Entwicklung im Orchester

Wer will Autos schon für hunderttausende von Euro in Crash-Tests zertrümmern, wenn er die Testergebnisse auch am Bildschirm errechnen kann? Virtuelle Techniken machen es möglich, neue Modelle schneller und billiger zu planen.
Doch die moderne Produktentwicklung hat ihren Preis: Wer sie nutzen will, muss Informationen im gesamten Unternehmen sammeln und managen. Eine Herkulesaufgabe, wie das Praxisbeispiel bei der Volkswagen AG zeigt.




Der Schwierigkeitsgrad eines industriellen Entwicklungsvorgangs hängt von zwei Faktoren ab: der Komplexität des Produktes und der Komplexität der Prozesse, die zu seiner Herstellung nötig sind. Wenn man sich diese beiden Faktoren als Achsen eines Koordinatensystems vorstellt, rangiert die Automobilindustrie ganz rechts oben: sehr kompliziertes Produkt, sehr komplizierte Abläufe. Nur die Luft- und Raumfahrtindustrie hat es mit vergleichbar komplexen Gebilden zu tun.

Ein Auto besteht aus mehreren tausend Komponenten, die sorgfältig aufeinander abgestimmt werden müssen. Wenn ein neues Modell entsteht, beschäftigen sich hunderte von Teams gleichzeitig mit den unterschiedlichsten Aufgabenstellungen – von der Motorleistung über das Bremsverhalten bis hin zum Sounddesign. Und alle produzieren Unmengen von Daten. Soll das neue Modell besser und billiger werden, und das muss es, weil der Kunde immer neue Technologie für weniger Geld verlangt, muss der Automobilhersteller sparen. Schon in der Entwicklung. Und das geht nur mit Hilfe der Technik.

ENTWORFEN, GEBAUT, GEGEN DIE WAND GEFAHREN

Die virtuelle Produktentwicklung wird die Entstehung neuer Modelle künftig von den ersten Skizzen bis zur Serienreife bestimmen. Die Fahrzeuge werden am Computer entworfen, zusammengebaut und gegen die Wand gefahren. Ein virtueller Crash-Test lässt sich beliebig oft wiederholen, ohne dass zusätzlich hohe Kosten anfallen. So sinkt der finanzielle Aufwand, der für die Entwicklung nötig ist. Ebenso der zeitliche: Während es 1990 von der Idee bis zur Serienreife eines neuen Modells im Schnitt 51 Monate dauerte, nahm derselbe Prozess im Jahr 2000 nur noch 36 Monate in Anspruch, 2010 werden es weniger als 24 sein.

Die Verkürzung des Entwicklungszeitraums hat zur Folge, dass Prozesse, die früher aufeinander folgten, inzwischen parallel ablaufen müssen. Wenn heute in Wolfsburg die Entwicklung eines neuen Golfs startet, beginnt in Mexiko bereits die Planung der Anlagen, auf denen er einmal gefertigt werden soll. Wie in einem großen Orchester kommt es deshalb darauf an, dass alle im gleichen Takt spielen.

ERFOLGSFAKTOR DATENVERWALTUNG

Welche Fahreigenschaften soll das Auto haben? Auf welche Ausstattungselemente wird der Kunde bestehen, auf was kann er verzichten? Was ist machbar, was finanzierbar? Und wie lassen sich einzelne Module so in das Gesamtkonzept integrieren, dass sie mit möglichst geringem Aufwand montiert werden können? Viele Entscheidungen, die in der Frühphase der Entwicklung eines Modells getroffen werden, lassen sich später gar nicht oder nur kostenintensiv ändern. Um aufwändige Korrekturen zu vermeiden, brauchen die Entwickler also so früh wie möglich so viele Informationen wie möglich: Ein reibungsloser Entwicklungsprozess hängt von einer transparenten Verwaltung aller produktrelevanten Daten ab. Das Problem ist nur: Seit Fahrzeuge nicht mehr am Reißbrett, sondern am Computer mit Hilfe von CAD (Computer Aided Design) und anderen virtuellen Technologien entworfen werden, ist die Menge an Werkzeugen und Daten explodiert. Die Verwaltung der Daten wird zur Kernaufgabe.

