Die Zeiten ändern sich

Ab kommendem Jahr gilt an deutschen Kliniken ein neues Arbeitszeitgesetz. Es unterbindet zermürbend lange Schichten und wertet den Bereitschaftsdienst auf. Schön für die Ärzte – sollte man meinen. Doch die sind nicht nur begeistert. Ganz zu schweigen von den Kliniken.


„Die Charité.“ Die beiden Worte klingen ein bisschen wie im Vorspann von Star Trek – „Der Weltraum. Unendliche Weiten“. Die astronomischen Daten eines der größten Krankenhäuser Europas: 123.000 stationäre und 900.000 ambulante Patienten pro Jahr. 14.000 Mitarbeiter, davon 4000 Wissenschaftler und Ärzte. Zweitgrößter Arbeitgeber Berlins. Eine Milliarde Euro Umsatz jährlich. Wenn ein Wind des Wandels durch den deutschen Krankenhausbetrieb weht, wächst er sich hier gern zum Sturm aus.

Wie Ende vergangenen Jahres, als in der Hauptstadt Hunderte von Medizinern unter großer Anteilnahme der Medien für bessere Arbeitsbedingungen streikten – der Auftakt einer Streikwelle, die in den folgenden Monaten das halbe Land erfasste. Eine der Forderungen der Berliner Protestierer: Der Arbeitgeber möge doch bitte schön Dienstmodelle entwickeln, die sich an das neue deutsche Arbeitsrecht halten. Nach langen Verhandlungen gibt es mittlerweile einen Vorschalttarifvertrag, den der Marburger Bund, die mitgliederstärkste Interessenvertretung der angestellten und beamteten Klinikärzte in Deutschland, mit der Charité ausgehandelt hat. Darin wird auch das Gesetz berücksichtigt. Die zweischneidigen Folgen beschreibt Internist Eckehard Frisch, Mitglied der Ärzteinitiative an der Charité: „Wir haben keine 36-Stunden-Schichten mehr. Schön. Dafür bekommen wir aber weniger Geld. Und die Arbeit ist nicht weniger geworden.“

Die neue Ära beginnt am 1. Januar 2007. Dann tritt in Deutschland ein neues Arbeitszeitgesetz in Kraft, das die jahrzehntelang üblichen Marathonschichten von Krankenhausärzten zu einem Relikt der Vergangenheit machen soll. Aus Sicht der meisten Kliniken ist die Reform ein Schreckensbild, weil sie nun mehr Personal einstellen müssen, wofür ihnen aber meist das Geld fehlt. Gelassener können Verwaltungschefs reagieren, die sich schon früh um einen effizienteren Einsatz ihrer Beschäftigten gekümmert haben. Die gemeinsam mit Ärzten innovative Arbeitszeitmodelle entwickelt haben – und damit nicht nur humanere Bedingungen bieten, sondern auch wirtschaftlicher sind. Bei den Medizinern wird das neue Gesetz mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Je nach Fachgebiet, Qualifikationsgrad, Lebensumständen oder Arbeitgeber schwanken sie zwischen Zustimmung und Ablehnung. Dem Ende der Dauerschichten stehen oft Gehaltseinbußen und stärker gestückelte Dienstzeiten gegenüber.

Die Diskussionen entzünden sich an den nüchternen Paragrafen des deutschen Arbeitszeitgesetzes, kurz ArbZG, das ein paar einschneidende Änderungen erfahren hat. Sie besagen, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in der Regel 48 Stunden nicht überschreiten darf. Und dass Bereitschaftsdienste als volle Arbeitszeit zu werten sind – ein entscheidender Passus, denn zuvor war es hierzulande gängige Praxis, Bereitschaftsdienste als Ruhezeit zu betrachten. Abgedeckt durch den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT), der für die meisten Ärzte an Kliniken galt. Was der Realität in den Kliniken oft Hohn sprach. Kaum ein Arzt im Bereitschaftsdienst konnte ausreichend Pausen machen oder gar schlafen.

