulinspektion, erstellt ein Qualitätsprofil genau dieser Unterrichtsstunde, der Sportstunde einer sechsten Hauptschulklasse aus Niedersachsen. Der Name der Schule soll hier nicht genannt werden.

Bei insgesamt 20 Teilkriterien setzt die Inspektorin ihre Qualitäts-Kringel. Sie kann ein Doppelplus vergeben (trifft in besonderem Maße zu), ein Plus (trifft zu) oder ein Minus (trifft nicht zu). Bei „Die Unterrichtszeit wird lernwirksam genutzt“ vergibt sie ein Minus. „Die meisten Schüler haben sich in der Stunde gerade mal fünf Minuten bewegt“, sagt sie später beim Rausgehen. Ihr Blick fällt auf die immer noch untätig dasitzenden Schüler, dann auf den Beobachtungsbogen. „Der Lernprozess ist deutlich strukturiert“, steht da. Auch ein Minus.

Die Lehrerin erklärt den Kindern inzwischen die Regeln von „Völkerball verkehrt“. Das ist jene Variante des Ballspiels, bei der bis auf die zwei Spieler im Feld anfangs alle nur dastehen und sich den Ball zuwerfen. Weil die Sportlehrerin die Spielregeln erst erklärt, als alle schon auf ihren Positionen stehen und sich laut unterhalten, muss sie brüllen. Verstanden wird sie trotzdem nicht. Wieder ein Kringel, wieder ein Minus, diesmal bei „Die Lehrkraft trägt durch ihr Auftreten im Unterricht zu einer lernwirksamen Arbeitsatmosphäre bei.“ Nach 20 Minuten hat Ellen Raith alle Kringel gesetzt. Zwölfmal bei Minus, achtmal bei Plus. Sie hat genug gesehen.

DER SCHUL-TÜV KOMMT

Die Inspektoren kommen zu zweit, manchmal zu dritt. Mit dicken Aktenordnern und Laptops rücken sie an. „Der Schul-TÜV kommt!“, raunt es schon Wochen vorher über die Flure, als breche eine biblische Plage über die Schule herein. Sie klopfen an die Klassentüren, setzen sich in eine hintere Ecke, sehen zu, hören zu. Sie sagen nichts. Im Fall der Hauptschule sind es 26 Visitationen in drei Tagen. Der Zeitplan der „Einsichtnahmen“, so heißt das korrekt, ist geheim. Kein Lehrer weiß, wann der Inspektor kommt. Die Prüfer wollen keine Show-Stunden bewundern, sondern alltäglichen Unterricht erleben.

Seit 2005 lässt Niedersachsens Kultusminister Bernd Busemann (CDU) seine Inspektoren durch die Klassenräume streifen. Kein anderes Bundesland hat seinen Schulen bislang ein derart strenges und umfassendes Qualitätsprogramm verordnet. Nach einem einheitlichen Katalog von 16 Kriterien und etwa 100 Teilkriterien überprüfen die Inspektoren nach und nach alle Schulen des Landes. Im Fokus stehen die Qualität des Unterrichts und das schuleigene Curriculum, aber auch Schulklima und Schulleben, Eltern- und Schülerbeteiligung, Schulmanagement und Förderkonzepte.

Die Visite hält den Schulen einen Spiegel vor: Wo stehen wir? Sind wir so gut, wie wir denken? Wo liegen unsere Stärken? Und wo müssen wir uns verbessern? 450 Einrichtungen wurden bislang inspiziert; bis Ende 2007 soll bereits ein Drittel der 3200 niedersächsischen Schulen Besuch von der Behörde erhalten haben. Künftig wird dann jede Schule in einem Rhythmus von etwa vier Jahren inspiziert. Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg, Hessen und Rheinland-Pfalz sind dem niedersächsischen Vorbild gefolgt und bauen jetzt eigene Inspektionen auf.