HUNDERTE VON SUBSYSTEMEN

In der Vergangenheit versuchte man, das Problem mit immer neuen, zusätzlichen Software-Varianten zu lösen. „Wir sind den Konstrukteuren mit vielen Systemen und Subsystemen entgegengekommen“, sagt Holger Dietze, Leiter der Konzeptentwicklung bei Volkswagen. „Für fast jede Aufgabe gibt es ein entsprechendes Programm: für das Design, für die Kalkulation der Gewichte, für das Handling der Kosten, für die Einstufung der Freigaben.“ Der Komfort für den einzelnen Anwender steht bei diesen Programmen im Vordergrund – die Steuerung des Gesamtprojektes wird kaum berücksichtigt. Das hat zur Folge, dass die Konstrukteure die benötigten Informationen aus einer Vielzahl verschiedener Quellen herausfischen müssen, die parallel gepflegt werden. In Einzelfällen verbringen sie mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit der Datenrecherche. „Irgendwann haben wir festgestellt, dass es so nicht weitergeht“, sagt Ralf Brunken, Leiter der Abteilung für Technische Information bei Volkswagen. „Was wir brauchten, war ein zusammenhängendes Konzept.“

ZUGRIFF FÜR ALLE

Im Herbst 2002 fällt der Startschuss. Ein 15-köpfiges Volkswagen-Team aus Entwicklern und IT-Spezialisten macht sich zusammen mit drei McKinsey-Beratern daran, ein integriertes Datenmanagement-Konzept zu entwickeln. Anders als bisher konzentrieren sie sich auf die Lösung der Konflikte in den Prozessen. Ihr Ziel: die bessere Steuerung der Fahrzeugentwicklung und ein höherer Grad der Vernetzung des gesamten Konzerns. Holger Dietze ist Projektleiter. „Im Entwicklungsbereich sind die Teams bereits miteinander vernetzt“, sagt er heute. „Jetzt geht es darum, ein Daten-Rückgrat durch das ganze Unternehmen zu ziehen. Wir müssen frühzeitig wissen, ob die in den verschiedenen Teilbereichen entstandenen Pläne zueinander passen, ob sie die Bedürfnisse von Logistik, Fertigung und Marketing erfüllen und ob sie den Wünschen des Kunden entsprechen. Dazu benötigen wir eine in sich stimmige Datendrehscheibe, auf die alle Abteilungen Zugriff haben.“

Stimmig, konvergent, zusammenhängend – das sind Worte, die immer wieder fallen, damals wie heute. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, sollen alle, die am Entwicklungsprozess beteiligt sind, aufeinander zuarbeiten statt nebeneinander her. Die integrierte Systemlösung wird den Entwickler in Wolfsburg mit dem Einkäufer in China und dem Produktionsplaner für den Touareg in Bratislava verbinden. Zugleich wird der Datenaustausch die Kosten transparent machen – und zwar frühzeitig und markenübergreifend. Dietze: „Wenn wir bei Volkswagen früher wissen wollten, was der Airbag bei Audi kann und was er kostet, mussten wir einen Mitarbeiter hinschicken, um es herauszufinden. Künftig stellt uns die integrierte Systemwelt die relevanten Informationen automatisch zur Verfügung.“

NEUE PROZESSE STATT NEUER PROGRAMME

Das integrierte Datenmanagement ist ein Ansatz, der weit über die programmgesteuerte Verarbeitung von Daten hinausgeht. Er erfasst sämtliche Schritte im Entwicklungsprozess und organisiert sie neu. „Produktdatenmanagement ist kein IT-Problem, sondern eine Frage der Abläufe“, sagt Ralf Brunken. „Es geht darum, die Wege der Entwicklung zu beschleunigen und zu verbessern. Die Informationstechnologie hat dabei eine unterstützende Funktion, sie ist nicht Selbstzweck, sondern Hilfsmittel.“ Uli Müglitz, Berater bei McKinsey, sieht das ähnlich: „Bisher hat man meist danach gefragt, was mit IT möglich ist. Wir optimieren zuerst die Abläufe und suchen dann erst nach sinnvollen Software-Lösungen.“

