Notdienst

Der Kunde ist König – doch sobald Majestät ein Problem haben, gehen viele Unternehmen auf Tauchstation. Dabei nutzen die intelligentesten Produkte und Dienstleistungen wenig, wenn der Service nach dem Kauf fehlt. Wie es besser geht? Ein Ausflug in die Welt des Beschwerdemanagements.




Natürlich gibt es Bilderbuchkunden. Das sind die, die kommen, kaufen und danach vollkommen zufrieden sind. Genauso wie es notorische Nörgler gibt. Das sind die, die kommen, kaufen und danach unzufrieden sind, unabhängig von der Qualität der erhaltenen Leistung. Das Gros der Käufer bewegt sich allerdings zwischen den beiden Extremen – um sie ist es hierzulande schlecht bestellt. Es sind Menschen, die Produkte kaufen und dazu eine Frage haben. Menschen, die gern einen Verbesserungsvorschlag anbringen möchten. Oder Menschen, die Pech und dadurch tatsächlich Grund zum Unmut hatten. Leider ist der zu Recht verärgerte Kunde vielerorts quasi inexistent.

Er muss sich telefonisch durch sogenannte Service-Abteilungen quälen, verbringt Stunden in Warteschleifen, berieselt von schlechter Musik, bis er endlich, nach zahllosen Computer-Optionen bei einem Menschen landet, der sein Problem – wenn es gut geht – mitfühlend zur Kenntnis nimmt, in aller Regel aber nicht löst. Wer sich schriftlich zu Wort meldet, darf manchmal auf Antwort hoffen, die Standardschreiben signalisieren zumindest Empathie. Abhilfe schaffen sie selten bis nie.

Aus Kundensicht ist das ärgerlich, aus Sicht des Unternehmens schlicht dumm. Schließlich rechnet sich der loyale Kunde um ein Vielfaches mehr. Einen Käufer zu halten ist deutlich billiger und erfolgversprechender, als einen neuen zu gewinnen. Und jeder Kundenfrust macht an anderer Stelle die Neugewinnung schwer: Wer sich ärgert, teilt das wesentlich mehr Personen mit, als wenn er sich freut.

Wer will, kann aus Beschwerden jede Menge lernen. Vorausgesetzt, er hegt den Wunsch, die Qualität seiner Leistung zu erhöhen. Eine Reklamation ist kein Störfaktor, sondern ein nachträglich geäußerter Kundenwunsch. Und der Umgang damit ist ein Prüfstein für Glaubwürdigkeit.

ZÜGIGE VERBINDUNG –
DEUTSCHE BAHN AG

Thomas Bär hat keinen einfachen Job. Der 45-Jährige leitet den Kundendialog bei der Deutschen Bahn, und wenn es darum geht, der eigenen Unzufriedenheit Nachdruck zu verleihen, steht die Bahn als Ansprechpartner bei vielen ganz vorn. Das Unternehmen löst nach eigenen Angaben eine hohe Beschwerdeartikulationsbereitschaft aus. Das heißt: Während der Verbraucher bei anderen Unternehmen über die eine oder andere Panne hinwegsieht, greift er bei der Bahn schon zum Telefon, sobald der kleinste Lapsus passiert. Als Prügelknabe der Nation empfindet Bär sich dennoch nicht: „Es ist auch eine Chance. Der Kunde ist für uns kein unbekanntes Wesen. Wir wissen ziemlich genau, was ihn bewegt, ärgert oder freut. Und wir können darauf reagieren.“

Es gibt zwei Möglichkeiten mit einem Problem umzugehen. Man kaschiert es und hofft, dass keiner etwas merkt. Oder man geht es offensiv an – die Deutsche Bahn hat sich für den zweiten Weg entschieden. Kaum ein Produkt des Unternehmens, das nicht die Telefonnummer des Servicecenters trägt. Auf jeder Bahn-Card, auf den meisten Faltplänen im Zug und im Kundenmagazin DB Mobil ist die Service-Nummer abgedruckt. Auch das Zugpersonal ist mit „Kontaktkarten“ ausgerüstet. Unzufriedene Reisende werden damit noch vor Ort bedient.

Insgesamt beschäftigt die Abteilung Kundendialog 240 Mitarbeiter, Reisende im Fernverkehr werden von anderen Kollegen betreut als die Kunden im Regional- oder Stadtverkehr. Alle führen minutiös Buch darüber, wer sich wann und aus welchem Grund beschwert: Über das Jahr gerechnet gehen bei der Bahn 1210 Beschwerden ein – pro Tag. Bei täglich rund 3,5 Millionen Bahnreisenden beschwert sich damit etwa jeder 3000ste Reisende. Zwei Drittel aller Klagen gehen telefonisch ein, der Rest erreicht das Unternehmen per Brief oder Mail. Wenn schon die Züge manchmal auf sich warten lassen, will die Bahn bei Beschwerden schnell sein: 80 Prozent aller Anrufer sollen innerhalb von 20 Sekunden mit einem Mitarbeiter verbunden werden, 80 Prozent aller Briefschreiber innerhalb von zehn Tagen eine Antwort bekommen. Maximal 72 Stunden wartet der Kunde, der sich per Mail beklagt hat.