In den Niederlanden existiert die „periodiek kwaliteitsonderzoek“ schon seit 1998. Werner Wilken, damals Schulrat, hörte von den Vorgängen im Nachbarland. Er fuhr hin, sah sich eine Prüfung an und stellte fest: „Es geht. Man kann tatsächlich definieren und prüfen, wie es um die Qualität einer Schule bestellt ist.“ Vorher dachte er, als Schulrat wisse er doch, was eine gute Schule ausmacht. „Im Vergleich zu dem Wissen von heute muss ich sagen, dass ich eigentlich nicht viel wusste.“ Mittlerweile ist Wilken stellvertretender Leiter der Niedersächsischen Schulinspektion, eine von der Schulaufsicht unabhängige Behörde. Das Prüfungsverfahren haben die Niedersachsen von den holländischen Nachbarn weitgehend übernommen, der deutschen Rechtslage angepasst und weiter verfeinert.

Zwischen Cuxhaven und Göttingen, Meppen und Helmstedt ist die rund 60-köpfige Armada der Prüfer aus früheren Schulleitern, Konrektoren und Schulräten ständig unterwegs. Sie alle wurden für den neuen Einsatz sechs Monate intensiv

trainiert. Die eingangs beschriebene Hauptschule inspiziert Ellen Raith gemeinsam mit ihrem Kollegen Joachim Voges. Er war zuvor 14 Jahre lang in der Schulleitung einer Grund- und Hauptschule tätig, Ellen Raith leitete eine Grundschule. Ausgewählt werden die Schulen nach dem Zufallsprinzip. „Wir wollen überall im Land präsent sein“, postuliert Werner Wilken. „Und es soll sich herumsprechen: Die kommen tatsächlich. Alle Schulen kommen dran.“

Nicht der einzelne Lehrer steht auf dem Prüfstand, sondern die Schule als System. Raith und Voges wollen es durchleuchten wie mit einer Röntgenaufnahme. Sie sprechen mit Schulleitung und Lehrerschaft, aber auch mit Elternvertretern, dem Hausmeister und der Sekretärin. Und mit den Kindern und Jugendlichen natürlich, die ihnen erzählen, dass „der Ein-Euro-Arbeiter mit den Schülern raucht“ und „wir in Geschichte seit drei Jahren nur Hitler machen“. Sie begutachten Gänge und Pausenhof, werfen einen Blick in die Toiletten, inspizieren die Ausstattung von Chemie- und Computerraum und schreiben, dass das Schulgebäude einen sauberen und ordentlichen Eindruck hinterlässt – obwohl sie sich Schöneres vorstellen können als diesen alt gewordenen Neubaubeton.

Raith nimmt zu Protokoll, dass am Klassenraum der 7b fünf Monate nach Schuljahresbeginn immer noch 6b steht; Voges notiert, dass in den Grünanlagen unter den Klassenraumfenstern „Unratansammlungen zu beklagen“ sind. Nach und nach fügen die Inspektoren die Mosaiksteinchen aus vorbildlichen und kläglichen Unterrichtsstunden, aus beiläufigen Beobachtungen und gezielten Gesprächen zu einem Bild zusammen. Ein Computerprogramm ermittelt aus den Einzelnoten das Gesamtergebnis der Schule.

DIE AKTENLAGE

Ein Verdacht keimt auf, bös und giftig. „Da lief offenbar kürzlich der Drucker im Büro der Schulleitung ein paar Abende auf Hochtouren“, vermutet Joachim Voges. „Viele dieser Konzepte sind wohl am PC des Schulleiters entstanden, nachdem klar war, dass wir kommen. Das müssen wir überprüfen.“

Das Inspektions-Duo hat sein Arbeitsquartier im Archivraum aufgeschlagen und sich die von der Schule eingereichten Aktenordner mit Lehrplänen, Protokollen, Projekten und Leistungsvergleichen vorgenommen. Die Inspektoren finden viele Konzeptpapiere: zum Umgang mit Absentismus. Mit Drogen. Mit dem Rauchen. Mit Gewalt. Die meisten Papiere haben zehn Punkte, die wenigsten tragen ein Datum. Auch findet sich kein Hinweis, welches Gremium sie erarbeitet oder verabschiedet hat. „Offenbar wurden die überhaupt nicht verabschiedet“, vermutet Voges und schiebt noch etwas hinterher, das wie „viel Papier, wenig Substanz“ klingt.