Eigentlich gelten die Änderungen schon seit 2004. Mit der Reform des ArbZG vor knapp drei Jahren beugte sich die Bundesregierung einem Rüffel des Europäischen Gerichtshofes (EUgH), der im September 2003 geurteilt hatte: Der Bereitschaftsdienst der deutschen Ärzte ist als Arbeitszeit zu werten. Womit der EUgH lediglich klarstellte, dass auch Deutschland sich an eine entsprechende, mehr als zehn Jahre alte EU-Richtlinie zu halten habe. Geklagt hatte der Arzt Norbert Jäger gegen seinen Arbeitgeber, das städtische Krankenhaus Kiel. Schon im Jahr 2000 hatten die Luxemburger Richter einer ähnlichen Klage spanischer Ärzte stattgegeben.

Die Arbeit muss anders organisiert werden

Allerdings räumte der deutsche Gesetzgeber den Kliniken eine zweijährige Schonfrist ein, um ihre Arbeits- und Personalorganisation dem Gesetz anzupassen. Und auch diese Übergangsphase verlängerte der Bundestag im Dezember 2005, kurz vor ihrem Ablauf, noch einmal um ein weiteres Jahr – daher der Stichtag 1. Januar 2007. Die Streckung der Übergangsregelung ist nicht zuletzt auf Druck der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), des Zusammenschlusses von Spitzen- und Landesverbänden der deutschen Krankenhausträger, zustande gekommen. Der Verband glaubt, dass „eine Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes vielfach aus objektiven Gründen nicht möglich ist“, so DKG-Präsident Rudolf Kösters.

Da in den Kliniken nicht plötzlich weniger los ist, die Beschäftigten aber nicht mehr so lange anwesend sein dürfen, muss der Betrieb anders organisiert werden. Durch Aufstockung des Personals, eine intelligentere Verteilung der Arbeit auf vorhandene Kräfte oder eine Kombination. Alle Varianten kosten Geld. Wie viel, hängt nach Berechnungen der Unternehmensberatung McKinsey & Company unter anderem von der Größe der unterschiedlichen Abteilungen im Krankenhaus ab. Stationen mit mindestens zehn bis zwölf Vollkräften können nach Ansicht der Berater das Arbeitszeitgesetz ohne relevante Mehrkosten umsetzen. Kleinere Abteilungen hingegen kommen nicht ohne zusätzliches Personal aus.

Vor allem der erhöhte Mitarbeiterbedarf und die entsprechend steigenden Personalkosten stellen die deutschen Klinken, deren finanzielle Lage ohnehin nicht rosig ist, vor große Probleme. Die DKG spricht von insgesamt 1,3 Milliarden Euro Mehrkosten und bis zu 27.000 Stellen, die zusätzlich besetzt werden müssten. Das Deutsche Krankenhausinstitut in Düsseldorf (DKI) kommt in seinen Berechnungen nur auf jährlich rund 600 Millionen Euro an Zusatzbelastungen und 6700 Ärzte, die neu eingestellt werden müssen. „Aber unabhängig davon, wie hoch die tatsächlichen Mehrausgaben infolge des Arbeitszeitgesetzes sein werden“, sagt Karl Blum, Leiter des Forschungsbereichs am DKI, „mindestens ebenso viel Einfluss haben die Tarifverträge, die die verschiedenen Verhandlungspartner in den vergangenen Wochen und Monaten abgeschlossen haben.“

Ganz allein müssen die Kliniken die Kosten für die Umstellung zwar nicht tragen. Das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ garantiert den Krankenhäusern zur Finanzierung neuer Arbeitszeitmodelle zwischen 2003 und 2009 insgesamt 700 Millionen Euro. Aber das Geld bekommen sie nur gestaffelt in einzelnen Jahresbeträgen. Der größte Teil der Mehrkosten wird jedoch voraussichtlich gleich zu Beginn der neuen Ära anfallen. Seit Monaten fordern Politiker, Ärztevertreter und Klinikverbände daher in seltener Eintracht, die Auszahlung der Mittel vorzuziehen.

