Der Verstand ist ein Hirnkasten

Vor des Sommerschlosses Platze
Kniet er nieder im Gebet.
Auf die allerhöchste Glatze
Manches weiße Flöcklein weht.

(Julie Schrader)




Nun, es gibt Dinge, die perfekt auf die Welt gekommen sind. Das Wiener Schnitzel. Das Kartoffelpüree. Das Word 5.0. Das Nokia-Handy. Die Cola.

Und irgendwann, so stellt man sich vor, war der Produktmanager des Nichtstuns müde. Er saß in der erfolgreichen Cola-Fabrik, als ihn eine Idee traf: Cola? Seit mehr als 100 Jahren dasselbe. Das muss sich ändern. Wir müssen das ändern. Der Mensch ändert sich. Die Umwelt ändert sich. Die Bedürfnisse ändern sich. Der Mensch will Neues. Eine neue Wohnung. Ein neues Auto. Eine neue Haarfarbe im neuen Auto. Will nicht immer sagen Hildegard oder Helmuth, sondern auch mal Ina oder Igor. So ist der Mensch. Und wir? Wir geben ihm, was er will.

Der Produktmanager überzeugte seinen Chef. Die nicht mehr taufrische Cola müsse verbessert werden. Das Image sei angestaubt. Der Zeitgeist fordere neue Aromen. Neue Frische braucht das Land. Wie wär’s mit Zimt? Kirsche? Chili? Vanille? Zitrone? Der Chef nickte. Cola mit Zitrone. Eine tolle Idee! Die Menschen verlangen eh immer einen Zitronenschnitz zur Cola. Die Umsätze würden steigen. Er würde steigen, aufsteigen. In den Verwaltungsrat. Zitrone. Genau. Cola mit Zitrone. Warum war man nicht schon früher darauf gekommen? Er drückte den Knopf: „Frau Götzke?“ Er bemühte sich um Contenance. „Ja, bitte?“ – „Geben Sie mir den Reklameleiter!“

SCHMUTZIE RIECHT NACH GRÜNEM APFEL

Bald hing die Stadt voller Plakate. „Zitrone, Zitrone – jetzt geht es nicht mehr ohne!“, hatte sich die Agentur ausgedacht. Und sie hatte wortreich begründet, was dem Creative Director zu später Stunde bei einem Glas Primitivo eingefallen war. „You are important to us“, hatte der Agenturleiter den Cola-Managern ausgeführt, „Ihre Meinung ist uns wichtig, please hold the line.“ Der Chef aber sprach kein Englisch. Er blickte wie ein Huhn, wenn’s blitzt. „Auch wenn das Warten in der Leitung ein Leben lang dauert“, fügte der Agenturleiter irritiert bei, „wir lassen den Faden zu unseren lieben Konsumenten nicht abreißen.“. Das saß.

Die Konsumenten reagierten überrascht. Jahrelang waren sie der Versicherung erlegen: „Cola – das ist’s!“ Und nun Zitronensäure. Es gab lange Wortmeldungen auf einer (ob Sie’s glauben oder nicht: realen) Netzseite. Nebenbei: Man fragt sich manchmal schon, ob der Mensch nichts Gescheiteres zu tun hat. Also.

„Würg, das schmeckt grausig! XXX Amanda.“
(Das große X steht für einen großen Kuss.)

„Eklig. Lianne x.“
(Der guten Ordnung halber: Das kleine x steht für einen kleinen Kuss, also für ein Küsschen. Aber ich denke, das haben Sie sicher bereits begriffen.)

„Ich liebe liebe liebe das Zeug mit den Zitronen drin. Aber versucht bloß das Zeug mit Vanille nicht. Es schmeckt fauler als faul. Sarccyslayer.“

„Ich tu’ lieber ein Stück frische Zitrone rein. Viel köstlicher. Schmutzie.“

„Tach, Schmutzie“, schrieb der Produktmanager und presste die Lippen aufeinander. „Dein Haar riecht nach grünem Apfel! Und solltest du in deinem Alter nicht längst Stützstrümpfe tragen?“

