Das Netzwerkzeug

Wer im globalen Logistikgeschäft erfolgreich sein will, muss die unterschiedlichsten Transportsysteme und -netze zu einem funktionierenden Ganzen verschmelzen. Das ist leichter gesagt als getan. INCA, ein Optimierungs-Tool von McKinsey & Company, kann dabei helfen.




Túpac Yupanquis Netzwerk war gigantisch. Es umspannte fast die gesamte Westküste Südamerikas und reichte von der Küstenebene Ekuadors bis an den Río Mapocho, an dem heute die chilenische Hauptstadt Santiago liegt – rund 40.000 Kilometer Straßen, Wege und Seil-Hängebrücken, die zwölf Millionen Menschen miteinander verbanden. Der Mann mit dem komplizierten Namen herrschte zwischen 1471 und 1493 über die Inka in Südamerika. Und das Straßennetz war Rückgrat und Nervensystem seines Staats. Im Zentrum lag die Hauptstadt Cuzco, in der Inkasprache der Ausdruck für „Nabel der Welt“. Auf den tausenden Straßenkilometern ringsum zirkulierten Soldaten, Arbeiter und Beamte sowie menschliche Träger und Lamakarawanen mit Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Neuigkeiten. „Das Netzwerk ermöglichte einen für die damalige Zeit extrem effizienten und schnellen Transport von Informationen, Gütern und Menschen“, sagt der US-Anthropologe David Jenkins, der das alte Straßensystem in einer Studie analysiert hat.

Das ausgefeilte Logistiknetz war nötig, weil seine Betreiber ständig auf Expansionskurs waren. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert stiegen die Inka von unbedeutenden Lokalfürsten zu Herrschern über die gesamte Andenregion auf. Am Ende umfasste ihr Reich Teile des Territoriums von fünf heutigen Staaten des Kontinents. In der heißen Phase integrierten sie in gerade mal 100 Jahren rund 80 verschiedene Stämme und Staaten in ihr System – also fast jedes Jahr ein neues Volk, eine fremde Kultur, ein weiteres Teilnetz von Verkehrsverbindungen. Die Unterworfenen wurden Teil des Inkastaats, ihre Straßen ausgebaut, mit ein paar neuen Brücken verbunden und in das bestehende Netz eingefügt. „So schufen die Inka nach und nach aus vielen Teilen einen großen einheitlichen Staat“, erklärt Jürgen Golte, Professor für Altamerikanistik an der Freien Universität Berlin.

Wer mithalten will, muss schneller werden

Die rasante Expansion ist ein eindrückliches Beispiel für die Lösung eines Problems, mit dem sich heute, mehr als 500 Jahre später, viele Logistikunternehmen herumschlagen: der Zusammenlegung unterschiedlicher Netzwerke zu einem sinnvollen Gesamtsystem. Ein System, in dem es Synergien gibt anstelle von Dopplungen, reibungslosen Verkehr statt Reibereien an den Schnittstellen. „Das ist eine der schwierigsten Aufgaben, vor denen ein Logistikunternehmen stehen kann“, sagt Martin Stuchtey, Partner bei McKinsey. Das Beratungsunternehmen löst sie mit einem komplexen Analysemodell, das seinen Namen von den alten Logistikmeistern hat: INCA.

INCA ist ein Tool, das Transportunternehmen – sei es zu Wasser, zu Lande, in der Luft oder quer über alle Transportarten hinweg – helfen soll, die Schwachstellen in ihrem System zu erkennen und besser zu werden.

