Patient 100015362

Seit die Kassen leer sind, stehen die Vertreter der Gesundheitsindustrie unter Druck. Besonders die Krankenhäuser müssen sparen – deshalb sollen aus Patienten jetzt Kunden werden und aus Medizinern Unternehmer. Ohne IT wird der Wandel nicht gelingen. Die Bundesknappschaft hat sich auf das technologische Abenteuer eingelassen.




Gerald A. hat die Nummer 100015362. Geboren im Mai 1945. KLICK. Mitte April war A. schon einmal zur ambulanten Behandlung im Knappschaftskrankenhaus Püttlingen, verrät das System. KLICK. Ende April wurde der Mann stationär aufgenommen. KLICK. In der Diagnose-Datei von 100015362 hat ein Arzt „Arteriosklerose der Extremitäten“ ausgewählt und mit einem weiteren Klick in die Sprache des Fallpauschalen-Systems, der Diagnoses related groups (DRG) übersetzt. „I 70.22“ ist jetzt auf dem Bildschirm zu lesen, und am unteren Rand des geöffneten Fensters kann der Arzt sehen, was die Behandlung von 100015362 den Versicherer kosten und dem Krankenhaus an Einnahmen bringen wird: 1708 Euro sind veranschlagt.

Was als unspektakuläres Zahlenspiel daherkommt, bedeutet in Wahrheit eine Revolution. Zum ersten Mal in der Geschichte können Mediziner den Wert ihrer Arbeit nicht mehr allein medizinisch definieren, sondern auch wirtschaftlich. Sie sollen nicht nur Heiler, sondern auch Unternehmer sein. Was heißt sollen? Sie müssen.

Krankenhäuser sind der größte Kostenblock im deutschen Gesundheitswesen. Rund ein Drittel der Gesamtausgaben deutscher Krankenversicherungen entfallen auf den stationären Bereich: 47 Milliarden Euro pro Jahr. Doch während die Budgets ständig schrumpfen, steigen die Kosten. Trotz Bettenabbau ist die Auslastung der Krankenhäuser in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken und liegt heute knapp über 80 Prozent. Das Wissenschaftliche Institut der AOK rechnete aus, dass sich die Krankenhauskosten zwischen 1991 und 2001 um 41,5 Prozent erhöht haben. Jetzt sind die Kassen leer, Versicherer, Patienten und Ärzte müssen sparen, und in den Krankenhäusern geht es nicht mehr um die Verwaltung des Mangels, es geht ums Überleben. Spätestens ab 1. Januar 2007 ist jedes deutsche Krankenhaus gesetzlich verpflichtet, mit den Versicherern auf Basis von DRG-Fallpauschalen abzurechnen. Das geht nur mit tiefgreifenden Veränderungen von Strukturen. Und es geht nur mit Hilfe moderner Technologie.

20 bis 30 Prozent der rund 2200 Krankenhäuser in Deutschland werden dem Kostendruck und dem durch ihn erzwungenen Wandel nicht standhalten, da sind sich die Experten einig. 2007, wenn die neuen Abrechnungsmodalitäten greifen, werden tausende von Krankenbetten hier zu Lande wegfallen. „Wir werden durch die Einführung der Fallpauschalen eine dramatische Veränderung der Krankenhauslandschaft erleben“, sagt Hans Adolf Müller, Leiter des Gesundheitsmanagements der Bundesknappschaft. Nur die Krankenhäuser sind auf Dauer überlebensfähig, die im Stande sind, Kostenträgerrechnungen für jede Behandlung zu erstellen. Denn künftig geht es nicht mehr um die beste Behandlung, es geht um die beste Behandlung zum besten Preis.

