Am Rande des Chaos

Kreativität. Das menschliche Gehirn organisiert sich selbst, balanciert zwischen Ordnung und Durcheinander – und schafft dabei ständig Neues. Unternehmen können sich diese Prozesse zum Vorbild nehmen, meint die Quantenphysikerin und Hirnforscherin Danah Zohar. Dann könnten sie wirklich innovativ sein.




Danah Zohar hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wege des menschlichen Denkens zu entschlüsseln. Sie studierte Physik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), an der Harvard University widmete sie sich anschließend vor allem der Psychologie und der Theologie. Weltweit bekannt wurde sie durch ihre Forschungen und Bücher, in denen sie Erkenntnisse der Quantenphysik auf das menschliche Bewusstsein und gesellschaftliche Systeme übertrug und damit für ein neues Verständnis sorgte.

In den vergangenen Jahren konzentrierte sich die Wissenschaftlerin, die inzwischen an der Oxford University lehrt, vor allem auf die Verbindung von Theorie und Praxis. Als Unternehmensberaterin und Trainerin in der Management-Weiterbildung geht es ihr darum, das Wissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns auf Organisationen zu übertragen. Zohar arbeitet für Konzerne wie Motorola, Philips, Volvo, Shell, Philip Morris oder Astra Pharmaceutical und ist eine gefragte Rednerin bei Organisationen wie der Unesco, dem Weltwirtschaftsforum oder der World Business Academy. Gemeinsam mit ihrem Mann, Ian Marshall, hat sie unter anderem das Buch „Who’s Afraid of Schrödinger’s Cat?“ geschrieben – einen spannenden Überblick über die neuen Ideen in der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts.

McK: Professor Zohar, Sie sind in der Quantenphysik und in der Hirnforschung zu Hause – und werden, wenn es um Wandel und Innovationsmanagement geht, seit Jahren von Unternehmen als Beraterin engagiert. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Zohar: Eine ganze Menge. Leistungsfähige und innovative Unternehmen benötigen viel Wissen, Neugier und Erfahrung, vor allem aber brauchen sie eine besondere Struktur. Eine Kultur, die Neues erst möglich macht, weil sie Kreativität zulässt und fördert. Das menschliche Gehirn ist der Ursprung aller Kreativität. Wenn wir also begreifen, wie ein Gehirn funktioniert und warum es so leistungsfähig ist, können wir daraus sehr viel für die Innovationskraft eines Unternehmens ableiten.

Wie entsteht Kreativität im Kopf?

Einfach gesagt: durch permanente Bewegung. Das menschliche Gehirn ist eine fabelhafte Konstruktion. Es besitzt keine starre Struktur, kann sich ständig neu verschalten. Es kann jederzeit neue neuronale Verbindungen legen und die alten auflösen. Wenn ein Mensch, entweder durch Bewusstseinsprozesse oder aufgrund von Erfahrungen oder Lebensumständen, vor neue Herausforderungen gestellt wird, ist sein Gehirn in der Lage, mit seiner eigenen Struktur darauf zu antworten und sich selbstständig neu zu organisieren. Steuerung, Kontrolle und Ausführung liegen, wenn man so will, in einer Hand. Das Gehirn braucht keine Befehle von oben, es funktioniert ausgezeichnet allein.

Sie meinen, schon die Funktionsweise sorgt für Kreativität?

Sie ist die Bedingung dafür, denn sie ermöglicht uns eine Vielzahl von Aktivitäten. Bislang unterschied die Hirnforschung immer zwei Arten des Denkens: erstens das rational-logische, problemlösende Denken. Das ist eine Fähigkeit des Großhirns, die mit dem Intelligenzquotienten (IQ) gemessen wird. Dabei verschaltet sich das Gehirn linear und seriell, vergleichbar mit Glühlampen auf einer Lichterkette.
Zweitens das assoziative Denken, das auf Erfahrungswissen beruht. Es ruft Gefühle hervor und steuert unser Verhalten. Merkmal dieser emotionalen Intelligenz, die ihr Zentrum im limbischen System hat und die wir als EQ (Emotional Intelligence Quotient) messen, ist eine parallel- und netzwerkartige Verschaltung. Die neuronalen Netze bestehen aus Bündeln von rund 100.000 Nervenzellen – und alle kommunizieren kreuz und quer und auf unerwartete Weise miteinander.

Und die Kombination aus Logik und Emotion, aus Linearität und Netzwerk macht den Menschen kreativ?

Das dachte die Wissenschaft immer. Seit ein paar Jahren weiß man es besser: Es gibt eine dritte Dimension. Wir nennen sie spirituelles Denken. Mit den beiden bekannten Denkformen bewegen wir uns auf sicherem Terrain innerhalb gegebener Grenzen. Damit machen wir Business as usual. Aber nur mit dem spirituellen Denken kann der Mensch innovativ sein.