VOM TEIL ZUM MODUL

Mit der Beschreibung und Veränderung der Abläufe geht eine neue Sicht auf die Struktur des Produktes einher. Ein Auto besteht nicht mehr aus mechanischen und elektronischen Teilen oder Verkleidungselementen, sondern aus heterogenen Modulen wie Tür, Sitz oder Cockpit. So lassen sich organisatorische Verantwortlichkeiten klarer zuordnen. In der Pflicht ist jeweils das Team, das den größten Anteil an der Konstruktion eines Moduls hat. „Unsere Welt ist komplex, wir machen sie einfach“, sagt Holger Dietze. „Deshalb müssen beispielsweise die Sitzleute die Verantwortung für die Motoren im Sitz übernehmen und nicht die Elektriker. Schließlich wollen wir den Sitz als Ganzes in unserem System wiederfinden und nicht irgendwelche Einzelteile, von denen wir nicht wissen, wie sie miteinander zusammenhängen.“ Durch die modulare Perspektive kann das komplexe Produkt vereinfacht abgebildet werden. Die Anzahl der Schnittstellen, an denen es zu Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Entwicklungsteams kommen könnte, reduziert sich um bis zu 95 Prozent.

KERNPUNKT SYNCHRONISIERUNG

Die Balkendiagramme auf dem Bildschirm von Holger Dietze sprechen eine klare Sprache: Nachträgliche Änderungen am Produktkonzept sind teuer. Die Entwicklungskosten einer großen Komponente, etwa einer Tür oder eines Cockpits, betragen um die 20 Millionen Euro. Die Werkzeuge und Anlagen, mit denen diese Komponenten gebaut werden, kosten das Fünf- bis Achtfache. Wird in einer späten Phase der Entwicklung auch nur ein eher unscheinbares Teil wie die Verkleidung eines Lenkstockschalters verändert, summieren sich die Kosten für die reine Anpassung der Werkzeuge schnell auf eine halbe Million Euro. Ein Kernpunkt des Projektes „Integriertes Datenmanagement“ ist deshalb die Synchronisierung von so genannten Langläuferbauteilen wie der Karosserie und Elementen mit kurzen Herstellungszeiten, die erst in einem späten Stadium der Entwicklung freigegeben werden – etwa einer Halterung fürs Handy. Auch Volkswagen musste die Erfahrung machen, wie sehr die Kosten steigen, wenn nicht zusammenpasst, was zusammengehört, weil zu viele an der Entwicklung beteiligt sind und der Abgleich der Daten nicht reibungslos funktioniert. „Fehler und Pannen in der Produktentwicklung können sich schnell zu Millionen summieren“, sagt Holger Dietze. „Durch unser zukünftiges Datenmanagement können wir solche Änderungskosten ganz vermeiden oder zumindest niedrig halten.“

EINE EINZIGE PLATTFORM

In den Entwicklungsabteilungen werden die geometrischen Daten in CAD-Files abgelegt. Alle Mitarbeiter, die außerhalb der Entwicklung mit dem Produkt zu tun haben, arbeiten mit der Stückliste, einem Datensatz, über den die gesamte logistische Steuerung läuft und der alle Komponenten des Fahrzeugs innerhalb einer hierarchischen Struktur abbildet. Die bei Volkswagen bereits eingesetzte Verknüpfung zwischen der CAD- und Stücklisten-Welt minimiert den Recherche-Aufwand für alle Beteiligten und beschleunigt den gesamten Entwicklungsprozess. „Unsere auf Web-Technologie basierte Verknüpfung von Produktstrukturen mit Produktdokumenten ist ein Beispiel dafür, wie künftig die heterogenen Datenquellen in unserem Produktentstehungsprozess in einer Integrations- und Kommunikationsplattform miteinander verbunden werden“, sagt Trac Tang, im Volkswagen-Konzern für Informationssysteme Produktentstehung verantwortlich. Die Ingenieure können auf eine einzige Plattform zugreifen, statt wie bisher mühsam verschiedene Datenwälder zu durchforsten. Die Plattform steht nicht nur den Entwicklern zur Verfügung, sie bindet auch alle anderen Fachbereiche ein, zum Beispiel Logistik, Finanzen und Produktion, und erlaubt so eine ökonomisch sinnvolle und montagegerechte Entwicklung.