Zählen, messen, wiegen

Die Bundesknappschaft hat vorgesorgt. In einem mühevollen monatelangen Prozess hat der Krankenhausbetreiber bereits zwei seiner insgesamt sechs Häuser auf die Zukunft vorbereitet. Seit 1. Oktober vergangenen Jahres werden die Patienten in Püttlingen und Sulzbach mittels moderner Technik verwaltet, gesteuert und durch den Gesundheitsbetrieb geschleust. Bis Anfang kommenden Jahres soll es auch in Recklinghausen, Bottrop, Dortmund und Bochum so weit sein. Dann wird KIS, das neue Krankenhausinformationssystem auf allen Rechnern laufen und für Transparenz in jeder Abteilung sorgen. Und dann werden Ärzte und Pflegepersonal nicht nur Diagnosen und Behandlungspläne auf Knopfdruck einsehen, sondern erstmals auch die wirtschaftliche Dimension ihrer Arbeit ermessen können. Rund eine Million Euro allein in Püttlingen investierte die Bundesknappschaft in das System, das aus dem 400-Betten-Haus ein effizientes Klinikum machen soll. Eine hohe Investition für ein Unternehmen mit einem Jahresbudget von rund 30 Millionen Euro – aber unumgänglich aus Sicht der Betreiber. „Ohne Instrumente zum Zählen, Messen und Wiegen betreibt man unternehmerischen Blindflug“, sagt Burkhard Zimmermann, IT-Projektleiter bei der Knappschaft. Und den konnte sich das Unternehmen nicht länger leisten. Anfang 2002 erstellten die Knappschafts-Manager eine Risikoprognose für alle angeschlossenen Häuser. Ohne Steuerungssystem, so ihr Fazit, müssten die Krankenhäuser mit massiven Problemen rechnen. Konkret: mit acht bis zehn Millionen Euro Defizit pro Jahr.

Seitdem gibt es KIS. Wie ein Nervensystem sammelt es die Daten aus den verschiedenen Abteilungen, es vernetzt Röntgenstation und Labor, Verwaltung und Buchhaltung, Materialbeschaffung und Medikamentenbestellung. Bei der Aufnahme in die Klinik werden die Daten eines Patienten – Krankheitsvorgeschichte und der Grund für den Krankenhausbesuch – ins System eingespeist. I-Med-One, das Krankenhaus-Informationssystem von SAP und ITB, das von T-Systems implementiert wurde, macht daraus beispielsweise „100015362“, das elektronische Abbild des Patienten Gerald A.

100015362 ist im grünen Bereich

Von überall im Haus können in Püttlingen Zugangsberechtigte, Ärzte, Schwestern oder Krankenhausverwaltung, per Laptop auf das Netzwerk zugreifen und Diagnosen, verschriebene Medikamente, Behandlungspläne, Gutachten, Formulare und das gesamte digitale Archiv des Patienten einsehen.

Vor allem aber sieht der Arzt, welcher zeitliche Behandlungsspielraum ihm bleibt, denn das Programm zeigt auch die Mindest- und die Maximalzeit an, die für die stationäre Behandlung eines Patienten mit der festgestellten Diagnose üblicherweise gilt. Im Fall 100015362 reicht die Spanne von eins bis 13. „Das heißt, das Krankenhaus bekommt 1708 Euro – unabhängig davon, ob der Patient einen oder 13 Tage bei uns behandelt wird“, sagt Michael Bedersdorfer, der EDV-Leiter in Püttlingen. „Es ist also Sache des Krankenhauses, die Behandlung verantwortungsvoll so zu optimieren, dass der Patient möglichst früh entlassen werden kann.“

Noch ist 100015362 im grünen Bereich, sobald die Datei rot markiert ist, weiß der Arzt, dass es mit der Heilung von Gerald A. eilt. Bald weiß er noch mehr: Demnächst wird im System für jeden Patienten auch eine Kostenträgerrechnung hinterlegt. „Dann wird dem Arzt auch gezeigt, welche Kosten für die Diagnosen oder Behandlungen eines Patienten real angefallen sind und inwieweit diese Kosten von der für die Diagnose relevanten Fallpauschale gedeckt sind“, sagt Burkhard Zimmermann.

Was IT-Experten und Controller freut, führt in der Ärzteschaft zu heftigen Debatten. Wie soll künftig gute Medizin gemacht werden? Wer wird sich um schwer kranke Patienten kümmern, wenn das Gesundheitssystem vor allem die leichten, komplikationslosen Fälle wirtschaftlich honoriert? Wie sollen Ärzte damit umgehen, dass die Blinddarm-Operation des gesunden 25-Jährigen genauso abgerechnet wird wie die des 76-Jährigen, der aufgrund seines Alters deutlich höhere Operations- und Behandlungsrisiken birgt?

