Under Construction

Zu viele Regeln, zu wenig Übersicht und keine Mittel für Investitionen – Deutschland blieb beim E-Government bislang weit hinter seinen Möglichkeiten. Dabei würde sich die virtuelle Kooperation lohnen. Für Bürger, Behörden und Unternehmen.




Der Audi AG war das auf Dauer einfach zu teuer. Jedes Mal, wenn der Ingolstädter Automobilkonzern neue Fertigungshallen bauen oder Produktionsstraßen umbauen lassen wollte, musste er einen Bauantrag stellen. Ein Zeit raubender und teurer Prozess, bei dem stapelweise Papier zwischen Unternehmen, Architekten, Planern, Statikern und den Behörden hin und her wanderte. Grund genug für den Konzern, bei der Digitalisierung der eigenen Geschäftsprozesse auch zu untersuchen, wo Audi Schnittstellen mit Behörden hat und ob sie sich auf elektronischem Weg an das Unternehmen anbinden ließen.

Das Ergebnis: Seit Mai 2004 arbeiten die Autobauer mit einer virtuellen Bauplattform. Alle rund 100 internen Kollegen und etwa 300 Externe, die an einem Bauprojekt beteiligt sind, können seitdem online auf die Unterlagen zugreifen. Wer Zugang zur Plattform hat – Architekten und Planer, aber auch Beamte verschiedener Ingolstädter Behörden, vom Bauordnungsamt über das Tiefbau-, Stadtplanungs-, Stadtentwässerungs- bis zum Gartenbauamt – kann die Baupläne am Computer einsehen, ändern und anschließend wieder auf dem Server ablegen.

Das spart dem Autokonzern Zeit und Geld. Heute ist ein Genehmigungsverfahren im Schnitt in fünf Monaten beendet, immerhin einen Monat schneller als früher. Die finanzielle Ersparnis: rund ein Prozent des Bauvolumens. Bei jährlich etwa zehn neuen Bauprojekten und 30 genehmigungspflichtigen Umbauten summiert sich das schnell auf mehrere Millionen Euro.

Tatsächlich hat das virtuelle Bauamt in Ingolstadt nur einen Haken: Die Baugenehmigung muss auch heute noch schriftlich erfolgen, so verlangt es in Bayern das Gesetz. Medienbruch heißt das in der Fachsprache – am Ende des komplexen elektronischen Prozesses muss das Dokument gedruckt, per Post verschickt und herkömmlich unterschrieben werden. Schöne neue Medienwelt.

So ist es fast immer hier zu Lande, wenn es um die Verwaltung der Zukunft geht. Die deutschen Behörden wollen sich modernisieren, deshalb versuchen Bund, Länder und Gemeinden seit Jahren mithilfe der Informationstechnologie bürgernäher zu werden. E-Government heißt das Ziel, und das verfolgt inzwischen nahezu jede Gemeinde. Keine Kommune in Deutschland, die den Sprung ins Internet-Zeitalter nicht versucht, kein Bürgermeister, der nicht stolz auf sein virtuelles Rathaus verweist. Da werden Internetseiten gebaut, Formulare digitalisiert, Bürgerportale eingerichtet, Heerscharen von Web-Designern beschäftigt, IT-Arbeitskreise gebildet und Millionen von Euro in Hard- und Software investiert.

Der Mensch und der Apparat müssen sich wandeln

Zu E-Government führt das in der Regel nicht. Denn hinter dem Begriff steckt mehr als das Übersetzen eingespielter Verwaltungsvorgänge in die digitale Welt. E-Government meint einen Prozess, der bei der reinen Information beginnt und mit der Abwicklung von Transaktionen noch lange nicht endet. Wenn aus dem Bürger ein Kunde werden soll und aus der Wirtschaft ein Partner der öffentlichen Hand, muss sich die Verwaltung grundlegend ändern. E-Government heißt nämlich nicht, bunter und moderner zu werden, sondern schlanker, einfacher, und damit besser und billiger. Die Behörde muss sich in einen Dienstleister verwandeln – und dazu die Digitalisierung nutzen. Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Auf dem Weg ins digitale Zeitalter gilt es, Arbeitsabläufe zu hinterfragen, Regeln zu vereinfachen, Überflüssiges auszusortieren, Prozesse neu zu definieren, sich zu verändern, zu lernen. Der Mensch und der Apparat müssen sich wandeln. Das braucht Zeit, Kraft und Geld. Vor allem aber braucht es Einsicht – und die richtigen Ziele.