Aus der Aktenlage ergibt sich meist das erste Bild einer Schule. In diesem Fall kein allzu gutes. Früher war diese Hauptschule fünfzügig, jetzt gibt es nur noch eine fünfte Klasse – und ganze sieben Anmeldungen für das nächste Schuljahr. Das Durchschnittsalter im Kollegium liegt bei 53,5 Jahren, 21 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss. Joachim Voges kennt Hauptschulen, die in ihrem Leitbild die Maxime verankert haben, dass kein Schüler ohne Abschluss gehen soll. „Und die schaffen das auch weitgehend“, sagt er. Diese Hauptschule hier hat kein Leitbild.

Die Arbeit am pädagogischen Konzept der Einrichtung ist äußerst spärlich dokumentiert. Aus den vergangenen vier Jahren liegen genau drei Gesamtkonferenz-Protokolle vor, Niederschriften von Fachkonferenzen sind kaum vorhanden. Wurden vielleicht gar keine abgehalten? In einem Fall datiert das letzte Protokoll von 1998. Die „Grundsätze für die Leistungsmessung“ sind noch mit der Schreibmaschine geschrieben. Wo sind Ergebnisse von Vergleichsarbeiten, Hinweise auf Projekte, auf regelmäßige Lehrerfortbildung? Wo ist das Methodenkonzept? Die Inspektoren blättern, suchen, lesen, blättern weiter. Sie finden nichts.

DIE SCHULLEITUNG

Der Schulleiter und der Konrektor sind milde, stets etwas müde wirkende Pädagogen, die nicht den Anschein erwecken, als wollten sie in den letzten Jahren vor dem Ruhestand ihre Schule von Grund auf umkrempeln. Sie sind ein eingespieltes Team. Ihre Pädagogenlaufbahn begann vor 34 Jahren – an eben dieser Schule. Den Inspektoren präsentieren sie das Bild einer Wohlfühl-Schule voller Harmonie. Eine Schule, in die man gern geht.

„Dass die Schüler sich wohlfühlen, ist unser erstes Prinzip“, sagt der Schulleiter, der Konrektor assistiert: „Zum Beispiel gestalten und malern sie ihre Klassenräume selbst. Und, haben Sie gesehen?, in der Pausenhalle haben wir Basketballkörbe und Markierungen für Eisstockschießen auf dem Boden.“ Am Tag darauf werden die Inspektoren von Schülern erfahren, dass die Pausenhalle just vor zwei Wochen auf Sporttauglichkeit getrimmt wurde. „Wenn Sie weg sind, wird das bestimmt wieder abgebaut“, heißt es. „Bisher hingen da immer Schilder, dass Rennen und Ballspielen in der Pausenhalle verboten sind.“

Auf das Gespräch mit der Schulleitung sind Voges und Raith schon eingestimmt, durch das Aktenstudium und die ersten Unterrichtsbesuche, die – vorsichtig formuliert – den Eindruck gut abgehangener Professionalität vermittelten. Die beiden fragen, haken nach, freundlich, aber unerbittlich. Das Leitungsduo gerät schnell in die Defensive.

„Gibt es Projektwochen? – „Ja, zum Beispiel zur Atomkraft.“ – „Regelmäßig?“ – „Jährlich, eigentlich.“ – „Vergangenes Jahr auch?“ – „Nein, da nicht.“

„Wir haben in den Unterlagen kein Curriculum gefunden, sondern nur eine Ideenskizze.“ – „Das Curriculum, das sollte eigentlich im Sommer schon fertig sein, aber nun ja ...“

„Wie machen Sie die Arbeit Ihrer Schule an den Grundschulen bekannt? Sie haben ja fürs kommende Schuljahr bislang nur sieben Anmeldungen.“ – „Das Hineingehen in die Grundschulen bringt wenig ...“

„Gibt es ein Förderkonzept für leistungsschwache Schüler?“ – „Es gibt eine Lehrerin, die dafür zuständig ist.“ Die Inspektoren haben allerdings schon erfahren, dass der Förderunterricht häufig ausfällt, weil die Lehrerin Vertretungsstunden abhalten muss.