Die langsame Verabreichung der Geldspritze ist für ein Drittel der Kliniken ein wesentlicher Hinderungsgrund, alternative Arbeitszeitmodelle zu etablieren. Das geht aus dem Krankenhaus-Barometer 2006 des DKI hervor, das jährlich die Situation der deutschen Allgemeinkrankenhäuser untersucht. Die Studie zeigt das ganze Ausmaß der Baustelle: In den vergangenen Jahren haben viele Krankenhäuser trotz der absehbaren Änderung der Rechtslage wenig getan, um die Vorgaben umzusetzen. Von Anfang 2004 bis Mitte 2006 haben nur 40 Prozent der befragten Kliniken neue Arbeitszeitmodelle eingeführt. Ein Drittel der Häuser plant eine Neuorganisation zumindest. Knapp 20 Prozent geben an, noch gar keine konkreten Vorstellungen von der hausinternen Umsetzung zu haben.

Um Konzepte entwickeln zu können, müssten die Kliniken unter anderem erst einmal genau wissen, wie viel ihre Angestellten überhaupt arbeiten. Die exakte Arbeitszeiterfassung im Krankenhaus ist in Deutschland allerdings immer noch eine Seltenheit. „Die meisten Klinikverwaltungen sagen: Wenn wir bei der Arbeitszeit der Ärzte genau hinschauen, können wir gleich Konkurs anmelden. Denn alle arbeiten 80 Stunden die Woche, wir bezahlen ihnen aber nur die Hälfte“, sagt Edwin Pinkawa, Leiter der Personalabteilung am Klinikum Saarbrücken, einem 695-Betten-Haus der Maximalversorgung, das mit gut 2200 Mitarbeitern jährlich rund 110.000 Patienten versorgt. „Wir haben es trotzdem gewagt, aus einer einfachen Überlegung heraus: Das Personal macht in jedem Krankenhaus 70 bis 80 Prozent der Gesamtkosten aus – wie können wir diese wertvollste und teuerste Ressource am effizientesten einsetzen? Wenn wir also nicht nur genau erfassen, wie lange die Ärzte arbeiten, sondern auch, wann sie in dieser Zeit wodurch wie stark beansprucht werden, können wir den Personalbedarf und -einsatz viel exakter steuern.“

Die Stationen entscheiden selbst

Und zwar spontan. Natürlich gibt es auch in Saarbrücken langfristige Dienstpläne. Aber jedes Team kann selbstständig und akut entscheiden, wann der Arbeitstag für wen beginnt und endet. Wenn die Auslastung hoch ist, viele Patienten da sind, eine Menge Operationen anstehen, arbeitet das Personal – innerhalb der gesetzlichen und tarifvertraglichen Richtlinien – länger. Gibt es weniger zu tun, weil beispielsweise nicht alle Betten belegt sind, können einzelne Beschäftigte auch früher nach Hause gehen. Technische Grundlage der flexiblen Arbeitszeitmodelle ist eine Magnetkarte, mit der die Beschäftigten ihre Arbeitszeit auf einem Zeitkonto dokumentieren, sowie eine spezielle Personaleinsatz-Software, mit deren Hilfe alle Dienstpläne abgebildet und leicht verändert werden können. So kann das Klinikum nach Pinkawas Angaben die Vorgaben, die das neue Arbeitszeitgesetz macht, personal- und kostenneutral umsetzen. „Jede Einheit kann sich ihren Anforderungen und den Wünschen der Mitarbeiter entsprechend organisieren. Die Intensivstation beispielsweise arbeitet im klassischen Drei-Schicht-Verfahren, auf anderen Stationen haben wir Modelle mit 19 Stunden Arbeit plus fünf Stunden Rufdienst, acht Stunden plus 16 Stunden Bereitschaft, versetzten Dienst bis 20 oder 22 Uhr, Schichtwechsel im Tages-, Dreitages- oder Wochenrhythmus.“

