Liebe Mimi, sag endlich was. Mimi sagt: „Buh!“

Man müsste, könnte, sollte. Effiziente Logistik, optimale Versorgung, Pünktlichkeit und Zufriedenheit sind das Ziel. Auch in einer Großfamilie. Operative Exzellenz. Oder wenigstens der Versuch.




Unser Tag hat nicht genug Stunden. Unser Monat nicht genug Tage. Und wir haben nicht genug Geld. Statt Zeit und Geld nur sechs Kinder. Ausreichend Hunde. Mehr als genug Pferde. Zu viele Meerschweinchen. Zwei Wellensittiche. Ein Haus. Einen Job.

Nein, Sie müssen’s nicht sagen, ich gebe es zu: Wir sind an diesem Tohuwabohu selbst schuld. Es hat uns keiner zu nichts gezwungen, wir haben uns freiwillig in ein lebenslanges Chaos gezeugt. Wir haben Hunde und Pferde gekauft, die Meerschweinchen immer mehr werden lassen, die Wellensittiche sind Scheidungswaisen. Eine Dame, die es gut mit den Vögeln meinte, hat sie uns geschenkt. Sie dachte, was alle Unwissenden belieben zu denken: „In einem Haushalt, wo ohnehin schon so viele Lebewesen bunt durcheinander trubeln, fallen zwei weitere Wesen doch gar nicht auf.“ Wir wissen es besser. Zwei Wellensittiche sind zwei Leben, die es gilt, in das unsere zu integrieren. Und darin haben nicht mehr viele Platz.

Ich weiß, es gibt Leute, die glauben, eine vernünftige Organisation sei alles. Es reiche ein Tagesplan, straff geführt, streng befolgt, Häkchen hinter das, was erledigt ist, weiter, Häkchen, weiter, und man habe das Leben im Griff. Alles nicht so schlimm. Der Kollege M. beispielsweise, der mir, zeit meiner Lehrjahre, in der Großraumredaktion einer Zeitung gegenübersaß. Der pflegte mich, damals noch Vierkindermutter, zu rügen: „Nun bleiben Sie mal auf dem Teppich! Vier Kinder, das ist doch halb so wild. Die gehen morgens zur Schule, kommen nach Hause, essen Mittag, dann machen sie ihre Schulaufgaben, gehen anschließend ein bisschen spielen und fallen schließlich todmüde ins Bett. Wo ist das für Sie Stress?“ Muss ich erwähnen, dass der Herr kinderlos war und blieb?

Ich weiß, es gibt Leute, die denken: Was treiben die den ganzen Tag bloß? Sie zu Hause. Schreibend, na ja. Er zu Hause. Putzend, na ja. Warum mähen die ihren Rasen nicht, renovieren nicht ihre Küche, warum fegen die nicht den Rinnstein vor ihrer Tür? Die haben doch Zeit! Wer hat’s gesagt? Die Nachbarin. Wie viele Kinder hat die? Drei. Wo war sie gerade? Zur Kur. Warum? Weil sie „völlig kaputt“ von ihrem Hausfrau- und Mutterleben war. Schade, Nachbarin, dass du’s trotzdem nicht besser weißt.

Man könnte, müsste, sollte. Um vier Uhr früh aufstehen. Die Wäsche aufhängen, die über Nacht waschen musste, weil im Dunkeln wunderbarerweise der Strom billiger ist als im Hellen. Sich an den Schreibtisch setzen und den stillen Stunden des grauenden Morgens erste geldwerte Texte abringen. Dann den Frühstückstisch decken. Die Kinder wecken. Um den Tisch sitzend, ordentliche Familie spielen. Die Sittiche füttern. Die Hunde. Die Meerschweinchen. Die Kinder zur Schule fahren. Weiterarbeiten. Man könnte, müsste, sollte. Aber man schafft es nicht. Wir nicht. Denn morgens um vier sind wir noch müde. Von all den Dingen, die wir am Vortag nicht geschafft haben. So ist das: Das Nichtschaffen ermüdet mehr als das Schaffen.

Also stehen wir um sechs auf. Manchmal halb sieben. Wecken die Kinder. Die ungerührt weiterschlafen. Brühen Kaffee. Stoßen Türen auf. Brüllen in Zimmer: „Aufstehen! Es ist schon sieben!“ Und um viertel nach sieben müssen wir fahren. Weil um acht die Schule beginnt. Bus? Gilt für uns nicht. In einem berechtigten Anfall von „Schnauze voll von den deutschen Schulen und ihren greisen Psychopädagogen“, vertrauten wir unsere Kinder einer dänischen Schule an. 17 Kilometer von hier. Zwischen uns und den Dänen kein Busverkehr. Also spielen wir Taxi. Bis zu viermal am Tag. Weil die vier Kinder, die diese Schule besuchen, zu unterschiedlichen Zeiten Schulschluss haben. Weil diese vier Kinder im Schulort auch noch Pfadfinder sind. Weil eines Kopfweh hat und am Telefon heult, es will außer der Reihe nach Hause geholt werden. Weil eines Bauchweh hat und das Elterntaxi zu Hilfe ruft. Diesem Hinfahr- und Abholtrubel ist mit keinem Organisierungswillen beizukommen.