„Wie fördern Sie die Unterrichtsqualität? Gehen Sie zu den Kollegen in den Unterricht, um sie zu beraten?“ – „Na ja, zur Einsicht in den Unterricht kommt man einfach nicht ...“ Der Schulleiter fühlt sich sichtlich unwohl. Er spürt das Misstrauen und weiß nun, dass sich die Inspektoren nicht mit fix formulierten Nacht- und Nebel-Konzepten abspeisen lassen. Er soll fehlende Unterlagen nachreichen. Bis zum nächsten Nachmittag. Die Verabschiedung fällt kühl aus.

BEIM ABENDESSEN

Die Bilanz des ersten Inspektionstages ist dürftig. Die Schule droht „durch den Boden zu gehen“, so nennen das die Inspektoren, wenn eine Prüfung „gravierende Mängel“ offenbart und mit dem Resultat „unter Standard“ abschließt. Bei etwa fünf Prozent der bisher inspizierten Schulen war das der Fall. Dabei hatte Voges von seiner Behörde den aufmunternden Hinweis bekommen, dies sei mal eine gute Schule. Schon nach seinen letzten beiden Inspektionen hatte er „unter Standard“ melden müssen. Und nun das.

An diesem Abend kommen noch zwei Inspektoren-Kolleginnen ins Hotel. Sie prüfen eine andere nahe gelegene Einrichtung. Beim Abendessen fragt die eine: „Sagt mal, eure Schule, ist das eigentlich die von den drei Hauptschulen hier, die geschlossen werden soll?“ Voges und Raith sind konsterniert. Eine Schulschließung steht an? Davon wissen sie gar nichts.

Für die Inspektoren schafft das eine neue, unangenehme Situation. Sie werden das Wissen über die drohende Schließung fortan mit sich tragen, in jedes Gespräch, in jede Unterrichtsvisite. Zwischen Blumenkohlsuppe und Entenbrust an Kartoffelschnee spricht Joachim Voges als Erster aus, woran sowieso alle denken: „Geben wir denen jetzt den Todesstoß, wenn wir unter Standard bewerten?“ Das wollen sie nicht. Es ist nicht Aufgabe der Schulinspektion, Argumente für eine Standortentscheidung zu liefern. Aber natürlich wissen die Prüfer, dass der Schulträger bei seinen Überlegungen das Inspektionsergebnis heranziehen wird.

Am nächsten Morgen werden Voges und Raith die Inspektion fortsetzen. Die Schließungsdebatte darf ihre Bewertung nicht beeinflussen. Würden sie fortan bewusst wohlwollend urteilen, um die Schule zu retten, immer mit der Tendenz zum Plus, wo kleinste lobenswerte Ansätze erkennbar sind, wird am Ende vielleicht eine andere, bessere Schule geschlossen, die strenger bewertet wurde. „Vielleicht ist es ja auch gut, wenn es diese Schule trifft“, heißt es am Tisch der Inspektoren. „Wenn es wirklich keine gute Schule ist.“

DIE ELTERN

Joachim Voges schließt das Inspektionszimmer ab. Er ist ratlos. Was war das denn gerade? Anderthalb Stunden haben sie mit den Elternvertretern gesprochen, immer wieder gefragt: „Was finden Sie an dieser Schule wirklich gut? Warum haben Sie Ihr Kind ausgerechnet hierhin geschickt?“ Und sie bekamen keine Antwort. „Ich bin selber bis zur neunten Klasse auf dieser Schule gewesen“, sagt eine Mutter. „Wir wohnen hier gleich in der Nähe“, meint die zweite. „Wir ziehen jetzt unser fünftes Kind hier durch“, erklärt die dritte.