Der häufigste Grund für Beschwerden betrifft die Kernleistung der Bahn: den Transport – beziehungsweise den Nicht-Transport. Die meisten Kunden rufen im Service-Center an, weil ein Zug verspätet war oder ausgefallen ist. Was können die Bahnmitarbeiter da tun? Zuhören, ernst nehmen, wiedergutmachen und daraus lernen. Bis zu 100 Euro kann jeder Kundendialog-Mitarbeiter in Form von Reisegutscheinen oder Bonuspunkten eigenständig ausgeben.

Auch intern ist das Beschwerdemanagement ein ernst zu nehmendes Thema. Der Kundendialog berichtet regelmäßig an die einzelnen Fachbereiche und den Konzernvorstand. Thomas Bär ist es wichtig, dass dabei nicht bloß Zahlen verhackstückt werden: Die Ergebnisse seiner Abteilung werden ausführlich aufbereitet, kommentiert und gewichtet. So wird die absolute Zahl der Beschwerden beispielsweise auch immer mit der Anzahl der Möglichkeiten, eine Beschwerde zu verursachen, ins Verhältnis gesetzt. Complaints per million opportunity (CPMO) heißt diese Kennzahl in der Sprache der Kundenbetreuer. Sie verhindert zu positive Fehleinschätzungen wie etwa die, dass die Bahn im März sehr viel pünktlicher gefahren sei als im Dezember – in Wahrheit sind in der Weihnachtszeit einfach sehr viel mehr Passagiere unterwegs, also gibt es auch mehr Beschwerden.

GROSSZÜGIGKEIT ZAHLT SICH AUS – LANDS’ END

Der amerikanische Bekleidungsversandhandel Lands’ End hat eine besondere Methode entwickelt, mit eventuell unzufriedenen Kunden umzugehen: Er nimmt ihnen jeglichen Wind aus den Segeln. In einer Art vorauseilendem Beschwerdemanagement gewährt das Unternehmen seinen Kunden einen Vertrauensvorschuss. Ein Kleidungsstück, das bei Lands’ End erworben wurde, kann jederzeit, auch nach Jahrzehnten und ohne Angabe von Gründen zurückgegeben werden. Egal, ob die Schuhe ausgelatscht sind, die Bluse ein Brandloch hat oder die Jacke schon sichtlich abgetragen und inzwischen unmodern geworden ist: Lands’ End erstattet den vollen Kaufpreis oder liefert einen Ersatzartikel.

Das Versprechen ist fester Bestandteil der Unternehmensphilosophie. Zwar durfte das Unternehmen nach einer Reihe von gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs hierzulande lange Jahre nicht mit seiner Garantie werben. Seit die Zugabeverordnung vor gut sechs Jahren gestrichen wurde, findet sich der Hinweis auf die „Guaranteed. Period.“ aber wieder in jedem Katalog und auch auf der Website. Trotzdem reagieren viele Anrufer erst mal erstaunt, wenn sie sich über ein Kleidungsstück beschweren und prompt gefragt werden, wie es ihnen denn lieber sei: Ersatzpullover oder Geld zurück?

Immerhin 60 Prozent aller Kunden, erzählt Frank Kriegl, Marketingdirektor bei Lands’ End Deutschland, kennen das Versprechen. Und doch kommen von 10.000 verkauften Artikeln nur drei bis vier zurück, die umgetauscht werden, obwohl sie keinen Schaden haben. Mag sein, dass die meisten Kunden sich allen ökonomischen Theorien zum Trotz ganz einfach fair verhalten. Frank Kriegl mag lieber an andere Gründe glauben: „Unser totales Rückgaberecht ist ein Ausdruck unserer Leistung und zeigt, wie sehr wir der Qualität unserer Produkte vertrauen.“