Schon vor mehr als zehn Jahren testete die Klinik dieses Prinzip zunächst in einer neurologischen und einer chirurgischen Station des Hauses, wegen der unterschiedlichen Spielregeln operierender und nicht operierender Abteilungen. „Die Ärzte haben freiwillig mitgemacht und hätten das Experiment jederzeit abbrechen können. Zeiterfassung darf kein reines Kontrollinstrument der Verwaltung sein. Die Mitarbeiter müssen davon profitieren. Tatsächlich hören wir von Ärzten immer wieder, dass die Arbeitsorganisation ein entscheidendes Argument für sie war, ans Klinikum Saarbrücken zu kommen“, sagt Pinkawa. Schon kurz nach der Versuchsphase wollten auch die Nachbarstationen das System übernehmen – mittlerweile arbeiten alle Abteilungen in Saarbrücken mit individuellen Arbeitszeitmodellen.

Ganz so weit ist das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) noch nicht. Dort optimiert Bernd Füllekrug als Projektmanager seit knapp drei Jahren Arbeitsabläufe und strukturiert sie gesetzeskonform um. Zuvor hat der 45-jährige Facharzt für Anästhesie 15 Jahre als Arzt am UKE gearbeitet. Durch seine Doppelfunktion kennt er sowohl die harten Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals als auch die wirtschaftlichen Zwänge, denen die Klinik unterliegt. Das UKE-Rahmenkonzept, an dem er mitwirkt, soll beide Aspekte berücksichtigen. Langfristiges Ziel ist es, den Betrieb der Kliniken des UKE mithilfe von Arbeitszeitkonten stellenneutral auf Modelle ohne Bereitschaftsdienste mit einer maximalen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden umzustellen.

Dazu hat das Projektmanagement unter anderem die Hauptarbeitszeit – die „Servicezeit“ – als die Spanne zwischen 7 und 20 Uhr definiert, „weil in diesem Rahmen der größte Teil der planbaren ärztlichen Tätigkeiten anfällt“, wie Füllekrug sagt. Die Servicezeit wird von zwei Mitarbeitern in flexiblen Schichten abgedeckt, die zwischen 6,5 und 10 Stunden dauern. 

An Arbeitsplätzen, die rund um die Uhr besetzt sein müssen, wird auch die Nebenarbeitszeit in die Schichtplanung eingerechnet. Insgesamt gibt es vier Modelle mit unterschiedlichen Arbeitszeiten, je nach den Anforderungen der Abteilung.

Die rund 110 Anästhesisten zum Beispiel arbeiten in einem Drei-Schichtsystem, das auch die unterschiedlichen Qualifikationsstufen der Ärzte mit einbezieht, wie Mirja Kellersmann erklärt: „Es gibt vier sogenannte Dienste. Die ersten Dienste sind erfahrene Fachärzte, die zweiten stehen kurz vor der Facharztprüfung oder haben sie gerade abgelegt. Ab rund drei Jahren gehört man zum dritten Dienst, die vierten sind Berufsanfänger mit bis zu eineinhalb Jahren Erfahrung.“

Die 28-jährige Kellersmann arbeitet seit September 2005 am UKE, es ist ihr erster Job nach der Uni, sie gehört also zum vierten Dienst. „Ich habe entweder Frühdienst von 7 bis 15.30 Uhr oder Zwischendienst von 12 bis 20.30 Uhr. Dazu kommen Überstunden, nicht täglich, aber an einem Tag können es schon mal drei sein. Pro Monat komme ich ungefähr auf 40 Überstunden, die sind eingeplant und werden auch bezahlt. Manchmal habe ich auch Rufdienst von halb neun abends bis sieben am nächsten Tag.“

Das Schlupfloch im Tarifvertrag lässt sich geschickt nutzen

Die Assistenzärztin ist zufrieden mit ihren Arbeitszeiten, weiß aber, dass mancher Kollege über das Drei-Schicht-Modell murrt – vor allem die erfahreneren Dienstgrade, die teilweise Zwölf-Stunden-Schichten haben und die regulären Nachtdienste übernehmen. Durch die Begrenzung der maximalen täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit müssen sie zwar nicht mehr so lange anwesend sein wie früher, dafür aber häufiger.