Wenn die Richtung stimmt, kann aus der behäbigen Behörde tatsächlich eine flexible Verwaltungswelt werden. Wo E-Government schon Einzug gehalten hat, bearbeiten Beamte Gewerbeanmeldungen, Anträge auf Arbeitslosengeld oder einen neuen Personalausweis nicht mehr auf Papier, sondern am Computer in einer elektronischen Akte. Statt Vorgänge physisch mittels Laufmappen zwischen unterschiedlichen Amtsstuben zu verschieben, holen Sachbearbeiter Genehmigungen anderer Dienststellen elektronisch ein. Die virtuelle Akte ist zentral über eine Plattform abrufbar, Kollegen aus unterschiedlichen Ämtern können gleichzeitig auf sie zugreifen.

Auch komplexe Dienstleistungsprozesse lassen sich schon heute miteinander verweben. Programme können jederzeit auf dieselben Daten zugreifen und einander neue Daten liefern. Software sammelt virtuelle Unterlagen, ordnet sie und legt sie ab. Externe Informationen werden integriert, Einnahmen und Ausgaben automatisch in den entsprechenden Konten verbucht, von Steuereinnahmen über Gehaltszahlungen bis hin zu Ausgaben, die der virtuelle Einkauf meldet. „Mit integriertem E-Government wäre das Rathaus nicht nur virtuell, sondern auch effizient“, sagt Willi Kaczorowski, Executive Adviser bei Cisco Systems und Experte beim Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom).

Bislang ist das noch Theorie. In der Praxis sind die deutschen Ämter auf dem Weg zur modernen Verwaltung nur vereinzelt wirklich vorangekommen. Glaubt man den diversen Untersuchungen, ist Deutschland im internationalen Vergleich bestenfalls untere Mittelklasse. In einer Studie der Europäischen Union aus dem Jahr 2002 landete die Bundesrepublik hinter Estland oder Island auf Platz 13 – von 15 untersuchten Ländern. Irland war bei den digitalen Bürgerservices Europameister.

Die Emnid-Studie „Government Online 2003“ kam zu keinem besseren Ergebnis. Auf der Liste der E-Government-Nationen rangiert Deutschland aus Sicht der Maktforscher, die 32 Nationen befragten, abgeschlagen auf Rang 19. Die aktuelle Untersuchung der EU-Kommisson vom März dieses Jahres weist dem Land nur einen Platz im unteren Mittelfeld zu. In puncto Erreichbarkeit öffentlicher Dienstleistungen übers Internet liegt Deutschland nach Ansicht der Kommission zwar vor Griechenland und Litauen, aber hinter Belgien, Malta und Slowenien. 66 Prozent aller Dienstleistungen deutscher Verwaltungen – von der einfachen Information bis zum Datenaustausch für Unternehmen – konnten im Oktober 2004, dem Zeitpunkt der Erhebung, hier zu Lande im Internet abgefragt werden. Beim Spitzenreiter Schweden sind es schon 89 Prozent.

Erst reorganisieren, dann digitalisieren

Am guten Willen der Deutschen mangelt es nicht. Fast jede Kommune ist seit Jahren im Netz präsent, die Bundesländer schufen eigene Verwaltungsportale. Bundeskanzler Gerhard Schröder machte die Verwaltungsreform via Internet sogar zur Chefsache. Schon im Jahr 2000 startete die Regierung ihr Großprojekt Bund-Online-2005, bis Ende dieses Jahres sollen rund 450 Dienstleistungen deutscher Behörden der Kundschaft auf elektronischem Weg zugänglich sein.

Experten sehen im mühsamen Vorankommen der Deutschen denn auch weniger ein Motivations- als ein Verständnisproblem. „Sie träumten von elektronischen Wahlen, digitalen Einkäufen und virtuellen Rathäusern“, meint etwa Professor Stephan Jansen, Gründungspräsident der Zeppelin University in Friedrichshafen, der sich seit Jahren mit dem Thema befasst. Aber schon das Konzept habe nicht gestimmt: Die Kommunen schaffen erst teure Software an, um im zweiten Schritt die komplizierten Verwaltungsprozesse anzupassen. Verkehrt gedacht, findet Jansen: „Reorganisation muss vor Digitalisierung kommen.“

Das ist leichter gesagt als getan, das weiß auch der Wissenschaftler, schließlich haben die Deutschen im weltweiten Vergleich ein schweres Handicap zu überwinden: Wir haben mehr Verwaltung als andere. Schätzungsweise 70.000 Gesetze, Vorschriften, Verordnungen und Verfahrensregeln müssen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes hier zu Lande beachten – die Regularien der obersten Gerichtsbarkeiten nicht mitgezählt. Das sorgt in der Praxis für komplexe Strukturen, die nur schwer aufzulösen sind, um sie anschließend zu digitalisieren.