Ich muss Sittiche füttern, Hunde, Meerschweinchen, Pferde

Viertel nach sieben. Fertig machen zur Abfahrt. Eins, zwei, drei, wo ist das vierte Kind? Unter der Dusche! Um viertel nach sieben! Ist es zu fassen? Wir schlagen mit Fäusten gegen die Badezimmertür. Brüllen: „Darryl! Wir wollen fahren!“ Ja, brüllt das Kind zurück, komme ja gleich. Dann, vorwurfsvoll: „Warum habt ihr mich denn nicht eher geweckt?“ Von der Haustür keift die Stimme der Schwester: „O nö, ey! Ich hab’ jetzt keinen Bock, dass wir auf Darryl warten! Ich will zur Schule! Ich komme zu spät! Darryl macht das immer!“ So viel ist wahr.

Der Vater fährt. Ohne Darryl. Der keift: „Warum warten die nie auf mich?“ Und: „Kannst du mich fahren, wenn Papa wieder da ist?“ Auf keinen Fall! Ich muss Sittiche füttern, Hunde, Meerschweinchen, Pferde. Und im Computer lauert ein Redakteur auf meinen Text. Also schnell füttern. Dann schreiben. Und ja nicht die E-Mails abrufen: „Wie weit sind Sie?“ Weiterschreiben. Ja nicht ans Telefon gehen: „Bis spätestens sechs müssen Sie fertig sein!“ Weiterschreiben. Der Hund hat im Haus eine Pfütze gemacht. Mimi ruft vom Klo: „Popo abwischen!“ Nur noch sieben Stunden für 10.000 Zeichen. Hat jemand da draußen auch nur eine Ahnung, wie kurz sieben Stunden sein können?

Aber schnell ist nicht. Noch bevor ich das Badezimmer betrete, ruft Mimi mit Po im Klo: „Erst rufst du mich, dann musst du mich suchen, dann weinst du, okay?“ Das ist ihr Spiel. Und ich spiel’s gern, aber jetzt bitte nicht, denn jetzt habe ich keine Zeit. Überhaupt keine Zeit. Das rufe ich ins Bad. Auf dem Klo bricht ein kleines Mädchen in Tränen aus.

Wie kriegen wir sechs Kinder satt? Gerade so eben

Bis sechs heute Abend! Es ist viertel nach elf. Okay, was soll’s, die fünf Minuten. Ich rufe: „Mimi?“ Ich gehe ins Bad. Ich tue, als ob ich in diesem Vier-Quadratmeter-Badezimmer die Mimi nicht sehen kann, die neben der Dusche steht und fasziniert auf mich starrt. „Mimi?“ Ich klappe die Schranktüren auf, keine Mimi. Ich ziehe den Vorhang der Dusche zur Seite, keine Mimi. Ich gucke durchs Loch der Klopapierrolle, keine Mimi. Wie schwer es ist, auf vier Quadratmetern glaubhaft ein Nichtsehen vorzuspielen! Mimi ist von meiner Darbietung ganz offenbar entzückt. Wie weit sind Sie denn nun?! Sie lässt mich noch zwei-, drei-, zehnmal rufen. Dann schluchze ich folgsam drauflos: „Wo ist meine Mimi, ich will Mimi zurück!“ Wenn die so schmerzlich Vermisste einen guten Tag hat, lässt sie mich fünf Minuten weinen. Hat sie einen schlechten, werden es schon mal zehn. Heute hat sie einen schlechten Tag. Ich schluchze mir die Kehle wund. Sind Sie schon weitergekommen? Bitte, Mimi, liebe Mimi, sag endlich was. Mimi sagt: „Buh!“ Und ich freue mich, freue mich, dass mein Kind wieder da ist. Und dass ich endlich weiterschreiben kann. Ach, nein! Erst die Hundepfütze aufwischen. Und wie viele Zeichen haben Sie jetzt? Noch sechs Stunden für 10.000 Zeichen. Das Telefon klingelt. Diese Redakteure werden es nie mehr lernen. Die sollen nicht anrufen, sondern mich schreiben lassen.