„Aber ist es denn eine gute Schule?“, wollen die Inspektoren wissen. „Lernt man genug?“ Jetzt ist der Chor der Väter an der Reihe. „Könnte mehr sein.“ – „Ja, könnte mehr sein“, pflichtet der zweite Vater bei. „Auf anderen Schulen sind sie schon weiter, hört man“, fällt dem dritten noch ein. „Ist nicht so richtig Zug dahinter.“

Wie die Schule im Vergleich zu den anderen Hauptschulen vor Ort dasteht, wissen die Eltern nicht. Sie haben sich darüber auch noch nie Gedanken gemacht. „Wie sieht es denn mit Differenzierung im Unterricht aus?“, fragt Ellen Raith, allmählich ungeduldig werdend. „Oder machen immer alle das Gleiche?“ – „Alle das Gleiche“, echot es.

Anfangs sind die Eltern redlich bemüht, nur Gutes über die Schule zu sagen – oder zumindest nichts Schlechtes. „Sind alle Lehrkräfte mit dem gleichen Elan bei der Sache?“, fragt Joachim Voges vorsichtig. Wird einer sich trauen? Eine Mutter meldet sich. „Die älteren Lehrer kommen mit den jüngeren nicht klar“, sagt sie. „Die fahren ihre Schiene, bis sie in Rente gehen.“ Voges hakt nach: „Scheitern Dinge, die hier vorangebracht werden könnten, daran?“ Zögern. Schließlich sagt einer „Ja“, ein anderer „Mhmm“. Plötzlich nicken alle zustimmend.

„Wo sehen Sie die Stärken der Schule?“, fragen die Inspektoren zum Abschluss. „Das Praktische“, sagt eine Mutter, und ihre Nachbarin meint: „Dass den Kindern hier nicht vermittelt wird, dass sie die Doofen sind.“

Sechs von acht Elternvertretern fallen keine Stärken ein.

DIE LEHRER

Die Atmosphäre ist angespannt. Der Schulleiter hat sein Kollegium informiert, dass die Inspektoren ihren Auftrag Ernst nehmen. Dass sie den Schwächen der Schule auf der Spur sind. Sich nicht einlullen lassen. Die Pädagogen gehen zum Angriff über.

Als Joachim Voges fragt, wie das Konzeptpapier „Hausaufgaben“ zustande gekommen ist und erst alle schweigen, vermutlich, weil es niemand kennt, meldet sich einer, der Wortführer. „Als klar war, dass Sie mit so ‘ner Abhakliste kommen, haben wir das eine oder andere Papier auf einen neuen Stand gebracht“, sagt er. „Oder überhaupt erst mal eines geschrieben. Damit wir ein Schulprogramm haben, wenn Sie vor der Tür stehen.“ Er erntet zustimmende Blicke von allen Seiten. Das ist Balsam für die Lehrerseele. Endlich mal einer, der die Fahne hochhält. „Hier gibt es Ziele und Konzepte, die sind einfach vorhanden, die werden gelebt“, fährt der Wortführer fort und fixiert Voges. „Man muss nicht alles auf Papier schreiben.“ Er verschränkt die Arme und lehnt sich provozierend lässig zurück.

Dann kommt das bislang Unausgesprochene auf den Tisch. Die drohende Schließung. „Wenn Sie in einem Jahr wiederkommen, weil das hier nicht so toll war“, platzt es aus der Beratungslehrerin heraus, „dann freuen wir uns, weil das nämlich heißt, dass es uns noch gibt.“ Sie schaut Voges und Raith kampfeslustig an. In ihrem Blick liegt die Frage, die auch ihre Kollegen umtreibt: „Oder habt ihr den Auftrag, uns ans Messer zu liefern?“

Joachim Voges spürt, worum es geht, versucht zu glätten. „Auch wenn Ihre Schule nicht gut abschneiden sollte, sind wir auf keinen Fall diejenigen, die den Dolchstoß ausführen.“ Überzeugend klingt das nicht; vermutlich spürt Voges das sogar. Aber was soll er ihnen sagen, diesem Kartell von Lehrern, die sich nicht fordern, nicht kritisieren, die alle glauben, sie wissen schon, was ein guter Unterricht ist. Auch ohne Konzepte. Ohne Fortbildung. Ohne Supervision. „Alles situativ, alles personengebunden!“, notiert Ellen Raith.