ZUM FRÜHSTÜCK BLONDE ZÄHNE

Auch andere wurden von der Idee angesteckt, Bewährtes neu erfinden zu wollen. Wir müssen schließlich alle besser werden. Mit Altbewährtem verdient man sich keine Lorbeeren. Das Wiener Schnitzel wurde fortan „mit Tunke“ serviert. Die schöne Kruste wurde pampig. Die Gäste ebenso. Das Kartoffelpüree wurde mit Safran versetzt, „weil es so schön gelb ist“, wie der Starkoch in seiner Fernsehsendung geschwärmt hatte. Und der Zuschauer erinnerte sich beim Anblick der Zähne des Kochs an die schöne Geschichte, als ein Text, der das Sprichwort „Morgenstund’ hat Gold im Mund“ enthielt, in sämtliche Uno-Sprachen übersetzt worden war. Nach Englisch, Französisch, Chinesisch und Spanisch und so weiter schließlich wieder zurück ins Deutsche. Das Resultat klang überraschend: „Zum Frühstück blonde Zähne.“

Auch das Word 5.0, ein schlankes Textprogramm, mit dem Meisterwerke geschrieben wurden, erfuhr mehrere Verbesserungen. Man hängte so viel Schnickschnack an, dass die alten Computer umfielen und abstürzten. Ein neuer Computer musste her, das neue Word ebenso. Seither werden die Konsumenten erschlagen von der Menge der Möglichkeiten.

Wollen Sie Ihrer Mama einen Brief schreiben und schreiben „Liebe Mama“, poppt ein Helferlein auf den Schirm und stellt hinterlistige Fragen wie: „Anscheinend möchten Sie einen Brief schreiben. Brauchen Sie Hilfe?“ Danach behandelt das verbesserte Word jeden Text so wichtig, als wäre er kein Brief, sondern eine Habilitation mit Fußnoten, Kopfzeilen, hunderten von Unterkapiteln und beeindruckenden Nummerierungen wie 1.1.4.3.2.

Schreiben Sie in einem deutschen Text das englische Wort „its“, iBook oder EM.TV, verbessert Word so hartnäckig, bis die Verfasser darüber den Verstand verlieren. (Für solche, die ihn noch haben: Unter „Bearbeiten“ die „Voreinstellungen“ wählen und alles außer Betrieb setzen. Dann haben Sie wieder mehr oder weniger das alte Word.)

Eine der humorvolleren Neuerungen ist der „Thesaurus“, ein Programm, das besseres Deutsch verheißt. Ich habe es eingeschaltet, um zu prüfen, was „Thesaurus“ an einzelnen Wörtern im bisherigen Text verbessern würde. Schmutzie habe möglicherweise mit „Spiritismus“ zu tun, meint der Thesaurus kühn, bei Diskette kommt ihm „Floppy“ in den Sinn, poppt wäre eventuell durch „pappt“ zu ersetzen, und Verstand ist für ihn ein „Hirnkasten“.

WANN IST GENUG?

Geruch und Geschmack sind sozial klassierend. Denken Sie an Kuhfladen. Schweiß. Moschus. Fisch. Wenn Cola das Authentische ist, dann ist die Cola Citron Kitsch, eine Spekulation auf die Magie des Originals. „Der schlechte Geschmack ist der sicherste Weg zum guten Geschmack, weil er korrigierbar ist, genau so wie das Wahre eine ewige Korrektur des Falschen ist“, schreibt der Kommunikationsforscher Abraham Moles im Essayband „Kitsch“.

Selbstverständlich ist Gutes wiederholbar. Ein Teller frische Pasta ist jedes Mal wieder etwas Herrliches. Aber wir sprechen davon, einen Produktklassiker verbessern zu wollen, und das gehört zum Schwierigsten überhaupt. Kaffee mit Erdbeeraroma, das ist wie Blue Jeans mit Bügelfalte, mit Stickereien drauf oder mit Glitzersteinchen. Alles kurzlebige Launen. Ein prächtiger Montblanc-Füller, dem ein Diamäntchen eingebohrt wird, sieht eher jämmerlich aus. Es ist die Abweichung, die stört, das Zuviel des Guten. Nichts gegen Diamanten. Und schon gar nichts gegen eine gute Feder. Aber die Kombination – ist die nötig? Es ist die Reduktion aufs Wesentliche, der Mut zur Schlichtheit, der einen Archetypen schaffen kann.

Zur Orientierung ist Lebenserfahrung manchmal sachdienlich. Manchmal die Wiederholung, bis sich Weisheit einstellt. Lernen wir von Zsa Zsa Gabor! Frau Gabor war mindestens achtmal verheiratet. Sie war eine Filmschauspielerin oder so, inzwischen ist sie berühmter für das Ohrfeigen von Verkehrspolizisten. Nun, jedenfalls sagte Frau Gabor nach der Scheidung von ihrem achten Ehemann etwas Bedenkenswertes: „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich gleich bei meinem ersten Ehemann bleiben können.“

Merke: In manchem ist der Konsument konservativer und treuer, als man denkt. Wenn er es bloß wüsste.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.