Denn das müssen sie: Die Kundschaft von Postdienstleistern, Spediteuren oder Luftlinien wird immer anspruchsvoller. Wer sich als Dienstleister im weltweiten Logistikgeschäft empfehlen will, muss schneller, preiswerter und zuverlässiger werden. Das kann im Einzelfall durch Konzentration gelingen – auf bestimmte Kunden und spezifische Kernstrecken. Wer jedoch wachsen will, muss Netzwerke betreiben. Und die Zauberformel im Netzwerk heißt Konnektivität. Sie wächst mit der Größe des Netzes, denn Konnektivität treibt den Kundennutzen, Kundennutzen treibt Volumen, Volumen treibt Kosten, beziehungsweise reduziert sie, was wiederum dem Kunden zugute kommt. Deshalb ist im Netzwerkgeschäft „größer fast immer besser“, erklärt Stuchtey. Steigt das Fracht- oder Passagieraufkommen dank des attraktiveren Angebots, sinken die Kosten pro transportierter Einheit. Das Unternehmen kann besseren Service für weniger Geld anbieten oder mehr Direktverbindungen zwischen zwei Städten – und die Aufwärtsspirale weiter beschleunigen. Die Strategie der Frachtunternehmer heißt deshalb Wachstum, und das lässt sich am schnellsten über Zukäufe realisieren. Doch die Investition lohnt nur, wenn die Käufer das fremde Netzwerk auch sinnvoll in das eigene integrieren und dafür sorgen, dass das Gesamtsystem reibungslos läuft.

Das allerdings ist heute viel komplizierter als noch bei den Inka. Moderne Logistiknetzwerke bestehen nicht mehr nur aus Straßen, Lagerhäusern und Lamakarawanen. Sie sind ein komplexes System aus Kundenzentren, Fahrtrouten und -plänen, Fahrzeugen, Verteilstationen, Kundenadressen und -beziehungen. Das Verbinden zweier solcher Systeme zu einem gut funktionierenden Ganzen ist in etwa so kompliziert, als wollte man aus zwei Sprachen eine machen – inklusive aller Vokabeln, phonetischen Regeln und Zeichensetzungskonventionen.

Ein Beispiel: Eine deutsche Spedition kauft einen schwedischen Konkurrenten. Kaum ist der Deal perfekt, gilt es eine Vielzahl von Fragen zu beantworten. Zwischen welchen Niederlassungen der beiden Speditionen soll es Direktverbindungen geben, wo sollen Frachtstücke dagegen über zentrale Sammelstellen geleitet werden? Über welche Transportmittel kommt die Fracht nach Schweden – Lkw, Güterzüge, Schiffe, Lkw auf Güterzügen, Güterzüge auf Schiffen? Was haben die Schweden ihren Kunden mit Blick auf Fahrtzeiten und Kosten versprochen, was die Deutschen? Wie groß und schwer dürfen die Güter maximal sein, die künftig durch das Netzwerk laufen? Sind die Kundendateien überhaupt kompatibel, so dass sie sich zu einer zusammenführen lassen? „Solche vermeintlichen Kleinigkeiten bedeuten oft extrem große Hindernisse bei der Integration, das kann man gar nicht ernst genug nehmen“, sagt Peter Klaus, Logistik-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg und Leiter der Fraunhofer Arbeitsgruppe für Technologien der Logistik-Dienstleistungswirtschaft.

Der Logistikleiter optimiert Teilstück für Teilstück

Und doch sind Versäumnisse und Fehleinschätzungen bei der Integration von Netzwerken die Regel. Die Folge: Logistiknetzwerke arbeiten oft unterhalb ihres technischen Optimums. Und das manchmal unverändert über einen langen Zeitraum. McKinsey-Berater Stuchtey sieht mehrere Gründe dafür. Erstens sei es für das Management sehr schwer, bei den komplexen Systemen den Überblick zu behalten. Üblicherweise beginnt der Logistikleiter dann, Teilstück für Teilstück zu optimieren, beispielsweise ein Sortierzentrum oder ein Liefergebiet. „Das ergibt eine Summe von lokalen Optima, einen Flickenteppich, an dem man festhält, ohne das Optimum für des gesamte System zu erreichen“, sagt Stuchtey.