„Die sind Betrachter ihrer Situation, aber nicht Gestalter“, resümiert Joachim Voges auf dem Weg zum Hotel. „Die denken: Wir sitzen auf einem sinkenden Schiff, also können wir schon mal aufhören zu rudern.“ Er überlegt. „Ich wollte, dass sie aus diesem Gespräch die Möglichkeit mitnehmen, dass sie eventuell durch den Boden gehen, damit sie bei der Rückmeldung nicht völlig überrascht sind. Ich glaube, das ist mir gelungen.“

DER UNTERRICHT

Auch im Klassenraum der 7a hängt ein Poster mit Regeln an der Wand. „Ich verspreche, dass ich heute ...“, steht da in großen Lettern. Es folgen Selbstverpflichtungen: nicht zu beleidigen, zu petzen, zu lügen, zu schlagen oder zu treten, dumm herumzulabern. Eigentlich eine lobenswerte Sache, hätten die Inspektoren beim Aktenstudium im Konferenzprotokoll vom vergangenen Dezember nicht einen verräterischen Hinweis gefunden: „... führt aus, dass es bei der Inspektion von Vorteil ist, wenn in jeder Klasse Verhaltensregeln sichtbar aushängen.“ Der Vorschlag wurde „nach kontroverser Diskussion“ einstimmig angenommen.

Joachim Voges kommt frohgemut ins Inspektionszimmer. „Ich habe zwei tolle Stunden gesehen“, sagt er. Einige Male konnte er ein Doppelplus einkringeln. Eine Religionslehrerin ließ das Thema Gewalttheorien in Kleingruppen erarbeiten, ein junger Mathelehrer jagte die Fixen im Karacho durch Division und Multiplikation, gleichzeitig ging er aber durch die Reihen und half den Langsamen.

Auch der freundliche, entspannte Umgangston gefällt dem Inspektionsteam. Hier herrschen keine Zustände wie dereinst an der Berliner Rütli-Schule, die es zu bundesweiter Popularität brachte, weil die Lehrer der Schülergewalt nicht mehr standhalten konnten und in einem Brandbrief die Auflösung der Schule verlangten. Aber warum machen sie hier so wenig daraus?, fragen sich die Inspektoren. Und werden die Ausreißer nach oben reichen, um den Unterricht insgesamt noch positiv zu bewerten? „Wird schwer“, meint Ellen Raith nach einem Blick aufs Notebook. „Eher schwach als stark“ lautet das Zwischenergebnis nach zwei Drittel der Einsichtnahmen.

Zu viel Mittelmaß haben die Inspektoren gesehen, zu viel Grenzwertiges, auch solides Handwerk, aber nur pflichtgemäß abgespult beim Warten auf das Ende der sechsten Stunde, auf die Ferien, das Schuljahresende, den Ruhestand.

Der Schulleiter präsentiert in Physik zwei Stunden Stillarbeit hintereinander, die Biologielehrerin ist gänzlich unvorbereitet, die Kunstlehrerin lässt in der neunten Klasse die ganze Zeit Mandalas malen. „Anforderungsniveau viertes Schuljahr!“, notiert Ellen Raith. Der Englischlehrer, ein junger Mann, frisch von der Uni, lässt in der neunten Klasse einen Text über Indianer vorlesen. Anschließend sollen die Schüler im Buch die neuen Vokabeln unterstreichen. Einige haben kein Buch dabei, teilnahmslos schauen sie durch die Gegend. Eine Viertelstunde dauert das Raussuchen der Vokabeln. Wer damit fertig ist, soll den Text noch mal lesen. Und dann noch mal. Zwischendurch schaut der Lehrer auf die Uhr. Voges macht viele Minus-Kringel. „Das ist schon bitter“, sagt er, „wenn man für eine Unterrichtsstunde bescheinigen muss, dass die Schüler eigentlich nichts gelernt haben.“

