Womacks Weisheiten

Lean Production: Seit 1990 treibt der Begriff Generationen von Managern an. Geprägt hat ihn der Autor James P. Womack, als er Toyotas schlanken Produktionsprozess zum Maßstab für optimales Wirtschaften erhob. Das Buch wurde ein Welt-Bestseller. Doch die Anwender des Konzepts, behauptet der Autor, sind der schlanken Produktion kaum näher gekommen.




McK: Professor Womack, wie hat Ihr Buch „The Machine That Changed the World“ Ihre eigene Welt verändert?

James P. Womack: Ziemlich dramatisch. Bis zum Herbst 1990 war ich ein unbekannter Forscher am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Heute rufen mich Journalisten aus aller Welt an und bitten um Interviews.

Was ziemlich erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass Sie Ihr Konzept in einer Wirtschaftswelt formulierten, die sich seither komplett gedreht hat.

Die Dynamik des Wandels wird übertrieben. Wer genau hinsieht, wird erkennen, dass die rasanten Veränderungen, die alle zu beobachten glauben, so dramatisch gar nicht sind. Wo sind denn all die flachen Hierarchien und virtuellen Unternehmen?
Die meisten Unternehmen, übrigens auch Toyota und alle anderen japanischen Firmen, sind bis heute überwiegend vertikal und funktional organisiert, wenn auch sehr schlank.

Immerhin produzieren Unternehmen heute weltweit. Und das unter völlig anderen Bedingungen als noch vor einigen Jahren.

Die Globalisierung bewegt sich seit etwa 40 Jahren in ziemlich gleichmäßigem Tempo voran, nur dass sie sich in Europa früher nach Süden und Westen, heute gen Osten bewegt. Und die große Produktionsmigration Europas und Nordamerikas nach China, auf die Sie vermutlich anspielen, wird genau so lange anhalten, wie es den Chinesen gelingt, ihre Währung auf einem künstlich niedrigen Level zu halten.
Das rapide Wachstum der chinesischen Produktionsstätten für ihren Heimatmarkt ist etwas anderes. China ist auf dem Weg zur Industrialisierung, diesen Prozess haben Amerika, Europa und Japan auch schon durchlaufen. Die wirklich interessante Frage ist, ob die Chinesen sich beim Aufbau ihrer Produktion auf die klassische Massenfertigung konzentrieren oder gleich eine Stufe höher aufsetzen, bei der schlanken Produktion.

Dennoch: „The Machine ...“ wurde für die Industriegesellschaft geschrieben. Wir bewegen uns in eine Wissensgesellschaft.

Ach ja, die Wissensgesellschaft ... Wissen um was? Wir befinden uns in einer Welt, in der Information allgegenwärtig und Wissen begrenzt ist. Toyota ist, wie der Wissenstheoretiker Ikujiro Nonaka herausgefunden hat, ein brillanter Manager von Wissen, nicht bloß von Informationen. Toyotas Methoden, Wissen in Entwicklungsprojekte und bei der Evaluierung von Produktionsmethoden einzubringen, sind besser als alles, was ich bislang gesehen habe.

Toyota ist für Sie nach wie vor das Vorbild in der industriellen Produktion schlechthin?

Nun, das hängt von der Strategie des jeweiligen Unternehmens ab. Wenn der Erfolg eines Automobilkonzerns vom außergewöhnlichen Design und von dem Feeling der Produkte abhängt, ist Toyota vermutlich nicht das beste Vorbild. Gleiches gilt, wenn Sie Intel heißen und vor allem den nächsten Technologiesprung vorausahnen müssen, um zu überleben. Wenn Sie jedoch zu einer Industrie gehören, in der wirklich einzigartige Produkte selten sind – und das gilt nach meiner Beobachtung für weit mehr Unternehmen in weit mehr Branchen, als es diesen selbst bewusst ist –, hängt Ihr Erfolg entscheidend von Ihrer Prozessqualität in Design, Herstellung, Vermarktung und Kundenservice ab. Und da können Unternehmen aller Branchen von Toyota nach wie vor viel lernen.

Demnach lässt sich das Modell aus Ihrer Sicht auch auf jedes produzierende Unternehmen übertragen. Unabhängig von der Industrie – die Toyota-Philosophie würde jedes Unternehmen besser machen?