In der Industrie, etwa im Automobilbau oder im Bankenbereich, bestehe der Geschäftsalltag aus fünf bis zehn Kernprozessen, die es per IT darzustellen gelte, weiß Torsten Koß, Leiter des Public-Sector-Bereichs bei SAP. „Im öffentlichen Sektor können leicht zwischen 100 und 150 Prozesse identifiziert werden“, schließlich zähle jeder Dienstleistungskomplex eines Amtes und jedes Fachverfahren einer Kommune zum Kerngeschäft. Bei der Identifizierung internetfähiger Fachverfahren machte Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer E-Government-Studie allein 92 verschiedene Prozesse ausfindig. Darunter fielen zum Beispiel die elektronische Auftragsvergabe, verschiedene Steuererklärungen, Scheidungsverfahren, die Zwangsvollstreckung, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Förderprogramme unterschiedlicher Ministerien oder Antragsverfahren für EU-Förderprogramme. Dazu addieren sich typisch kommunale Aufgaben wie Pass- und Kfz-Angelegenheiten, das Meldewesen oder die Gebührenordnung. Jeder Vorgang hat seine spezifischen Eigenheiten und Regeln.

Und jede Kommune hat das Recht zu entscheiden, wie sie es im Einzelfall mit Vorschriften und Verordnungen halten mag – auch das ist Teil des deutschen Problems. Die beiden Verfassungsprinzipien Föderalismus- und Ressortunabhängigkeit sowie der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung regeln die Fragen der Verantwortung eindeutig: Jede Kommune, jedes Bundesland und jede Behörde auf Landes- oder Bundesebene entscheidet autonom. In der Kommune spielen sich rund 80 Prozent aller möglichen E-Government-Prozesse ab. Und deshalb hat jede Kommune bislang auch ihr eigenes IT-Äckerchen bestellt.

So hat sich mit den Jahren und im Bestreben, beim technologischen Aufschwung dabei zu sein, in Deutschland eine IT-Landschaft gebildet, die heterogener kaum sein könnte. Die eine Gemeinde verlässt sich auf eine Microsoft-Lösung, die nächste auf die Eigenproduktion eines lokalen Dienstleisters, auf Landesebene entwickelt sich eine SAP-Kultur. Wohin das in den 16 Bundesländern führt, erleben System-Anbieter und -Anwender in ihrer Arbeit täglich. Um die technische Seite steht es schlimm im Land. Städte, Länder und der Bund: Jeder wurschtelt vor sich hin, die Systeme sind nicht kompatibel. Die Folge: hohe Reibungsverluste und hohe Kosten.

Auch an anderen Stellen wurden Fehler gemacht. Weil aus der Behörde ein Dienstleister werden sollte, richteten die Verantwortlichen den Blick nicht nach innen, sondern nach außen – und nahmen den falschen Kunden ins Visier.

Richtige Idee – falscher Adressat

Die Wirtschaft wäre der wichtigste Adressat gewesen. Große und mittelständische Unternehmen kontaktieren die Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung so oft, dass „die Vereinfachung der Kommunikation zwischen Verwaltung und Wirtschaft inzwischen sogar für die Standortwahl entscheidend ist“, meint Bitkom-Experte Willi Kaczorowski. In Portugal würden derartige Projekte bereits mit EU-Geldern finanziert. Anders in Deutschland. Hiesige Unternehmen, so besagen Schätzungen, geben pro Jahr etwa 15 Milliarden Euro für Verwaltungskontakte aus – einem 2000-Mann-Betrieb gehen jährlich 365 Personaltage verloren, um Anträge auszufüllen.