Weil der integrierte Einsatz von IT hilft, das Datenvolumen zu reduzieren, verbessert sich auch der Austausch mit den Systemlieferanten. Jeder bekommt nur noch die Informationen, die er wirklich braucht. „Manche Partner“, sagt Ralf Brunken, „müssen nur die Eckdaten kennen, die für die Montage wichtig sind. Für ihre Zwecke reicht es aus, wenn bestimmte Komponenten als Blackbox dargestellt werden.“ Am Innenleben dieser Blackboxes kann auch dann noch gefeilt werden, wenn die Geometrie der Hülle schon längst als definitive Grundlage für externe Entwicklungsaufgaben dient.

ES BETRIFFT FAST JEDEN

Mai 2004: Die Entwicklung des neuen Organisationskonzeptes ist abgeschlossen. Inzwischen sind etwa 50 Volkswagen-Mitarbeiter am Projekt beteiligt. Ausgewählte Teams spielen das neue Konzept auf Basis der strategischen PDM-Systeme des Konzerns an einem Pilotfahrzeug durch, das im nächsten Jahr auf den Markt kommen soll. Die weitere Integration der IT-Landschaft steht noch bevor. Und mit ihr eine Umstellung der Abläufe im gesamten Volkswagen-Konzern: „Die Tragweite des Projektes hat uns selbst ein wenig erschreckt“, sagt Holger Dietze. „Es betrifft fast jeden, der in diesem Unternehmen tätig ist. Früher haben sich unsere Abläufe an der Hardware orientiert. Jetzt richten wir uns ganz auf die virtuellen Prozesse aus. Wenn wir damit fertig sind, wird sich die Arbeitsweise aller Konstrukteure, Planer und Einkäufer geändert haben.“ Theoretisch. Tatsächlich ist mit Widerstand zu rechnen.

Dann werden die Konstrukteure damit umgehen müssen, dass unreife Daten von außen eingesehen werden können. Die Produktionsplaner und Einkäufer müssen sich damit abfinden, dass es zu nachträglichen Änderungen der Datensätze kommen kann, auf denen ihre Planungen basieren. Ein Kommunikationskonzept, das den Mitarbeitern die Vorbehalte gegenüber den Veränderungen nehmen soll, ist in Arbeit. Und das Kernteam steht vor dem vielleicht schwierigsten Schritt: „Jetzt geht es vor allem darum, die Leute mitzunehmen“, sagt Dietze. „Wir müssen ihnen klar machen, dass die Umstellung keine Gefahr für sie bedeutet.“ Ihre Kreativität ist nicht in Frage gestellt, sie bekommt lediglich Struktur.

DIE SUCHE NACH FLÖHEN

Die Umstellung auf das neue Konzept wird in kleinen Schritten erfolgen. Erst wenn es besser läuft als das alte, soll es seinen Dienst aufnehmen. Die Sorgen und Ängste der Mitarbeiter werden die Umstellung zusätzlich verzögern. Doch am Ende des Projektes, sind sich Dietze und Brunken ganz sicher, wird die Datendrehscheibe funktionieren. Sie wird das Rückgrat der Produktentwicklung in einer vollkommen virtuellen Welt bilden – einer Welt, in der schnell, sicher und kostengünstig neue Produkte entstehen können. Die Crash-Tests unter realen Bedingungen werden dann nur noch dazu da sein, die im virtuellen Labor ermittelten Daten zu bestätigen. „Heute kann sich keiner mehr leisten, einen Prototyp für 300.000 Euro gehen die Wand zu fahren, nur um zu schauen, was passiert“, sagt Holger Dietze. „Wenn wir in Zukunft einen Prototyp bauen, ist er so weit ausgereift, dass er schon fast in Serie gehen kann. Und wir können uns mit der Suche nach den Flöhen beschäftigen.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.