Bis jetzt haben wir jedenfalls noch keinen Bereich entdeckt, wo Lean Thinking nicht funktioniert. Maximiere den Wert für deinen Kunden und minimiere die Verschwendung im Prozess der Wertschöpfung – diese Maxime ergibt überall Sinn. Allerdings gestaltet sich die Wertdefinition schwierig in Branchen, in denen Konfusion darüber herrscht, was überhaupt ein Wert ist und was nicht, wie beispielsweise in der Rüstungs- und der Pharmaindustrie.
Viele Rüstungsprojekte sind nichts anderes als Jobmaschinen für die Politiker, die sich für sie eingesetzt haben. Wie effizient die Wertschöpfung ausfällt, ist nicht die Frage. Welchen Sinn würde es also machen, LeanMethoden einzuführen? Und im Gesundheitswesen sind jene, die bezahlen – die Regierung und die Arbeitgeber – ganz andere als jene, die den Service in Anspruch nehmen. Wem soll man in diesem Fall die Definition von Wert überlassen?

Ihr Buch stieß weltweit auf großes Interesse. Auch hier zu Lande ist kaum ein Konzern von den damaligen Erkenntnissen unberührt geblieben. Lean Production hat die Wirtschaft über Jahre geprägt — und die Unternehmen nachhaltig verändert. Sind Sie mit dem Erfolg zufrieden?

Deutsche Unternehmen waren traditionell die mit der größten Hierarchie weltweit; funktionale Silos, in denen Verkaufsentscheidungen stets an oberster Stelle getroffen wurden. Die Folge: Zeitverlust und höhere Entwicklungskosten. Toyotas System der Automobilentwicklung basiert auf bereichsübergreifenden Abstimmungsprozessen zu Beginn eines jeden neuen Entwicklungsprogramms.
Teile dieser Philosophie haben sich tatsächlich verbreitet. In unserem 1996 erschienenen Buch „Lean Thinking“ beschreiben wir beispielsweise ausführlich, wie Porsche versuchte, das Beste der deutschen Ingenieurskultur mit dem Prozessdenken von Toyota zu verbinden. Das Buch hat sich mehr als 300.000-mal verkauft, ich wünschte, ich könnte sagen, es hätte auch in Deutschland viele Leser gefunden.

Sie meinen, es hat sich hier zu Lande noch wenig getan?

Genau das. Die meisten Unternehmen stolpern in der Umsetzung der Toyota-Idee schon beim ersten Schritt, dem Wert. Den gilt es aus der Sicht des Kunden zu definieren – und nicht aus der Sicht des Unternehmens, seiner Assets, Angestellten oder Lieferanten. Denn nur wer das tut, befriedigt eine Nachfrage, statt ein Produkt in den Markt zu drücken.
Danach gilt es, den Wertfluss für jedes Produkt zu identifizieren und jeden Schritt daraufhin zu überprüfen, ob er wirklich Wert oder schlicht Müll produziert. Das Ziel muss sein: ein perfekter Strom aus reinem Wert und null Verschwendung. Die meisten Unternehmen, die ich kenne, haben das nicht getan. Natürlich haben sie Prozesse optimiert, Kosten reduziert, Qualität verbessert, und ja, sie sind auch flexibler geworden. Aber sie betreiben Insellösungen. Eine Abteilung, ein Bereich bessert sich. Die Toyota-Philosophie meint, wenn man so will: ein ganz neues Unternehmen.

Vielleicht lag darin das Problem: Ihr Konzept begeistert Arbeitgeber, Lean Production reduziert am Ende ja nicht nur Verschwendung, sondern auch Arbeitsplätze. Das sorgt für Widerstand: Die Belegschaften haben Angst um ihre Jobs.

Wenn ich mir die Strukturen in Deutschland anschaue, allen voran die Arbeitnehmervertreter, finde ich das nicht sonderlich überraschend. Viele Gewerkschaftsführer hängen immer noch fest an der Wertschöpfungstheorie durch Arbeit. Jede Initiative, die auch nur einen einzigen Job überflüssig macht, wird von ihnen als Vernichtung von Wert empfunden – obwohl dadurch, dass sich die Produktivität verbessert, an anderer Stelle viele neue Arbeitsplätze entstehen. Auf lange Sicht sind aber nur jene Jobs und Assets sicher, die einen wirklichen Wert für den Kunden generieren. Dieser Logik können sich Gewerkschaften, Unternehmen und Nationen vielleicht kurzfristig verschließen. Langfristig werden sie sich ihr nicht entziehen können.