Aber der G2B-Bereich, Government to Business, also die Kommunikation zwischen Verwaltung und Wirtschaft, schien den Behörden zunächst weniger wichtig als der Bürger. Für ihn wollten die Verwaltungen bequemer, moderner und anfassbarer werden. Also setzten sie auf G2C, Government to Citizen – und konzentrieren ihre Anstrengungen seitdem vor allem auf die Zufriedenheit einer Zielgruppe, die sich für die neuen Angebote nur mäßig interessiert.

Gut die Hälfte aller Online-Dienste deutscher Verwaltungen, so das Ergebnis einer Difu-Studie, sind für den Bürger gedacht. Anders als ein Unternehmen hat er in der Regel mit der Vewaltung jedoch vergleichsweise wenig zu tun. Anderthalb Behördengänge fallen im Schnitt pro Jahr und Einwohner an, und selbst die bleiben ihm – allen technologischen Bemühungen zum Trotz – bis heute nur selten erspart.

Die Behörden haben Portale gebaut und Informationen ins Netz gestellt, vereinfacht haben sie wenig. Deshalb können die Menschen im Land neuerdings vor allem die vielen Formulare, die sie schon in Papierform nicht verstanden haben, online bestellen und am privaten Computer ausdrucken. Das stößt naturgemäß auf wenig Begeisterung, also ist der Bürger frustriert und hält sich zurück. Für komplexere Vorgänge am heimischen Rechner, etwa eine elektronische Signatur, sind eine persönliche Chipkarte plus Lesegerät nötig – eine komplizierte und mit 61 Euro Anschaffungspreis plus 26 Euro Jahresgebühr angesichts der Zahl notwendiger Behördengänge teure Lösung. Von den 10.000 Signatur-Sets, die im Zuge des Kommunen-Projektes Media@Komm-Transfer an die Bevölkerung in Bremen sogar verschenkt werden sollten, fanden nur rund 6000 einen Abnehmer. Die Hanseaten verzeichnen pro Monat weniger als 100 kartengestützte Verwaltungstransaktionen. Und Bremen gehört zu den Vorzeigekommunen in Deutschland.

Zu wenig Personal für zu viel Bürokratie

Auch das Renommierprojekt des Bundes, Bund-Online, setzt vor allem auf Informations- und Formularangebote, das hat das Handelsblatt im März dieses Jahres recherchiert. Zwar können rund 338 Dienstleistungen der Bundesverwaltung inzwischen online genutzt werden. Überall da, wo komplexere technologische Anstrengungen erforderlich sind, tendieren die Nutzerzahlen jedoch gegen null.

Selbstverständlich ist so manches im Laufe der Zeit auch besser geworden. Heute kann sich der Bürger online an- oder ummelden, er kann Lohnsteuerkarten bestellen, sein Auto zulassen, Volkshochschulkurse buchen, Wunschkennzeichen reservieren oder Anwohnerparkplätze beantragen. Beim Hamburger Finanzgericht können Steuerberater und Anwälte schon seit geraumer Zeit Schriftsätze und Klagen per Mail einreichen. In Niedersachsen werden Scheidungen vom Antrag bis zum Urteil ohne Papier abgewickelt.

„Die Daten sollen laufen, nicht die Bürger“, formulierte Bundesinnenminister Otto Schily einst das Ziel. Aber solange sich die Einstellungen und Prozesse nicht grundlegend verändern, laufen Daten eben nicht, das ist das Problem. 

Tatsächlich ist der E-Government-Prozess in Deutschland ins Stocken geraten, und jetzt steigt von allen Seiten der Druck. Von außen fordert die Wirtschaft den Fortschritt, denn Bürokratie ist zeit- und kostenintensiv. Von innen erzwingen die Umstände eine Reform: Die Kassen sind leer, und den Behörden gehen die Leute aus.

In den nächsten zehn Jahren wird etwa die Hälfte der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Pension gehen, hat Michael Tschichholz, Leiter des Fraunhofer E-Government-Zentrums, errechnet. Dann fehlen die Mitarbeiter, die Akten bearbeiten. Wenn sich an den Verwaltungsabläufen nichts ändert, ist der alte Apparat nicht aufrechtzuerhalten.

Für all jene, die E-Government nicht mit dem Aufbau von Internet-Portalen verwechseln, ist das eine gute Nachricht. Denn wer seine Kernprozesse sauber definiert und seine Geschäfte elektronisch abwickelt, stellt nicht nur seine Kunden zufrieden. Er macht die Organisation auch leistungsfähiger und sorgt bei gleicher oder besserer Qualität für sinkende Kosten; in diesem Punkt unterscheiden sich Kommunen ausnahmsweise einmal nicht von Unternehmen.