Europazentrale und Lager von Lands’ End befinden sich in Großbritannien, von dort werden die Waren auch verschickt. Die rund 400 Beschäftigten in Deutschland arbeiten fast ausschließlich in der Kundenbetreuung. Für Frank Kriegl heißt das: „Jeder einzelne von ihnen arbeitet gleichzeitig auch im Beschwerdemanagement.“ Während anderswo die Mitarbeiter, die etwas entscheiden können, nichts mit Kunden zu tun haben wollen, und die, die mit Kunden zu tun haben, nichts entscheiden dürfen, darf jeder, der bei Lands’ End arbeitet, ohne Rücksprache kreativ sein, sofern er die Zufriedenheit eines Kunden erhöht. Das kann im Einzelfall ein Warengutschein sein, oft ist es auch ein kostenloser Overnight-Kurier, der eine verspätete Ware noch rechtzeitig zum Kunden bringt. Frank Kriegl bevorzugt die zweite Variante: „Ein verärgerter Kunde will keinen Blumenstrauß, er will eine Lösung für sein Problem.“

Um für die Kundschaft da zu sein, hat das Servicecenter von Lands’ End 364 Tage im Jahr 24 Stunden geöffnet, nur am ersten Weihnachtstag ist zu. Im Schnitt gehen täglich 2500 bis 3000 Anrufe ein. Und kein einziges Gespräch, so die interne Regel, darf von einem Lands’-End-Mitarbeiter beendet werden. Die Kollegen im Service sollen so lange plaudern und zuhören, bis der Kunde von sich aus auflegt.

VERANTWORTUNG UND FREIHEIT – RITZ-CARLTON

„Bei uns gibt es keine eigene Abteilung für Gästebeschwerden“, sagt Christoph Schmidt, Chef des Ritz-Carlton-Hotels in Berlin, „hier arbeitet jeder im Beschwerdemanagement. Denn jeder unserer 300 Mitarbeiter, mich eingeschlossen, hat nur eine einzige Aufgabe: den Gast zufriedenzustellen.“

Diese Aussage würden wohl viele Hoteliers unterschreiben, aber für Schmidt ist sie eine Art Mantra. Schließlich gehört sein Haus zu der Handvoll Nobelhotels in der Hauptstadt, bei denen materieller und gastronomischer Luxus Standard sind – und die sich daher fast nur noch durch besonders gute persönliche Betreuung und den Dienst am Kunden unterscheiden können.

Zum Beispiel, wenn der Gast unzufrieden ist. Beschwert sich jemand im Restaurant, weil der Kaffee nicht heiß genug ist, darf ihn der Kellner auf Kosten des Hauses einladen. Das Zimmermädchen kann einem Gast, dessen Zimmer nicht sauber war oder der wegen des Lärms einer Baustelle vor dem Fenster nicht schlafen konnte, eine Gratisnacht spendieren – ohne um Erlaubnis zu fragen. Das sogenannte Empowerment ist kein Freibrief für Schnorrer. Jede Beschwerde wird auf ihre Berechtigung geprüft, aber Art und Höhe der Entschädigung sind Ermessenssache. Die Entscheidungsgewalt der eigenverantwortlichen Mitarbeiter soll dazu beitragen, Probleme schnell und unbürokratisch aus der Welt zu schaffen. Bis zu 2000 Euro stehen jedem Angestellten frei zur Verfügung, um auf Reklamationen einzugehen und Fehler oder Mängel zu beseitigen.

Jede Beschwerde – intern „Guest Incident“ genannt – wird auf einem Standardformular dokumentiert. Bei größeren Problemen kann der Mitarbeiter darauf auch notieren, dass das Management der Angelegenheit noch einmal nachgehen soll. „Das mache ich grundsätzlich persönlich“, sagt Schmidt, „auch wenn ein Gast sich mittels einer Kommentarkarte beschwert hat. Dann kriegt er einen Anruf von mir und sieht, dass seine Anmerkung ganz oben ernst genommen wird.“ Auf drei bis vier Guest Incidents kommt das Fünf-Sterne-Hotel täglich, schätzt der 34-jährige Manager, rund fünfmal pro Woche muss er sich selbst darum kümmern. Das Quality Department des Hotels wertet die Beschwerdeformulare täglich aus und stellt bei wiederkehrenden Problemen ein Projektteam zusammen, das den Ursachen auf den Grund geht und sie beseitigt. Jeden Morgen verteilt die Abteilung einen Newsletter für alle Mitarbeiter, auf dem sämtliche Guest Incidents des Vortages verzeichnet sind, damit ähnliche Vorfälle möglichst verhindert werden können.

Klagen und Vorlieben der Gäste fließen auch in das Customer-Relationship-Management-System des Hauses ein – dort wird beispielsweise festgehalten, wenn ein Kunde grundsätzlich besonders helle Zimmer mag oder gegen Blumen allergisch ist. „Beim seinem nächsten Besuch ist dann alles so, wie er es sich wünscht“, sagt Christoph Schmidt. Weil alle Häuser der Kette an das computergestützte CRM-System angeschlossen sind, gilt das Versprechen für jedes Ritz-Carlton der Welt.