Dennoch: Wo es Gewinner gibt, gibt es auch Verlierer. Wer sind die Verlierer in einer schlanken Produktionswelt?

Wie können höhere Wertschöpfung und geringere Verluste zu einer Gewinner/Verlierer-Logik führen? Doch nur, wenn man glaubt, dass es eine Obergrenze gibt für den Wert, den die Welt verlangt. Angenommen, jedes Unternehmen in jedem Land würde zeitgleich schlanker werden – ich bin sicher, eine solche Entwicklung würde weltweit zu sinkender Arbeitslosigkeit und steigendem Lebensstandard führen.
Das Gewinner/Verlierer-Problem entsteht nur, wenn einige Unternehmen neue Wege in der Industrie ignorieren, während andere sie mit enormem Tempo beschreiten. Das beschreibt in etwa die Geschichte der vergangenen 20 Jahre, aber es muss ja nicht zwangsläufig jene der kommenden 20 sein.

Dann muss sich am Konzept also nichts verändern: Lean Production ist nach wie vor der Schlüssel zum Erfolg?

Das behaupte ich, ja. Es hat eine Reihe von Fällen gegeben, wo Managern entweder das Wissen oder die Überzeugung fehlte, so dass sie nach einem kurzen Programm wieder aufgaben. Abgesehen davon, sind mir keine Misserfolge bekannt.

Vermutlich fühlen Sie sich in Ihrer These durch Honda, Mitsubishi und Nissan bestätigt, die sich dieser Tage mit erstaunlichen Umsatzsteigerungen und Gewinnen zurückmelden.

Keineswegs, denn was wir beschreiben, ist ja nicht die japanische Automobilbranche und schon gar nicht das japanische Produktionssystem, denn ein solches existiert nicht. Unser Konzept basiert ausschließlich auf den Produktionsmethoden, wie sie Toyota entwickelt hat. Die Unterschiede zwischen Nissan, Honda und Toyota sind deutlich größer als jene zwischen der durchschnittlichen japanischen, amerikanischen und europäischen Performance.
Toyota war brillant im Herstellungsprozess, Honda brillierte mitunter mit Produktdesigns für den lukrativen amerikanischen Markt. Alle anderen waren weder im Prozess noch mit ihren Produkten brillant und sind folglich gescheitert. Bis auf Honda und Toyota haben sie in den neunziger Jahren alle ihre Unabhängigkeit eingebüßt.

Und morgen? Welche Entwicklungen könnten aus Ihrer Sicht eine Reform des Lean-Konzepts erforderlich machen?

Erstens treffe ich keine Voraussagen – wer lean denkt, geht davon aus, dass er immer falsch liegt, weil er schon morgen wieder einen Schritt weiter sein kann.
Wenn Sie aber, zweitens, unter lean einen Prozess verstehen, in dem man sehr sorgfältig den Kundenbedürfnissen lauscht, den Wertschöpfungsprozess so auslegt, dass er diese Bedürfnisse mit möglichst wenig Verschwendung erfüllt sowie möglichst flexibel auf neue Bedürfnisse zu reagieren vermag, und sich zudem kontinuierlich um Prozessverbesserungen bemüht – dann ist das nichts anderes als der allgemeine Fortschritt der Industrie seit Adam Smith. Wie könnte diese Idee jemals überholt sein? Wenn Sie allerdings spezifische Methoden aus einem bestimmten Zeitalter meinen – wie beispielsweise Kanban Cards zum Informationsmanagement oder den Gebrauch von Fließbändern, um große Teile durch eine Fabrik zu bewegen –, dann werden diese sich sicher verändern.

Wie könnten die Produktionsstätten der Zukunft denn Ihrer Meinung nach aussehen?

Die ideale industrielle Zukunft würde natürlich so aussehen, dass jeder von uns in seinem Keller seine eigenen Güter produziert. Richtig? Dann hätte jeder genau das, was er braucht, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem er es braucht. Natürlich wird es in dieser Extremform nicht dazu kommen, aber ich glaube, dass wir in Zukunft mehr und mehr Produktionen in relativ kleinen, finanziell unabhängigen, operational integrierten Komplexen innerhalb der einzelnen Verkaufsregionen sehen werden. Diese Fabriken werden aussehen wie ... tja, wie kleinere Versionen von Toyota City.
Toyota ist nach klassischem Verständnis hochgradig de-integriert, das heißt, es stellt so gut wie kein Teil mehr selbst her. Unter Prozessgesichtspunkten hingegen arbeitet das Unternehmen extrem integrativ, indem es mit seinen Lieferanten ersten, zweiten und dritten Grades ein brillantes Joint-Process-Management betreibt. Das ist die Zukunft.