Wer trägt das Risiko für einen zügig behandelten, aber vielleicht zu früh entlassenen Patienten? Können es sich Ärzte im Krankenhaus überhaupt noch leisten, die richtige, aber teure Diagnose zu stellen? Oder anders: Werden sich Krankenhäuser über kurz oder lang nur noch auf die lukrativen Fälle konzentrieren, auf Eingriffe, die das Budget der Abteilung aufbessern?

Der kritische Punkt des DRG-Systems sei die Abhängigkeit von der Diagnose, das gibt auch Burkhard Zimmermann zu: „Mitunter ist es eine Ermessensfrage, ob ein Patient einen leichten oder schweren Diabetes hat.“ Für die Behandlung einer schweren Zuckerkrankheit ist die Fallpauschale höher. Aber von Manipulation will der IT-Experte nichts wissen: „Wir sagen den Ärzten, dass sie das codieren sollen, was der Patient hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Die moralische Diskussion überlässt Zimmermann lieber Ärzten und Verwaltung. Denn an der Kombination von Medizin und Betriebswirtschaft, so viel ist klar, kommt künftig kein Klinikum mehr vorbei. „Nur der gut Informierte hat in den Budgetverhandlungen mit den Krankenkassen und Versicherern in Zukunft noch eine Chance“, meint Zimmermann. Zudem mag er auch den Unterschied nicht sehen: Jedes moderne Unternehmen benötige ein IT-System, das die Produktion steuert, den Markt beobachtet und Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt. Warum, fragt Zimmermann, soll ein Unternehmen der Gesundheitsindustrie eine Ausnahme bilden? Die Frage ist berechtigt, und bei allen Zugeständnissen an die Besonderheit des Systems: Kostenbewusstsein per se ist kein Angriff auf die Medizin – die bisherige Praxis vielmehr ein Luxus, den sich das deutsche Gesundheitswesen nicht mehr leisten kann.

Planen, optimieren, kalkulieren, sparen

Für einen Vertreter der Industrie mag es kaum vorstellbar sein, in deutschen Krankenhäusern ist es Realität: Der Leiter einer großen medizinischen Abteilung weiß in der Regel weder, was seine Leistung kostet, noch was sie bringt. Er kann nicht beziffern, was der Strom für 25 Minuten Operationszeit kostet, er weiß nicht, wie teuer das 16-köpfige OP-Team für eine komplizierte Organ-Transplantation ist, und er hat keine Ahnung, auf welche Summe sich ein Röntgenbild summiert, das mittels moderner Geräte erstellt, in die entsprechende Abteilung getragen, gelesen und vom Arzt interpretiert werden muss. Wie soll er planen? Wo optimieren? Wie kann er den Aufwand pro Patient steuern, Budgets kalkulieren oder Kosten senken, um im Wettbewerb mit anderen Häusern bestehen zu können?

Antworten kann nur ein IT-System liefern, doch der Weg der Technologie in die Krankenhäuser ist noch weit. Banken und Versicherungen, um ein beliebiges Beispiel zu nennen, geben im Schnitt acht Prozent ihrer Etats für EDV-Systeme aus, Krankenhäuser investieren zurzeit rund drei Prozent. Dabei ließen sich durch den Einsatz von IT mühelos Kosten sparen. Allein in den sechs Krankenhäusern der Bundesknappschaft, das haben McKinsey-Berater und Unternehmensvertreter ausgerechnet, bis zu 15 Prozent. Hochgerechnet auf das Gesamtbudget für deutsche Krankenhäuser entspräche das Einsparungen in Höhe von etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr.

Ein erhebliches Potenzial, mit dem auch Gesundheitsmanager Hans Adolf Müller rechnet – wenn sich das neue System erst amortisiert hat. Müller durchläuft mit seinen beiden Pilot-Kliniken seit Monaten jenen mühsamen Prozess, der mit jeder neuen IT-Architektur einhergeht: Wer mit Hilfe der Technologie besser und billiger werden will, muss zunächst einmal die Prozesse im Unternehmen analysieren und optimieren. Die Technik ist immer der zweite Schritt. Und auch der erste kostet Zeit und Geld.