Auch Andreas Scheding kennt die Vor- und Nachteile eines Modells, das die EUgH-Vorgaben berücksichtigt. Der 33-jährige Assistenzarzt arbeitet seit vier Jahren als Internist im Krankenhaus Merheim in Köln, einer städtischen Klinik mit 783 Betten. „Ich kenne die alten Bedingungen noch sehr gut: Erst Tagdienst von halb acht bis halb fünf, dann den Kollegen in der Notaufnahme ablösen und bis zum nächsten Morgen um acht dableiben. Offiziell hast du anschließend frei – aber dann ist niemand auf der Station, der die Patienten genau kennt, der weiß, was bei wem getan werden muss. Also bleibt man bis zum Mittag und erledigt das Nötigste. In Extremfällen war ich sogar bis 18 Uhr da. Wenn du dann nach Hause fährst, bist du zu gar nichts mehr fähig. Wie in der Geschichte von dem Arzt, der nach 36 Stunden Dienst auf dem Heimweg einen Unfall baut. Seine Versicherung zahlt nichts, weil er nach einer so langen Wachphase fahruntauglich gewesen sei. Und kurz zuvor hat er noch Patienten behandelt.“

Seit zwei Jahren arbeiten Scheding und seine Abteilungskollegen nach einem alternativen Plan, den sie selbst erarbeitet haben. Er ist zwar EUgH-konform, basiert aber auf einer höheren maximalen Wochenarbeitszeit. Möglich macht das eine sogenannte „Opt-out“-Regelung im Tarifvertrag. Die meisten aktuellen Vertragswerke für Klinikärzte beinhalten so ein Schlupfloch, das die gesetzlichen Vorgaben unterläuft. Die Klausel ermöglicht es dem Arzt, eine gesonderte schriftliche Absprache mit seinem Arbeitgeber zu treffen, in der er sich bereit erklärt, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten – je nach Vertrag sind bis zu 66 Stunden möglich. Scheding kommt auf 56 Stunden inklusive Bereitschaftsdiensten. „Die Bereitschaftsdienste sind nicht mehr so lang wie früher“, sagt der Internist, „dafür kommen wir häufiger in die Klinik. Ich arbeite jetzt jeden Tag von 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr und vier- bis fünfmal pro Monat weiter bis 23 Uhr – das ist der Bereitschaftsdienst. Dann übernimmt ein Kollege, der drei Nächte am Stück macht, bis der nächste turnusmäßig dran ist.“

Mehr Druck – und mehr Zeit für die Familie

Der Haken daran: Früher bestritten zwei Ärzte den Nachtdienst, heute muss das einer allein bewältigen – das war die Bedingung für den Wechsel auf das aktuelle System, ohne zusätzliche Stellen zu schaffen. Für die das Krankenhaus auch kein Geld hätte. „Das heißt, dass der Diensthabende nachts eine viel größere Verantwortung trägt und die Belastung oft grenzwertig ist. Außerdem kann das nur ein erfahrener Arzt erledigen, und da er nach dem Nachtblock einen Tag frei hat, fehlt er uns in der Tagschicht insgesamt vier Tage. Und schließlich verpassen die jungen Ärzte, die früher gemeinsam mit einem routinierten Kollegen die Schicht absolviert haben, jetzt die Möglichkeit, Erfahrungen mit der besonderen Situation im Nachtdienst zu sammeln. Obwohl sie die dringend brauchen.“

Vom klassischen Drei-Schicht-Modell – auf je einen Früh-, Spät- und Nachtdienstblock von einer Woche folgt eine Woche Freizeitausgleich –, das andere Stationen des Hauses anwenden, hält er nicht viel. „Das ist erstens kaum mit einem Familienleben vereinbar“, sagt Scheding, der kürzlich geheiratet hat und Vater einer drei Monate alten Tochter ist, „und zweitens ergeben sich daraus große Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Beziehung. Die Kontinuität fehlt, wenn man jede Woche zu einer anderen Zeit da ist und ein paar Tage gar nicht.“