Reden wir kurz über Geld. Wie kriegen wir sechs Kinder Tag für Tag satt? Gerade so eben. An manchen Tagen will uns scheinen, das Geld wird ausreichen bis zum nächsten Geld, an den grässlichen Tagen zwischen manchen Tagen wissen wir, es reicht nicht. Dann steht kaugummiwälzend der Herr vom Finanzamt vor unserer Tür und fordert in einer Mega-Live-Pfändungs-Show all die schönen Legenden von Kinderreichen zunichte, die keinen Pfennig Steuern zahlen. Er fährt vor, auf einer schicken alten BMW, wie mein Mann sie gern führe. Er benutzt niemals das Gartentor, sondern setzt im Schaut-nur-wie-jung-und-agil-das-Geldeintreiben-mich-hält- Sprung über unseren Zaun. Er riecht, wie sonst nur Damen riechen, die ihr Geld in Parfümerien verdienen. Dazu trägt er einen so intensiven Teint zur Schau, dass es Andreas einmal verlockte zu sagen: „Der ist nicht braun gebrannt, der ist schon kross.“ Selbstverständlich tut seine Erscheinung nichts zur Sache, sie tut mir nur weh.

Was gibt es heute zu essen? Und wann? Und warum nicht jetzt?

Um wie viel lieber ließe ich mich von einer grauen Finanzamtsmaus schröpfen, als von diesem prallen Bündel Lebenslust. Einer Maus gegenüber zöge ich meine Spendierhosen an, streckte ihr meine Scheine hin und riefe: „Nimm, Grauer! Offenbar gönnst du dir ja sonst nichts.“ Unser krosser Hells Angel vom Amt aber gönnt sich offenbar alles, und offenbar alles von unserem Geld. „Recht so!“, werden die Leser rufen. „Wer viel hat, muss auch viel berappen!“ Mit Verlaub, das ist Quatsch. Denn erstens verdient man mit Schreiben kaum Geld, und zweitens ist selbst das, wenn man’s genau nimmt, zu viel. Jeder weiß doch: Schreiben ist keine Arbeit. Es ist ein Hobby. Wie Angeln, Reiten, Fahrradfahren. Und können kann’s jeder. Aber während die meisten Menschen vernünftig sind und bereit, sich ihren Lebensunterhalt ehrlich zu erschuften, lassen sich andere dreist ihre Freizeit bezahlen. Haben Spaß. Brausen froh gelaunt in der Gegend herum. Nach Kalifornien, Bosnien, Kasachstan. Wilde, schillernde Reisen sind das, die sich der Verleger gutherzig von den paar Millionen abspart. Dann setzt sich der Schreiber ins warme Stübchen, aalt sich in seinen Lieblingswörtern, endlose, glückliche Tage lang, setzt hinter das Textchen den letzten Punkt und fordert allen Ernstes für sein Vergnügen Geld.

Nur nicht an das klingelnde Telefon gehen. Menschen, die mich vom Schreiben abhalten, gibt es in diesem Haus genug. Stattdessen: weiterschreiben. Spaß haben. Werden Sie es schaffen? Es ist eins. Der Vater hat einen Teil der Kinder zurück ins Haus gebracht. Das Haus ist wieder laut. Was gibt es heute zu essen? Und wann? Und warum nicht jetzt? Kann ich heute mit Nelly, Pelly oder Quelly spielen? Kann ich das Telefon haben? Kann ich mal ins Internet? Auf keinen Fall! Da lauert der Redakteur.

Von meinem Schreibplatzfenster aus kann ich sehen: Auf der Straße läuft ein Hund. Es ist meiner. Ich brülle: „Wer hat das Gartentor aufgelassen? Der Hund ist auf der Straße!“ Was sehr viel schlimmer ist, als es ist. Denn gegenüber wohnt einer, der kennt sich sehr gut in Gesetzen aus, und der weiß beispielsweise, dass in der Hundeverordnung steht: „Hunde dürfen niemals allein auf der Straße herumlaufen. Nicht mal manchmal. Und schon gar nicht aus Versehen.“ Oder so ähnlich. Und der Gesetzeskenner von gegenüber hat sehr viel mehr freie Zeit als wir. Die verbringt er damit, aufs Ordnungsamt zu laufen und zu klagen, dass am Montag, ein Uhr zwanzig, ein Hund auf der Straße lief. Nämlich unser. Der Amtmann soll etwas dagegen machen! Das tut der dann auch. Er schreibt uns einen Brief. Dass wir ihm innerhalb einer Woche bitte schön erklären sollen, warum unser Hund auf der Straße lief, Montag, ein Uhr zwanzig, Herr Sowieso hat’s genau gesehen und angezeigt. Weil’s verboten ist. Und ich höre für ein paar Stunden auf, für Geld meinem Hobby nachzugehen. Ich schreibe gratis dem Amtmann: „Wenn jeder wegen jedem Pipifax zum Amt rennen wollte, wer sollte das bezahlen?“ Die Frage ist natürlich rein rethorisch, ich weiß ja, wer es bezahlen wird: ich. Der krosse Herr auf der BMW wird es eintreiben.