„Wir haben vor der Auswahl des neuen Systems unsere Arbeitsabläufe in den Krankenhäusern untersucht und zunächst einmal versucht, Prozesse besser aufeinander abzustimmen“, erzählt Müller. Bis das neue System „rund“ laufe, stünden der Kostenersparnis auf der einen Seite zusätzliche Ausgaben auf der Personalseite gegenüber. Die Modularität des Systems sei zwar nützlich, führe aber auch zu einer höheren Komplexität: „Deshalb brauchen wir jetzt Softwareingenieure, die das System justieren.“

Tradition mit Weitblick

Was dem Handwerker die Zunft, ist dem Kumpel seine Knappschaft. 1426 wird der Begriff erstmals erwähnt und seitdem für eine Bergbau-Belegschaft verwendet. Schon 1450 zahlten die Bergleute in die so genannte Büchsenkasse den „Büchsenpfennig“ ein, zunächst als Finanzierung für den Priester, später als soziale Absicherung gedacht.

Heute summieren sich die Beiträge auf rund 24 Milliarden Euro, über die ein soziales Netzwerk unterhalten wird. Die Bundesknappschaft, eine eigenständige Verwaltung, ist nicht nur Sozial- und Krankenversicherer, sondern betreibt als Leistungserbringer auch eigene Krankenhäuser. 1,4 Millionen Krankenversicherte und rund eine Million Renten- und Pflegeversicherte werden von der Knappschaft inzwischen betreut. Die Organisation betreibt sechs eigene Krankenhäuser, ist an fünf weiteren beteiligt, unterhält sieben Rehabilitationskliniken und arbeitet mit 1400 niedergelassenen Knappschaftsärzten zusammen.

Insgesamt rund 1,6 Millionen Fälle werden jährlich behandelt – offenbar auf hohem Niveau: „Knappschaftskrankenhäuser kann man nicht als Maßstab nehmen“, sagt Otmar Kloiber, stellvertretender Hauptgeschäftsführer und Telematik-Experte bei der Bundesärztekammer. „Die sind immer etwas besser ausgestattet und geführt als andere Häuser.“

Viele Optionen, viele mögliche Fehler

Auch einige der langjährigen Mitarbeiter müssen sich an die Moderne erst noch gewöhnen. „Wir haben jetzt ein System, bei dem man an jeder Schraube drehen kann“, sagt Müller. „Und damit haben wir auch viele Möglichkeiten, Fehler zu machen.“ Die junge Assistenzärztin, die den Umgang mit IT vom heimischen PC seit Jahren gewöhnt ist, muss sich mit der neuen Technik genauso zurechtfinden wie der Pfleger, der viel- leicht zum ersten Mal in seinem Berufsleben mit einem Computer konfrontiert ist. „Wir haben zwar im Vorfeld klare Prozessstrukturen entwickelt, aber jetzt müssen die Mitarbeiter erst lernen, in diesen Prozessen zu denken“, meint Müller.

Hans-Jürgen Meiser, Assistenzarzt in der Püttlinger Chirurgie, hilft das System beispielsweise bei der Erstellung von Diagnosen, weil er heute auf Knopfdruck zum Teil Monate alte Daten eines jeden Patienten abrufen kann: „Ein Patient weiß zwar, dass er vor einem Jahr am Darm operiert wurde, aber ob es nun am Coecal war oder im Sigma, das behält er nun mal nicht.“ Aus der elektronischen Patientenakte lasse sich das sofort herauslesen, eine hilfreiche Information, besonders im Notfall.

Auch Matthias Maier, Chefarzt der Inneren Medizin, verspricht sich von der neuen Technologie vor allem Vorteile. Dabei geht es dem Mediziner weniger um Geld als um Zeit. Als er vor neun Jahren in Püttlingen anfing, wurden auf seiner Station im Schnitt 2500 Patienten pro Jahr behandelt, inzwischen können es schon mal 5000 jährlich sein – bei gleich gebliebener Mitarbeiterzahl. „Dass wir diese Fallzahlen und die dramatisch gestiegenen Dokumentationspflichten heute überhaupt noch bewältigen können, verdanken wir solchen Systemen“, sagt Maier. Allein der Vorteil, nicht mehr durchs ganze Haus laufen zu müssen, um Röntgenbilder aus dem Archiv oder Auswertungen aus dem Labor zu holen, sei eine ungeheure Erleichterung. Das Allgemeine Krankenhaus Altona des Hamburger Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) hat allein durch die Vernetzung der Röntgendaten mit der gesamten Klinik eine Ersparnis von etwa 24 Prozent erzielt – 1,8 Millionen Euro pro Jahr.