Die EU-Kommission, die europaweit die Anstrengungen der öffentlichen Verwaltungen untersuchte, hat ausgerechnet, dass jeder Offline-Prozess in einer Behörde 1,8-mal so teuer ist wie die komplett digitalisierte Variante. Was das in Summe bedeuten kann, hat Stuttgart schon einmal akribisch für sich kalkuliert. Im vergangenen Jahr hat die Stadt ihre Prozesse vom Fraunhofer Institut für Arbeitsorganisation untersuchen lassen und eine exakte Wirtschaftlichkeitsanalyse erstellt. Seitdem wissen die Schwaben genau, was der Transfer eines Arbeitsvorgangs ins Internet kostet – und sie wissen, dass sich E-Government für die Stadt rechnet. Schon durch die Verlagerung einiger weniger Amtsgeschäfte ins Netz ließ sich ein Einsparpotenzial in Höhe von 530.000 Euro durch Mehreinnahmen oder weniger Arbeit nachweisen. Würden etwa Abstammungs- und Geburtsurkunden oder Familienpässe künftig online ausgestellt werden, ließen sich rechnerisch 232 Arbeitstage im Jahr einsparen. Mittelfristig will die Stadt auf diesem Weg zwölf Millionen Euro im Jahr weniger ausgeben.

E-Government ist Chefsache

Einen noch radikaleren Weg beschreitet das Bundesland Hessen, das mithilfe von IT seine gesamte Verwaltung umkrempeln und modernisieren will. Harald Lemke, Staatssekretär im Innen- und Finanzministerium der hessischen Landesregierung, ist der einzige ressortübergreifende Chief Information Officer auf Länderebene. Der Informatiker will E-Government mit einer einheitlichen, zentralen Steuerung kombinieren – nachdem die nötige Innenreform der Verwaltung stattgefunden hat. Erst wenn die entscheidenden Prozesse analysiert und gestrafft sind, sollen die einzelnen Verwaltungen mit einem Content-Management-System vernetzt werden, das die Dokumente sortiert und dann sowohl für den Mitarbeiter als auch für den Bürger abrufbar macht. Nach Angaben eines Sprechers hat die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode zehn Millionen Euro jährlich für das Projekt bereitgestellt, außerdem investiert das Land 300 Millionen Euro in die Computerausstattung. Langfristig will Hessen mithilfe der neuen Organisation und der Technologie 30 Prozent seiner Personalkosten und 20 Prozent aller Sachkosten einsparen.

Das kann sich der Pionier leisten, weil das Land die finanziellen Mittel hat? Falsch gedacht. Das leistet sich das Land, weil es ein kompetentes Management hat. Geld ist auf dem Weg zur modernen Verwaltung in Wahrheit selten das Problem. Eher schon die Erkenntnis, dass E-Government Chefsache ist. „Ein System ist immer nur so gut wie seine Anwender“, meint Bitkom-Experte Willi Kaczorowski. Und die sitzen auch in den Chefetagen der Behörden.

Zwei Drittel aller E-Government-Vorhaben, schätzt Wolfgang Branoner, der Public-Sector-Verantwortliche bei Microsoft, scheitern am Widerstand auf der obersten Ebene. IT ist eine Frage der Führung. Warum sollte das in der Behörde anders sein als in jedem Unternehmen? 

In Progress

Die Ziele sind dieselben, im Vorgehen unterscheiden sich Wirtschaft und Behörde erheblich. Erfahrungen auf dem Weg zur elektronischen Verwaltung.

Das Bundesland Hessen gilt als Vorreiter in puncto konsequenter IT-Strategie. Doch andere Länder, Kommunen und Gemeinden werden über kurz oder lang folgen, da sind sich die Beobachter einig. Der Markt für technologische Entwicklungen im öffentlichen Sektor wird wachsen, die Branche rechnet mit zweistelligen Zuwachsraten in den kommenden Jahren. Zwar gehen die Schätzungen über das Gesamtvolumen deutlich auseinander, doch selbst die pessimistischen Prognosen versprechen den Anbietern beste Geschäfte. Nach einer Studie der Gartner Group gibt der öffentliche Sektor in Deutschland schon heute insgesamt etwa 11,1 Milliarden Euro aus. So viel wie die Telekommunikationsindustrie und der Dienstleistungssektor zusammen. Bis 2008 soll der Markt mit jährlich rund 4,3 Prozent weiter wachsen.