DAS ROTE TELEFON –
COMPUTER SERVICE GMBH

Eine DaimlerChrysler-Werkstatt in Kuala Lumpur, Malaysia. Der Mechaniker will dem Defekt eines Wagens auf den Grund gehen, aber sein Computer-Diagnosegerät funktioniert nicht. Ein Anruf bei der Service-Hotline, und er landet in – Erfurt oder Leipzig. An diesen beiden Standorten geht die Helpline der Computer Service GmbH, kurz CSG, ihrer Arbeit nach: Sie betreut die Kunden der IBM Deutschland, deren hundertprozentige Tochterfirma die CSG ist.

DaimlerChrysler gehört zu den großen Klienten: Benutzer in 180 Ländern sind jeden Monat für 10.000 Anfragen beim User Help Desk (UHD) der CSG verantwortlich – für alle Kunden zusammen nimmt das Unternehmen jährlich 3,5 Millionen Anrufe entgegen. Was UHD bedeutet, erklärt Eva Rath, seit vergangenem Jahr Geschäftsführerin der CSG: „Ein Kunde ruft beispielsweise an, weil er keine Mails verschicken kann, nicht weiß, wie er in Word eine Dokumentenvorlage erstellen soll oder ein Programm gar nicht erst startet. Dann versucht der CSG-Agent, das Problem gemeinsam mit dem Anrufer zu beheben.“ Rath legt Wert darauf, dass CSG kein Callcenter sei; dort werde der Anrufer oft nur vertröstet oder weitergeleitet. „Wir wollen möglichst viele Probleme gleich beim ersten Kontakt lösen. Etwa indem der Mitarbeiter per Datenleitung auf den Computer des Kunden zugreift und so dessen Funktionen prüfen kann.“

Auch McDonald’s ist ein Großkunde, dessen Kassensysteme CSG betreut. Dabei ist psychologisches Geschick gefragt, sagt Rath: „Wenn mitten im größten Trubel die Kasse ausfällt, ist die Hektik groß. Dann muss der Agent ganz ruhig bleiben und erst mal simple Fragen stellen: ‚Ist die Kasse auch eingeschaltet? Steckt der Stecker wirklich in der Dose?‘ Erst wenn gar nichts mehr geht, schicken wir einen Außendienstmitarbeiter los.“ Wie weit die Betreuung eines Kunden geht, hängt vom jeweiligen Service Level Agreement ab – je mehr ein Kunde bezahlt, desto umfassender und schneller kümmert sich die CSG um ihn.

Im Außendienst arbeiten zahlreiche Techniker, in erster Linie Elektroniker und Fachinformatiker. Hinzu kommen rund 1000 Mitarbeiter in den beiden Service-Centern des Unternehmens. Sie werden nicht nur auf die Lösung technischer Schwierigkeiten vorbereitet, sondern auch auf eine effiziente und kundenorientierte Kommunikation trainiert. „Wir haben zwar nur ganz wenige Anrufer, die schon von Anfang an so richtig genervt sind oder sich von unseren Agenten nicht zufriedenstellend betreut fühlen. Falls das aber doch passiert, können die Kunden den jeweiligen Teamleiter sprechen“, sagt Eva Rath.

Das hilft natürlich nicht, wenn es mal richtig brenzlig wird – das kann vor allem bei der Hardware Maintenance passieren, der Reparatur und dem Austausch defekter Geräte. „Wir sind dafür zuständig, dass Ersatzteile und Techniker rechtzeitig beim IBM-Kunden eintreffen“, sagt Rath und beschreibt so den zweiten großen Geschäftsbereich der CSG. Typische Fälle: Festplatte kaputt, Server überhitzt, Router ausgefallen. Normalerweise klappt die Reparatur reibungslos, aber manchmal ist ein Ersatzteil einfach nicht aufzutreiben. „Wenn das die Festplatte eines Großrechners ist, von der die Datenbank eines Unternehmens abhängt, laufen wir Gefahr, einen wirklich unzufriedenen Kunden zu bekommen.“ In so einem Fall können der Kunde, der Techniker vor Ort oder der Ansprechpartner bei CSG den „Beschwerdefall“ auslösen. Klingt nach rotem Telefon, funktioniert auch ähnlich – ein gemischtes Team aus CSG- und IBM-Mitarbeitern setzt alle Hebel in Bewegung, um das fehlende Teil selbst aus dem letzten Winkel der Erde zu besorgen oder eine andere Lösung zu finden.

Jeder Schaden, auch die regulär behobenen, wird an IBM weitergeleitet, wo Produktmanager des Konzerns nachforschen, was wann und warum kaputtgegangen ist, und „Highflyer-Listen“ über die anfälligsten Teile führen. Die Ergebnisse der Auswertungen fließen in die Arbeit der Entwicklungslabors und der Produktion ein – damit die Qualität in Zukunft steigt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.