Hohe medizinische Qualität, hohe Zufriedenheit

Eine Studie, die im 140-Betten-Betrieb einer Augenklinik in München erstellt wurde, kommt zwar zu einem ganz anderen Ergebnis: 80.000 Euro Ersparnis stehen dort Ausgaben von 100.000 Euro gegenüber. Die Autoren ziehen dennoch eine optimistische Bilanz, weil die positiven Effekte der Digitalisierung noch längst nicht vollständig quantifizierbar sind. Die ins System eingepflegten Daten seien beispielsweise für klinische Forschungsprojekte ebenso wertvoll wie für die Dokumentation von Krankheitsverläufen in der Lehre oder in der Qualitätssicherung. All dies tauche in der Rechnung jedoch nicht auf. Beim Vergleich zwischen der elektronischen Patientenakte (EPA) eines Krankenhaus-Informationssystems und der papiernen Form, wie sie die meisten Kliniken heute noch kennen, kommen die Autoren zu einem eindeutigen Schluss: Die EPA rechnet sich – allerdings führt sie in den ersten drei Jahren zu Mehrkosten.

Die Knappschaft hätte diesen Beweis nicht gebraucht. Dass sich mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit und mit Hilfe von IT-Systemen Geld sparen lässt, hat sie in der Vergangenheit bereits mit Prosper, einem IT-Verbundprojekt bewiesen, das 156 niedergelassene Knappschaftsärzte und drei Krankenhäuser miteinander vernetzt. Es geht um integrierte Versorgung: Jeder der angeschlossenen Ärzte kann auf seinem PC Diagnosen und Befunde der Krankenhaus-Kollegen nachvollziehen, Behandlungs- und Medikamentenpläne seines Patienten abrufen und Röntgenbilder einsehen. Etwa elf Prozent der Behandlungskosten, rund sieben Millionen Euro, hat die Bundesknappschaft seit 2000 gespart, weil Doppeluntersuchungen vermieden und das Zusammenspiel von stationärer und ambulanter Behandlung optimiert werden konnte. „Und zwar bei gleichzeitig hoher medizinischer Qualität und Patientenzufriedenheit“, sagt Burkhard Zimmer- mann. „Das hat aber nur deshalb funktioniert, weil ein finanzieller Anreiz geschaffen wurde, am Netzwerk mitzuwirken.“

Der niedergelassene Arzt, der auf eine Untersuchung verzichtet, die das Krankenhaus bei einem Patienten gerade erst gemacht hat, wird nach einem bestimmten Schlüssel an den Einsparungen per Gewinnausschüttung beteiligt. Und auch die Patienten profitieren: Sie müssen nicht nur weniger Untersuchungen über sich ergehen lassen, sondern sparen auch die Praxisgebühr und die Zuzahlung zu den Krankenhauskosten.

400 Pannen und noch viel mehr Chancen

Papierlose Krankenhäuser sind die Betriebe der Knappschaft noch nicht, das gilt auch für die Pilot-Kliniken in Püttlingen und Sulzbach. Auch heute müssen noch jede Menge Details wie Wundbehandlung, Fieberwerte oder die Dokumentation der Pflege am Patienten von Hand in eine Pflegeakte eingetragen werden, zudem gilt es, Fehler und Pannen zu beheben. 400 Punkte sei die Liste lang gewesen, die das fünfköpfige IT-Team nach der Einführung des Systems in Sulzbach und Püttlingen abarbeiten musste, sagt Müller. 

Weitere Probleme werden folgen, daran zweifelt der Püttlinger IT-Chef Michael Bedersdorfer nicht. Doch während er noch die üblichen Begleiterscheinungen eines neuen Systems repariert, sieht der Technik-Experte schon die Möglichkeiten, die sich für das Krankenhaus ergeben können, wenn moderne Diagnose-Module an I-Med-One angeschlossen werden.