Ein Teil des investierten Geldes wird in die dringend nötige Harmonisierung der heutigen Systeme fließen müssen. Das Land braucht Integrationslösungen, wenn E-Government in Deutschland Realität werden soll. Und die System-Anbieter brauchen neben spezifischen Kenntnissen in Verwaltung und Behörden vor allem Erfahrung und Geduld.

Ein Beratungsprozess mit besonderen Regeln

Die großen Player haben die öffentliche Verwaltung schon seit den achtziger Jahren als Kunden im Visier, in jüngster Vergangenheit gründeten sie für das Segment eigene Abteilungen. Microsoft Deutschland löste den Bereich vor zwei Jahren aus dem Großkundensegment heraus, SAP formierte seine Abteilung Public Services 1996. Gut aufgestellt ist auch die Siemens-Tochter Siemens Business Services (SBS), die sich in Deutschland inzwischen mit rund 1400 Mitarbeitern um öffentliche Auftraggeber kümmert. Oder die Deutsche Telekom, die als einstiges Staatsunternehmen die Hürden der Bürokratie aus eigener Erfahrung kennt. „Bei uns ist die Qualifikation quasi hausgemacht“, sagt Günter Förster, Mitglied der Geschäftsleitung im Public Sector bei der Telekom-Tochter T-Systems, die für die großen und mittelständischen Kunden im Konzern zuständig ist. Die Wettbewerber haben sich mit Erfahrungswissen aus den Verwaltungen präpariert.

Wolfgang Branoner, der Public-Sector-Verantwortliche der Microsoft Deutschland GmbH, war von 1998 bis 2001 Wirtschaftssenator in Berlin. Jürgen Bender, der bei SAP Deutschland die öffentlichen Verwaltungsprojekte auf Bundes- und Landesebene betreut, unterstützte früher Oskar Lafontaine in der saarländischen Staatskanzlei. Torsten Koß, der Leiter des Public-Sector-Bereichs der Walldorfer SAP, arbeitete an der Universität Hannover schwerpunktmäßig in den Bereichen Business Process Reengineering und Controlling im öffentlichen Dienst, bevor er 1996 zu SAP wechselte.

Expertise in verwaltungsnahen Bereichen ist dringend nötig. Denn auch wenn sich die Ziele – Transparenz, Effizienz und Geschwindigkeit – in Behörden und Wirtschaft ähneln: Der öffentliche Sektor funktioniert anders als Unternehmen. Sprache, Erfahrung im Umgang mit moderner Technologie und nicht zuletzt die Flut von Vorschriften und Gesetzen innerhalb der Behörde machen die Projekte für die öffentliche Hand zu einem Beratungsprozess mit besonderen Regeln.

Um Deutschland ins IT-Zeitalter zu hieven, bedarf es mehr als der bloßen Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. „Damit würde man ineffiziente Vorgänge einfach nur elektronisch einzementieren“, meint Senator a.D. Wolfgang Branoner. Deshalb müssen zunächst die Verwaltungsverfahren reformiert werden, danach mache es Sinn, die Abläufe zu elektronisieren.

Fremde Regeln, fremde Technik, fremde Messgrößen – E-Government ist schwer

Für die Apparate bedeutet das: Prozesse überprüfen, Verordnungen und Gesetze verändern oder auch abschaffen und klare, überschaubare und damit E-Government-fähige Strukturen schaffen. Keine leichte Aufgabe für die Bediensteten, die im Laufe ihres Berufslebens mit moderner Technik nur selten in Berührung gekommen sind. Laut Statistischem Bundesamt ist jeder vierte Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zwischen 55 und 65 Jahre alt, entsprechend schwer tut sich so mancher in der Behörde mit den Aufgaben, die E-Government von ihm verlangt. „Bei der Einführung von E-Government ist Change Management unerlässlich“, weiß Bitkom-Vertreter Willi Kaczorowski. Die Mitarbeiter müssten langsam und behutsam an die neuen Prozesse und Anwendungen geführt werden, damit sie sich in dem neuen System wohl fühlten und keinen bleibenden Widerwillen entwickelten.