Trotz der Probleme, die das neue Modell schafft, trauert der Arzt den alten Verhältnissen nicht nach. Dabei spielt auch eine Rolle, dass er seit der Umstellung nicht weniger Geld verdient – weil er, anders als viele Kollegen, auch vorher nicht so viele lukrative Bereitschaftsdienste hatte. Auf 2300 Euro netto kommt Scheding, vergütete Überstunden kennt er nicht. „Ich kann sie zwar aufschreiben, sie müssen aber vom Chef angeordnet werden. Der wiederum lässt das schön bleiben, weil er sonst massiv Druck von der Verwaltung bekommt. Also bleibe ich jeden Tag ein bis zwei Stunden länger, ohne dass diese Zeit erfasst oder dokumentiert würde.“

Die Bundesärztekammer schätzt, dass die Mediziner jedes Jahr rund 50 Millionen undokumentierte Überstunden im Wert von einer Milliarde Euro ableisten, die niemand bezahlt. Eine Überschlagsrechnung, wohlgemerkt, Gesundheitsministerium und Klinikverbände kommen zu niedrigeren Ergebnissen. Aber niemand bestreitet, dass gerade junge Assistenzärzte über arbeitsvertraglich einwandfreie, vergütete Überstunden hinaus unbezahlte Mehrarbeit leisten, die in keiner Verwaltungsstatistik auftaucht.

Das soll sich an der Charité ändern, wenn 2007 die flächendeckende elektronische Zeiterfassung eingeführt wird. „Ich bin gespannt, ob das funktioniert“, sagt Eckehard Frisch, der Mann von der Berliner Ärzteinitiative, „bis jetzt ist die Sache ja noch nicht einmal im Versuchsstadium.“

Als Mitglied der Ärztegruppe, die sich ehrenamtlich um die Belange der Kollegen kümmert, kennt er sich aus mit angekündigten und tatsächlichen Veränderungen am Großklinikum. Und er weiß, was das neue Arbeitszeitgesetz für die Ärzteschaft mit sich bringt. Vor allem in finanzieller Hinsicht: „Die meisten gehen nach der Umstellung mit weniger Geld nach Hause. Früher war es möglich, das relativ niedrige Gehalt durch viele freiwillige Bereitschaftsdienste aufzubessern. Jetzt werden die Dienste zwar besser bezahlt, aber man kann eben nicht mehr so viele ableisten. Extrem ist die Gehaltseinbuße bei Kollegen, die früher mit den Bereitschaftsdiensten weit mehr als 60 Stunden pro Woche gearbeitet haben und daraus einen erheblichen Anteil ihres Einkommens bestritten haben.“

Wer früher besonders viele zusätzliche Schichten abgeleistet hat, büßt jetzt im ungünstigsten Fall zwischen 25 und 30 Prozent seines Nettoverdienstes ein. Verständlich, dass die Betroffenen darüber klagen – allerdings bedeutet die Reduktion der Arbeitszeit des einzelnen Arztes eben auch, dass an manchen Kliniken neue Stellen für Arbeit suchende Kollegen entstehen.

Der 32-jährige Frisch verdient im Vergleich zu früher ebenfalls weniger: „Momentan bekomme ich mit allen Zuschlägen 3900 brutto, und wir arbeiten in einem wenig attraktiven Drei-Schicht-Modell. Davor habe ich mit Diensten ungefähr 700 bis 800 Euro mehr verdient.“

Ob kürzere oder längere Schichten, ob mehr oder weniger Geld – vielleicht sind alle Modelle für den Mediziner-Job im Krankenhaus bald schon wieder hinfällig: Die EU-Staaten diskutieren derzeit kontrovers über eine Änderung der Richtlinie, die den Bereitschaftsdienst regelt. Zwar kann sich der Streit erfahrungsgemäß noch eine Weile hinziehen. Aber für alle Fälle sollten sich Kliniken und Ärzte schon mal darauf einstellen, dass auch das gegenwärtige Arbeitszeitgesetz und seine Folgen nicht in Stein gemeißelt sind. Es könnte noch schlimmer kommen. Je nach Perspektive.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.