Schon heute können Computer eine wesentliche Hilfe bei der Diagnose beispielsweise von Brustkrebs oder bei der Planung von Lebertransplantationen sein. In der Vergangenheit kamen die IT-Errungenschaften in der Diagnostik aber immer nur als Insellösungen in einigen wenigen Krankenhäusern oder Universitätskliniken zum Einsatz. Die modernen Informationssysteme, die nicht nur die Systeme der Knappschaftshäuser, sondern Kleine und Große weltweit miteinander vernetzen, lassen die technologischen Fortschritte von Spezialentwicklungen und -erfahrungen künftig einer Vielzahl von Patienten zugute kommen. An der Universitätsklinik Regensburg ist bereits ein Telematik-System aktiv, das den Herzrhythmus und wichtige andere medizinische Werte von Patienten mit besonders hohem Herzinfarktrisiko per Mobiltelefon an die Klinik überträgt. Droht ein Infarkt, kann der Klinik-Computer nicht nur rechtzeitig Alarm schlagen, sondern auch schnell den Aufenthaltsort des Patienten ermitteln.

Klinische Pfade weisen den Weg

Auch Hans Adolf Müller plant für die Knappschaft bereits den nächsten Schritt. Noch in diesem Jahr sollen so genannte klinische Pfade eingeführt werden, mit denen sowohl die medizinische Leistung als auch die der Krankenhausorganisation besser und billiger werden sollen. Klinische Pfade bilden die Logistik, den medizinischen Ablauf, die Qualität und die Kosten jedes einzelnen Schritts innerhalb eines Krankenhauses ab. Das bedeutet: Für jedes Krankheitsbild wird anhand medizinischer Standards vom Tag der Einweisung bis zum Entlassungstag des Patienten jede Untersuchung, jeder Verwaltungsakt und jeder Eingriff im Voraus geplant. „Wir beginnen am Tag der Einweisung gewissermaßen bereits mit dem Entlassungsmanagement“, sagt Hans Adolf Müller. Und jeder Handgriff am Patienten werde vom Computer mit einer Kostenrechnung hinterlegt: „Dieses System hat eine Komplexität, die mit dem Management eines Flughafens vergleichbar ist“, sagt Müller. Aber auch ein Krankenhaus bestehe schließlich aus vielen Einzelunternehmen – vom Labor über den OP bis zur Wäscherei.

Die Knappschaft will künftig etwa 70 Prozent der Belegung über diese Pfade abwickeln. In einem Pilotprojekt am Krankenhaus in Bottrop etablierte Müllers Team 70 klinische Pfade – und konnte so 72 Prozent der Krankenhauskosten steuern. Die belaufen sich bei der Knappschaft, die jährlich rund 90.000 Patienten in den 2500 Betten der sechs eigenen Krankenhäuser und 3600 Betten in angeschlossenen Häusern versorgt, auf immerhin rund 200 Millionen Euro jährlich.

„Bei allem, was wir tun, geht es darum, Kostenbewusstsein zu schaffen“, sagt Müller. Im produzierenden Gewerbe sei das selbstverständlich, künftig werde auch im Krankenhaus jeder Unternehmensbereich auf seine Wirtschaftlichkeit hin überprüft.

IT-Chef Burkhard Zimmermann wird später einen ähnlichen Vergleich heranziehen. Die Zukunft? Zimmermann schaut sich zufrieden in der modernen, gut besuchten Cafeteria um, die mit Licht- und Wasserspielen für Stimmung sorgt – und für Einkünfte: „Zu einem rentablen Krankenhaus muss auch eine Mensa beitragen.“

Bits ‘n’ Bytes ‘n’ Bodies

Informationstechnologie in der medizinischen Diagnostik und Behandlung

Rund tausend Mal hat Koichi Tanaka einem Spender ein Stück seiner gesunden Leber entfernt und einem Patienten mit Leberversagen eingepflanzt. Damit hat der Chirurg der japanischen Universität Kyoto rund ein Drittel aller 3500 Leberlebendtransplantationen weltweit allein durchgeführt. Seit Ende 2002 vertraut der Mediziner dabei auf ein System, das ihm anhand von computertomografischen Bildern anzeigt, wie er die Leber des Spenders teilen kann, ohne ihn zu gefährden.