Bei so viel Sympathie für Toyota: Fahren Sie selbst einen?

Nein, viel zu langweilig für mich. Aber als der Autoexperte der Familie bemühe ich mich, meine Verwandtschaft zum Kauf von Toyotas zu bewegen. Schließlich will ich keine Klagen über Autos hören, die nicht funktionieren.

James P. Womack war Forschungsdirektor des International Motor Vehicle Programs (IMVP) am MIT in Cambridge, als er Mitte der achtziger Jahre eine große, mit fünf Millionen Dollar von der Automobilindustrie gesponserte Studie zur Erforschung von japanischen Produktions- und Managementtechniken übernahm. Damals kontrollierten japanische Autohersteller etwa ein Drittel des nordamerikanischen Fahrzeugmarktes. Die MIT-Forscher machten sich auf die Suche nach den Gründen.

Die Ergebnisse veröffentlichte Womack zusammen mit Daniel Roos, dem damaligen IMVP-Direktor, und Daniel T. Jones, damals europäischer Forschungsdirektor, unter dem Titel „The Machine That Changed the World“. Die Toyota Motor Company hat mit ihren Produktionsverhältnissen die Benchmark definiert, die die Forscher schlank nannten. Ihr Konzept tauften sie folglich „Lean Production“. „The Machine That Changed the World“ wurde in elf Sprachen übersetzt und mehr als 600.000-mal verkauft. Lean Production ist ein bis heute weltweit beispielgebendes Konzept.

Womack verließ kurz nach Veröffentlichung seines Buches das MIT und gründete das Lean Enterprise Institute* in Boston. Sein privates Leben, meint er, verlaufe ebenso einfach wie langweilig: eine Ehefrau, („seit vielen Jahren“), „zwei großartige Töchter“ an der High School, zwei Autos, („deren Herstellernamen ich nicht verrate“), viel zu viele Katzen, zwei kleine – „und damit meine ich: wirklich kleine“ – Boote, zwei Häuser („eines in Boston und 150 Jahre alt; das andere, ein Ferienhaus, nur 100 Jahre alt; beide jedoch treiben mich mit endlosen Reparaturen in den Wahnsinn“), und die besten Absichten, lean methods niemals zu Hause anzuwenden.

„Einzige Ausnahme ist unsere Waschküche, für die ich zuständig bin und die ich in eine nette Arbeitszelle mit vier Stationen verwandelt habe: Sortierstation, Waschmaschine, Trockner plus Platz fürs Zusammenlegen. In dieser Zelle arbeite ich mich systematisch vor und bemühe mich, jegliche Form von Muda** zu vermeiden.“

* Das Bostoner Lean Enterprise Institute wurde 1997 als gemeinnützige Forschungseinrichtung gegründet. Es veröffentlichte unter anderem eine Serie von Büchern über die Umsetzung des Lean-Konzepts und veranstaltet Workshops und Kongresse zum Thema. Weitere Informationen: www.lean.org
** Muda: Laut Womack „das einzige japanische Wort, das wirklich jeder kennen sollte: Es klingt furchtbar, wenn es über die Zunge rollt, und das soll es auch, weil muda ,Verschwendung‘ bedeutet, vor allem jede menschliche Aktivität, die Ressourcen verbraucht, aber keinen Wert erzeugt: Fehler, die korrigiert werden müssen, Produktion von Dingen, die niemand will, so dass die Lagerbestände in die Höhe schnellen, die Restposten sich stapeln und so weiter“.

James P. Womack, Daniel T. Jones & Daniel Roos:
The Machine That Changed the World. The Story of Lean Production. Perennial, New York, 1991; 323 Seiten; 13,02 Euro

James P. Womack, Daniel T. Jones:
Auf dem Weg zum perfekten Unternehmen – Lean Thinking. Heyne Taschenbuch, München, 2001; 510 Seiten; 8,95 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.