IN DER STEHBÄCKEREI

Die Inspektoren haben genug gesehen und gehört; es geht aufs Ende zu. Bei Bienenstich und Kakao aus dem Tetrapak diskutieren sie, mit welcher Bewertung sie dieser Schule gerecht werden. Am Abend zuvor waren sie noch uneins. Sollen sie die Einrichtung noch mal davonkommen lassen, ganz knapp „über Standard“ bewerten? Dann käme sie um eine Nachinspektion herum und stünde nicht im Ruf, eine schlechte Schule zu sein. Aber helfen sie ihr damit? Wäre das richtig und gerecht? Spätestens nach dem Gespräch mit der Lehrerschaft und den letzten Einsichtnahmen in Unterricht dürftigster Art ist klar, dass ein deutliches Signal nötig ist, ein Schuss vor den Bug. Eine Bewertung „unter Standard“, damit diese Schule aufwacht aus ihrem Dämmerzustand. Joachim Voges ahnt schon, was sonst passieren wird: „Dann sagen die: Die Schulinspektion ist weg, jetzt können wir weitermachen wie bisher.“

Aber wie soll man es ihnen sagen? „Wir müssen wohlwollend sein und wir müssen klar sein“, postuliert Voges. „Man will ja nicht demontieren, nicht demotivieren.“

NACHSITZEN

Werner Wilken vermutet, dass es auch Schulen gibt, bei denen die Inspektion nichts bewirkt. Vielleicht sind es vor allem jene, die gerade noch einmal davonkommen. „Da heißt es dann, die Inspektion kommt erst in vier Jahren wieder, bis dahin ist die Hälfte des Kollegiums im Ruhestand, also ab in den Schrank mit dem Bericht.“ Aber das, glaubt Wilken, seien Einzelfälle. „Allein die Tatsache, dass es uns gibt, hat schon ein Qualitätsbewusstsein befördert. In den Schulen fängt man an, über Qualität nachzudenken, ohne dass wir überhaupt da waren.“

An den evaluierten Schulen höre die Diskussion darüber erst recht nicht mehr auf. Dafür sorge allein schon der Druck der Eltern. Die kennen schließlich das Inspektionsergebnis – und werden kaum hinnehmen, dass ihre Kinder auf eine schlechte Schule gehen müssen.

Doch was passiert mit den Lernorten, denen „gravierende Mängel“ attestiert werden? Für die Therapie ist die Inspektion nicht zuständig. Sie stellt den Schulen lediglich den Spiegel hin – und lässt sie mit ihrem Spiegelbild allein. In den Niederlanden stehen Tausende von Pädagogen, Psychologen und Trainern bereit, um Schulen „unter Standard“ wieder nach vorn zu bringen, die Schulleiter verfügen über ein üppiges Fortbildungsbudget. Im Extremfall, wenn eine Schule nicht an ihren Defiziten arbeitet, werden ihr die Zuschüsse gestrichen, was einem Schließungsurteil gleichkommt.

Ein ähnliches Unterstützungssystem wünscht sich Werner Wilken auch für Deutschland. „Man kann nicht evaluieren und anschließend wegrennen“, sagt er. „Schlechte Schulen dürfen wir nicht dulden. In solchen Fällen muss man massiv intervenieren.“

Momentan ist jedoch nur „Intervention light“ möglich. Das Unterstützungssystem, neben der Inspektion die zweite Säule der Qualitätssicherung im Schulwesen, befindet sich noch im Aufbau. Fortbildungsmittel sind knapp, die Schulleiter haben keine Hoheit über ihr Budget, schwache Pädagogen können nicht entlassen werden. „Wir stoßen immer wieder auf Lehrer, deren unterrichtliche Kompetenz infrage gestellt werden muss“, sagt Werner Wilken. 