HepaVision und InterventionPlanner sind Softwareentwicklungen aus dem Virtuellen Institut für Computerunterstützung in der klinischen Radiologie (VICORA), einem Forschungsverbund, der seit 2001 mit 4,7 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium gefördert wurde. Seit Anfang des Jahres befindet sich das Projekt in der Hauptphase und liegt voll im Trend, wenn auch deutlich bescheidener finanziert als vergleichbare Projekte in der Schweiz oder in den USA. So wird beispielsweise das Co-Me-Projekt (Computer Aided and Image Guided Medical Interventions) über zwölf Jahre mit 100 Millionen Schweizer Franken gefördert, das National Institute for Biomedical Imaging and Bioengineering NIBIB des amerikanischen National Institutes of Health ist sogar mit 270 Millionen Dollar ausgestattet.

Der Einsatz von IT in Diagnostik und Therapie mache vor allem „Objektivierung durch Quantifizierung“ möglich, sagt Markus Lang, Prokurist von MeVis, dem Centrum für Medizinische Diagnosesysteme und Visualisierung der Universität Bremen, der das VICORA-Projekt koordiniert. Bisher basiere ein Befund anhand eines Röntgenbildes in der Regel nicht auf reproduzierbaren Messungen, sondern auf der individuellen Erfahrung des jeweiligen Arztes. Die neuen Softwareprogramme sollen das ändern. Denn sie können die digitalen Bilder nicht nur vermessen, interpretieren und aufarbeiten, sie geben dem behandelnden Arzt anhand von Messungen des Wachstumsverhaltens eines Tumors auch Empfehlungen für eine Therapie. In der Brustkrebsdiagnose beispielsweise setze die MeVis-Ausgründung MeVis BreastCare derartige Software nicht nur für die Unterstützung der klassischen Diagnose im Krankenhaus, sondern sogar bei den Vorsorgeuntersuchungen ein.

Wie Planung und Simulation von Operationen am Computer die tägliche Praxis verbessern können, hätten HepaVision und InterventionPlanner bewiesen: „Wenn ein Tumor aus der Leber entfernt werden muss, dann muss einerseits möglichst viel bösartiges Gewebe abgetragen werden, andererseits darf aber nicht zu viel funktionsfähiges Lebergewebe verloren gehen“, beschreibt Lang das Dilemma. Die Software kann dieses Problem zwar nicht lösen, aber sie kann immerhin das Risiko einer Operation berechnen, und zwar besser, als es das Medizinerauge je können wird.

Dem Leberchirurgen führt der Computer die Hand noch nicht, bei Hirnoperationen jedoch wird den Sonden der Weg durch das Hirn schon heute genau von einem Roboter vorgegeben. Derartige Operationen sind beispielsweise bei der Implantation von Hirnschrittmachern zur Behandlung der Parkinson-Erkrankung nötig, bei denen Elektroden tief ins Gehirn des Patienten eingeführt werden müssen. Der Trend gehe jedoch dahin, sagt Lang, den Computer auch während anderer Operationen oder Therapien ständig in Betrieb zu halten, um eine Anpassung der Diagnosedaten mit der aktuellen Situation des Patienten zu erreichen. So genannte Disease Oriented Chains (DOC) sollen künftig diagnostische und therapeutische Arbeitsprozesse verschränken.

Ein anderer Bereich der Computerisierung der Medizin ist die Telematik, die im weitesten Sinn den „Austausch medizinischer Daten über Entfernungen“ möglich macht, erklärt Markus Lang. Das macht beispielsweise in Krankenhausverbünden Sinn oder überall da, wo eine schnelle Diagnostik erforderlich ist, für die ein Spezialist über große Entfernungen Röntgenbilder einsehen kann. So werden die Analysen von HepaVision und InterventionPlanner inzwischen zur besseren Therapieplanung als „Distant Service“ für Leberzentren in Deutschland, Europa, Asien und Nordamerika zur Verfügung gestellt. Seit Ende 2002 sind so weltweit mehr als 500 Fälle bearbeitet worden.

Von der Vision des operierenden Roboters hält Lang jedoch nichts. „Medizinische Leistungen können nur durch die Kombination von Mensch und Computer verbessert werden. Der Computer allein wird dazu auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, denn die Anatomie der Menschen, die Krankheitsbilder und die Qualität der bildgebenden Verfahren sind sehr variabel.“ Lang träumt stattdessen von einer Software, die das gesammelte Wissen der Ärzte enthält und dem einzelnen Arzt assistiert – im Sinne einer patientenschonenderen Behandlung.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.