Aber auch wer das Gesamtsystem in all seinen Verästelungen überschaut, tut sich schwer mit Verbesserungen. Schließlich verändert jede Änderung eines einzelnen Elements alle anderen Elemente im System. So senken beispielsweise größere Lkw-Ladungen die Kosten pro transportierter Einheit – verursachen dann aber auf der gesamten Route neue Kosten, etwa weil die Kapazität der Lagerhäuser nicht mehr ausreicht. „Das ist wie bei einem Spinnennetz“, sagt Stuchtey. „Man berührt es nur an einer Stelle, aber dadurch gerät das gesamte Netz in Schwingungen, die überall zu spüren sind.“ Wo also beginnen, ohne das Gesamtsystem zu gefährden? Und vor allem: wann? Auch der laufende Betrieb ist eine große Hürde auf dem Weg zu einer sinnvollen Verschmelzung isolierter Logistiksysteme.

Optimierungen im Ruhezustand sind illusorisch – mit Blick auf das eigene Geschäft und die Zufriedenheit der Kunden. „Die Lufthansa beispielsweise wird nie ihr gesamtes Liniennetz für eine bestimmte Zeit abschalten können, um dann mit einem vollkommen neuen, optimierten wieder an den Markt zu gehen“, sagt Stuchtey. Was also tun? Womit anfangen?

McKinsey rät zunächst zu einer gründlichen Analyse. Eine detaillierte Standortbeschreibung verschafft nicht nur Klarheit über Stärken und Schwächen, sie erlaubt auch die Simulation von Verbesserungen, die sich anschließend Schritt für Schritt umsetzen lassen. INCA soll genau das leisten. Die Begriffe „In Scope, Network Modal Mix Optimization, Configuration of Network, Administration“ stehen für vier Stellschrauben, an denen ein Logistikbetreiber drehen kann. Oder für vier Fragekomplexe, die beantworten muss, wer sein Netzwerk optimieren will.

(I) IN SCOPE

Welche Güter sollen über das Netzwerk überhaupt transportiert werden? Wie schwer sollen sie minimal und maximal sein? „Netzwerke tendieren dazu, im Laufe der Zeit alle möglichen Frachten einzusammeln, die auch dann noch transportiert werden, wenn sich das Netzwerk selbst längst geändert hat“, erklärt Jasper zu Putlitz, Partner bei McKinsey. Ein Automobilhersteller schleust dann beispielsweise alle Frachtstücke zwischen zehn Gramm und zehn Tonnen durch dasselbe Erfassungs- und Sortiersystem in dieselben Lastwagen. Dabei lassen sich zum Beispiel schwere, sperrige Motorblöcke viel einfacher direkt vom Sender zum Empfänger transportieren, statt sie wie Schrauben, Zündkerzen und andere Kleinteile in einem Sortierzentren mehrfach aus Lkw aus- und in neue Lkw wieder einzuladen.

(N) NETWORK MODAL MIX OPTIMIZATION

Welche Frachtmengen sollen mit welchem Verkehrsmittel transportiert werden, also mit Lkw, Güterzügen, Schiffen oder Flugzeugen? Wenn es über große Distanzen besonders schnell gehen soll, bietet sich Luftfracht an – die aber ist acht- bis zehnmal teurer als der Transport über die Straße. Lkw sind preiswerter, schaffen aber pro Nacht nur maximal 600 Kilometer. Hier gilt es, für jedes Unternehmen die richtige Balance zwischen den verschiedenen Transportmodi für jede Verbindung zu finden. Allerdings kostet jede Übergabe zwischen den Verkehrsmitteln Zeit und Geld – beispielsweise, weil der Betreiber Übergabepunkte einrichten muss, also Frachtzentren am Flughafen oder Verladestationen am Hafen.

(C) CONFIGURATION OF NETWORK

Welche Regionen sollen bedient werden? Wo soll das Netzwerk Knoten- und Endpunkte haben, also Depots und Kundenzentren? Wo genau sollen die Routen entlangführen? Und welche Form soll das Netzwerk haben? Soll es eine Matrix sein, in der jeder Knotenpunkt, also etwa jede Briefpostfiliale, direkt mit allen anderen Knotenpunkten verbunden ist? Oder eine so genannte Hub-and-spoke-Struktur – ein Geflecht mit einem Zentrum und zahlreichen Verästelungen ähnlich wie ein Schneekristall? „Betreiber versuchen, so viele Direktverbindungen wie möglich zu fahren“, sagt zu Putlitz. Das sei schneller, Kosten sparender und damit attraktiver für Kunden. Doch Direktverbindungen lohnen sich nur ab einem bestimmten Frachtvolumen. Andererseits wandern Kunden vielleicht zur Konkurrenz ab, wenn der Betreiber eine Direktverbindung streicht – und machen die Route damit erst recht unrentabel. Um den widersprüchlichen Anforderungen gerecht zu werden, sind Logistiknetze meist eine Mischung aus beiden Formen, also Systeme mit direkten und indirekten Verbindungen.