DIE VERKÜNDUNG

Zur „Unterrichtung der Schulöffentlichkeit“ am Nachmittag des letzten Inspektionstags erscheint nicht mal die Hälfte des Kollegiums, dazu die Schulöffentlichkeit in Person von drei Elternvertretern. Schüler sind nicht gekommen. Alle sehen auf die weiße Leinwand, wo gleich die Noten der Schule erscheinen, das „Qualitätsprofil“. Unter den Lehrern hat es sich schon herumgesprochen: Wir sind durchgefallen!

Der Schulleiter wird immer zuerst informiert. Es gibt Dinge, die kann man nur dem Chef sagen. Joachim Voges und Ellen Raith haben das Kriterium „Führungsverantwortung der Schulleitung“ mit „eher schwach als stark“ bewertet. Sie wollen den ersten Mann im Haus jetzt nicht vor seinem Kollegium demontieren. Nach einer guten Stunde kommt der Schulleiter mit gesenktem Kopf aus dem Inspektionsbüro und geht die Treppe runter.

Voges ist nicht zufrieden mit dem Gespräch. „Ich glaube, er hat nicht verstanden, wie schlecht die Schule in vielen Bereichen eigentlich ist“, sagt er. Bei fast allen Kritikpunkten habe er gesagt: „Das sehe ich nicht so.“ Manche Schulleiter brechen bei diesem Gespräch zusammen, unter Tränen, sie sehen ihr berufliches Lebenswerk in Trümmern vor sich liegen. Manche poltern, andere sitzen nur da und sagen gar nichts.

Voges und Raith geben sich bei der Präsentation redlich Mühe, die positiven Ansätze zu betonen; das Potenzial, das in der Schule schlummert, das gute pädagogische Klima, die freundlichen, zugewandten Schüler, die sie erlebt, den guten Unterricht, den sie stellenweise gesehen haben. „Hier wird ein Konzept gelebt, wenn es auch nicht verschriftet ist“, loben sie selbst das, was kaum zu loben ist.

„Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte fühlen sich an der Schule wohl.“ Doch das kleine Häuflein Lehrer schaut drein, als habe man ihnen gerade eröffnet, dass sie fortan von früh bis spät dicke Spinnen fangen müssen. Sie wissen, dass im Abschlussbericht steht: „Die Schulinspektion hat gravierende Mängel festgestellt. Wir bitten um Prüfung, ob eine Nachinspektion veranlasst werden soll.“ Also registrieren sie nur das Stakkato von Satzfetzen, das auf sie einprasselt: „Sehr lückenhaft“, „nicht vorgelegt“, „zu wenig Differenzierung“, „kommen zu kurz“, „sind veraltet“, „finden nur episodenhaft statt“, „herrscht keinerlei Klarheit“. Und immer wieder der Satz: „Auch hier – eher schwach als stark.“ Ellen Raith klingt dabei ein bisschen wie die RTL-Moderatorin Sonja Zietlow bei „Der Schwächste fliegt“. Siebenmal vergeben die Inspektoren die Zensur „eher schwach als stark“, einmal „schwach“, nur siebenmal „eher stark als schwach“.

„Ich halte uns nach wie vor für eine gute Schule“, sagt der Schulleiter zum Abschluss trotzig. Dann glaubt ein junger Lehrer, er habe noch eine besonders clevere Idee. „Wenn ich das richtig sehe“, sagt er spitzbübisch, „müsste doch nur ein einziges Kriterium vom negativen in den positiven Bereich rutschen, damit das Gesamtergebnis positiv wird und Sie nicht wiederkommen müssen.“ Er sieht die Inspektoren herausfordernd an. Kommt, Kinders, ein Kriterium, das müssen wir doch wuppen.

Joachim Voges schaut an die Decke, Ellen Raith starrt auf ihr Manuskript. Es ist schier zum Verzweifeln, sagen ihre Blicke. Der Mann hat nichts begriffen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.