Auch deshalb muss viel Zeit mitbringen, wer mit der Verwaltung ins Geschäft kommen will. „Vom ersten Kundenkontakt bis zum Vertragsabschluss können 18 bis 24 Monate vergehen“, erzählt Torsten Koß. Dazwischen liegen – als Hauptteil der eigentlichen vertrieblichen Arbeit und typisch für diesen Sektor – Ausschreibung und Vergabeentscheidung für den betreffenden Auftrag. Gewöhnungsbedürftig für die System-Anbieter ist auch die Art, wie Verwaltungen über Investitionen entscheiden. In Unternehmen hilft das Messinstrument Return on Investment (ROI), die Rentabilität von Mitteleinsätzen zu beziffern. Im öffentlichen Sektor ist der ROI hingegen noch weitgehend unbekannt. Die verbreitete Buchführungspraxis der Kameralistik betrachtet nur Ein- und Auszahlungen, nicht aber Aufwendungen und Erträge. Zwar stellen inzwischen viele Städte und Verwaltungen ihre Buchhaltung auf die doppelte Buchführung um, die so genannte Doppik, mit der sie ihre Aktivitäten künftig am Ergebnis der Verwaltungstätigkeit ausrichten kann, statt wie bisher nur nach dem Mittelaufwand zu planen. Der Return on Investment lässt sich damit jedoch nur schwer kalkulieren.

Um eine Messlatte für die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in der Verwaltung zu schaffen, konzentriert sich SAP auf einen „Public ROI“. Eine weiche Größe, die positive Effekte einer Investition sichtbar machen soll. Der westaustralischen Polizei habe der Einsatz des neuen Instruments geholfen, erzählt Thomas Schild, SAP-Manager im Bereich Business Development im öffentlichen Dienst. „Durch den Einsatz der Software konnte die Polizeipräsenz auf der Straße gesteigert werden, da die Beamten durch reduzierte Verwaltungsarbeit weniger an den Schreibtisch gebunden sind.“ Dadurch sei die Kriminalitätsrate gesunken, gleichzeitig habe sich das Sicherheitsgefühl der Bürger erhöht. Der Public ROI habe dabei drei Komponenten. Der soziale Teil beschreibt den Mehrwert für Bürgerinnen und Bürger, im Falle von Australien wäre dies das erhöhte Sicherheitsgefühl. Der politische ROI bildet die bessere Erfüllung politischer Ziele ab, etwa niedrigere Kriminalitätsraten. Der operationale ROI misst die tatsächlich eingesparten Kosten, beispielsweise für Papier oder Porto. In der Praxis habe sich der Public ROI bewährt, meint Thomas Schild. Fortschrittlichen Denkern in der Verwaltung helfe er, sich zu einem Projekt durchzuringen.

Um die verschiedenen Anwendungen im Land zu integrieren, setzen die Technik-Anbieter zurzeit auf Interoperabilität. Sie schaffen Schnittstellen zu fremden Programmen, entwickeln Übersetzungssprachen, die eine Kommunikation zwischen den Systemen ermöglichen oder schaffen eine Plattform, die sämtliche Daten und Anwendungen managt und Aufgaben im System verteilt.

SAP setzt dabei auf die Standardsoftware Net-Weaver, eine Plattform, die verschiedenste Programme, Fachanwendungen und Datenbanken integrieren und als Schnittstelle zwischen dem Bürger und der Verwaltung agieren kann. Microsoft hat neben seinem Betriebssystem Windows XP und einer Standard-Software für den öffentlichen Bereich das E-Government Starter Kit und seinen großen Bruder, Government Gateway entwickelt. Beide Anwendungen versprechen, die Datenkommunikation sowohl zu Fachverfahren als auch innerhalb des Behördenapparats für Bürger und Wirtschaft zu unterstützen.

T-Systems sieht sich als „Dienstleister Public Services“ und richtet den Blick vor allem auf den „vernetzten Föderalismus“, also auf vertikal durchgängige Prozesse zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das Unternehmen unterstützt die Harmonisierung und Integration von Infrastrukturen und Plattformen sowie die parallele Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungs- und Controlling-Systeme. Ein weiterer Schwerpunkt ist Business Process Outsourcing – von der temporären Übernahme von Betriebsaufgaben bis hin zur Übernahme der Betriebsverantwortung kompletter ITK-Infrastrukturen und Plattformen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.