Es ist halb drei, und noch 3000 Zeichen fehlen. Können Sie mir wenigstens schon mal eine kleine Probe Ihres Textes schicken? Der Vater hat die restlichen Kinder zurück ins Haus gebracht. Der Lärmpegel ist jetzt jenseits von arbeitsfördernd. Rumtata-Musik aus dem Teenagerzimmer. Lenny, sechs, würgt nach Herzenslust Mimi, vier. Vier rennt mit dem Messer hinter Sechs her. Der Vater versucht sich all dem zum Trotz an der Steuererklärung. Faltet dann doch lieber Wäsche. Das geht auch mit Lärm. Wischt die Treppe. Auf die gleich darauf der Hund pinkelt. Wann wird so ein Hund eigentlich stubenrein? Ich bin müde. Möchte Kaffee holen. Wo bleibt Ihr Text? Die offizielle Wellensittichbetreuerin tobt ins Zimmer: „Meine Vögel haben ein Ei gelegt!“ Wie schön. Es ist fünf! Noch 1500 Zeichen. Das schaffe ich nie. Schaff’ ich doch. Wie, weiß ich nicht. Und der Vater hat zwischen Wäschefalten, Wischen und Wischen, Steuererklärungsversuchen, Staubsaugen und Kinderunterhalten zwei Bleche Pizza gebacken. Wie, weiß ich nicht. Und für einmal am Tag sitzen wir alle zusammen am Tisch und spielen ordentliche Familie.

Waschen dann Kinderfüße und Kinderhände. Beaufsichtigen die Zahnhygiene. Wünschen eine gute Nacht. Unsere wird noch lang. Die Steuererklärung. Der nächste Text. Haben Sie schon angefangen?

Manchmal sehnen wir uns großelterngleich nach einer Kur, allen Ernstes. Mutter und Kind. Vater und Hund. Was ist egal. Wohin ist schnuppe. Nur weg. Drei Wochen lang nicht mehr das Leben in eine angestrengte Ordnung denken müssen, an die sich dann ohnehin keiner hält, weswegen schnell eine Neuordnung zu ergrübeln ist, an die sich ohnehin keiner hält und so weiter. Sich wie der Mann aus der Jever-Werbung, der ganz gewiss kein einziges Kind hat, rücklings auf den Sandstrand klatschen lassen und brüllen: „Kein Stress! Keine Termine!“ Unseretwegen nicht mal ein Bier. Aber der Weg zur Kur ist in Deutschland weit. Und Zeit raubend.

Erst mal muss man die Krankenkasse davon überzeugen, dass man auch wirklich, wirklich bedürftig ist. Wahrhaft überlastet. Dauerhaft übermüdet. Das muss man beweisen. Einfach hingehen zu der Frau Krankenkasse und schreien: „Ich kann nicht mehr!“, ist nicht. Könnte ja jeder kommen. Zum Beispiel jeder, der sechs Kinder hat. Und die werden ja nun nicht alle überlastet sein. Wovon denn? Also bitte: Beweise sammeln. Und zwar viele. Von einem Arzt. Besser noch: von vielen. Wie oft war man bei denen und hat über Kopfweh geklagt? Hat seinen kaputten Rücken beweint? Hatte man schon mal Herzrasen, Kreislaufbeschwerden, litt man erwiesenermaßen irgendwann unter Sehstörungen, Pickel, Krätze, irgendetwas, was auch nur ein wenig nach Überforderung riecht? Nein? Warum denn nicht, wenn man sich doch so krank und müde fühlt, hm? Sehr einfach: weil man als Eltern von sechs Kindern nicht die Zeit für diese Ärztetournee hat.

Stattdessen schlage ich vor: ein attestfreies Kurangebot für die paar Kinderreichen im Land. Einmal im Jahr für zwei Wochen Sonne, Strand, pauschal. Kein Stress, keine Termine, kein Bier. Keine Kinder.

Und als Beweis, dass unser Rund-um-die-Uhr-Manager-Geldbeschaffer- Kinderbetreuungs-Taxifahrer-Job ausreichend schlaucht, übertrage ich ihn für die Dauer unserer Kur der Gesundheitsministerin.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.