(A) ADMINISTRATION

Wie lässt sich der logistische Optimierungsprozess am besten steuern und dauerhaft implementieren? Jeder Verbesserungsansatz innerhalb eines komplexen Netzwerksystems wird erfolglos bleiben, wenn die Integrationsmaßnahmen nicht alle Ebenen innerhalb des Unternehmens mit einbeziehen. Zudem ist die Steuerung von Logistik ein dauernder Prozess: Ohne eine permanente Analyse des Ist-Zustandes, kann das Management nicht schnell und zielsicher auf Veränderungen reagieren. Und beispielsweise in kurzer Zeit alternative Routen und Verkehrsmittel planen, wenn ein Zug mit Motorschaden liegen bleibt. „Wer das effizient managen will, braucht eine Art Kontrollturm, in dem ein Team von Experten sitzt und das gesamte Netzwerk überblickt“, erklärt McKinsey-Berater zu Putlitz. Wer sein Netzwerksystem mithilfe von INCA analysieren will, muss zunächst ein strategisches Ziel definieren. Der Dienstleister, der plant, der schnellste und preiswerteste auf dem Kontinent X zu sein, kann diese eher grobe Zielrichtung dann mithilfe des Tools in eine Reihe von detaillierten Parametern umsetzen, beispielsweise: „Die maximale Zeit zwischen Stadt A und Stadt B darf Y Tage sein.“ Alle festgelegten Parameter, also etwa Fahrzeiten oder -kosten, werden mit den Antworten aus den vier INCA-Fragekatalogen in Software-Tools eingespeist. Die wiegen – je nach strategischer Zielsetzung – Netzabdeckung, Servicegrad und Kosten gegeneinander ab. Das Ergebnis ist ein theoretisches Optimum für das Netzwerk mit all seinen Elementen – ein so genanntes „Greenfield“-Modell. Es heißt so, weil es den Zustand des Netzwerks so anzeigt, als würde es der Betreiber neu denken und auf die grüne Wiese setzen.

Anschließend geht es darum, dem theoretischen Optimum in der Realität so nahe wie möglich zu kommen. Dabei gilt es, eine Reihe konkreter kurz- und langfristiger Verbesserungsvorschläge abzuwägen, mit denen ein Netzwerkbetreiber Kosten nicht selten enorm reduzieren kann. Das Modell bietet auch langfristig Orientierungshilfe, weil es detailliert abbildet, was künftige Änderungen einsparen oder kosten. „Dieses Vorgehen ermöglicht eine analytische Tiefe bei einem Problem, das bisher als nicht analysierbar galt“, sagt zu Putlitz. Die Optimierung verzahne das Netzwerk nahtlos mit der Gesamtstrategie eines Unternehmens. „Nach INCA ist ein Logistiknetzwerk mehr als nur ein ungeliebter Kostenfaktor“, so zu Putlitz weiter. „Es wird zu einem machtvollen strategischen Werkzeug.“

Ein Werkzeug, das seinem Besitzer einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschafft. Und das nicht gegen ihn verwendet werden kann, wie es den Inka passierte: Als der spanische Eroberer Francisco Pizarro 1532 an der peruanischen Küste landete, freute er sich über das perfekte Straßennetzwerk. Mit seiner gerade mal rund 170 Mann starken Truppe kam er schnell bis zur Hauptstadt Cuzco, dem Zentrum des Netzes. Bald darauf versank das mächtige Reich in Krieg und Chaos.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.