Was hat Innovation mit Spiritualität zu tun?

Sie müssen Spiritualität im Sinne von Weisheit verstehen. Als eine weitere Funktionsweise des Gehirns, die man erst um die Jahrtausendwende entdeckte. Damals begriff die Forschung, dass das Gehirn kein mechanisches System ist, sondern ein Quantensystem. Quantensysteme sind immer nur teilweise bestimmbar, nicht kontrollierbar und so etwas wie ein Muster dynamischer Energie. Man fand damals heraus, dass 40-Hertz-Wellen, also 40 Zyklen pro Sekunde, über das ganze Gehirn laufen und vermutlich die Funktion haben, einzelne Informationen und Bilder zu einem Ganzen zusammenzufassen.
Gleichzeitig fanden Wissenschaftler die so genannten God Spots in den Schläfenlappen. Wenn man sie mit magnetischen Wellen reizt, löst das bei fast jedem Menschen spirituelle Gefühle und Erfahrungen aus. Diese neue Hirnfunktion ist unser spirituelles Denken, unser Spiritual Intelligence Quotient (SQ).

Spätestens an dieser Stelle dürften Sie in Ihren Vorträgen einen Teil Ihrer Zuhörer verlieren. Spirituelle Gefühle und God Spots klingen für Wirtschaftsvertreter vermutlich ziemlich esoterisch.

Sie haben Recht, aber ich gewinne die Zuhörer schnell wieder zurück, schließlich handelt es sich hierbei um handfeste wissenschaftliche Forschung. Alle Laborversuche wurden von Neurologen durchgeführt – mit Religion hatten sie nichts im Sinn. Und dass Teile unseres Gehirns archetypisches Wissen und Erfahrungen in sich tragen, die man früher immer als eine Art Welt- oder Menschheitswissen bezeichnet hat, ist ja nun auch nicht mehr so neu.
Neu ist, dass wir God Spots im Gehirn jetzt erstmals lokalisieren und messen konnten. Und seitdem wissen wir: Zusammen mit den 40-Hertz-Wellen erzeugen sie vermutlich unser Ich-Bewusstsein, also unseren Sinn für persönliche Identität. Deshalb auch der Begriff Spiritualität. Er steht für Geist oder Weisheit. Mit unserer spirituellen Intelligenz stellen wir grundlegende Fragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist meine Aufgabe in der Welt?
Anders formuliert: Mit IQ und EQ, die sich in rudimentärer Form auch bei höheren Säugetieren finden, spielt der Mensch begrenzte Spiele. Aber mit seinem SQ bricht er die alten Regeln und schafft sich neue. Der SQ ist etwas spezifisch Menschliches. Mit ihm verändern wir eine Situation und können unendlich viele Spiele neu erfinden. Der SQ ist unsere innovative Intelligenz.

Den Intelligenzquotienten kann ich messen, die emotionale Intelligenz eines Menschen im Zweifel auch spüren. Wie erkenne ich die spirituelle Intelligenz meines Gegenübers?

Ein Mensch mit hohem SQ ist spontan und mitfühlend und sich seiner selbstbewusst.Er weiß die Verschiedenartigkeit seiner Mitmenschen zu schätzen und hat das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er ist demütig, sieht in Widerständen eine Möglichkeit zu wachsen und hat die Fähigkeit, Dinge in unterschiedlichen Zusammenhängen zu sehen. Veränderung und Irritation machen ihm keine Angst, eher Lust. Ein spirituell intelligenter Mensch erkennt übergreifende Muster und Beziehungen. Er lässt sich von Werten und inneren Überzeugungen leiten und schwimmt auch mal gegen den Strom. Er ist sich seiner sicher, weil er spürt oder weiß, er hat etwas zu geben.

Das sind fast durchweg subjektive Kriterien. Lässt sich der spirituelle Quotient auch messen?

Wir arbeiten an der Entwicklung entsprechender Fragebögen und Tests. Eine erste Erprobung lässt vermuten, dass die Höhe des SQ unabhängig ist von der des IQ. Alle drei Arten des Denkens arbeiten unabhängig voneinander. Wenn es gelingt, diese drei Intelligenzen synchron zu nutzen, kann man zu völlig neuen Qualitäten im Denken und in der Kreativität gelangen. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Veränderung von Aggregatzuständen in der Chemie wie etwa der Verwandlung von Wasser in Dampf. Wenn alle drei Arten des Denkens synchron arbeiten, nenne ich das „totale Intelligenz“.

Ein spirituell intelligentes Individuum wäre vergleichbar mit einem erfolgreichen Unternehmen, das Krisen meistert, wandlungsfähig ist und sich auf veränderte Märkte und Umgebungen einstellen kann. Eine Leistungsorganisation. Leider sind die meisten Unternehmen von diesem Ideal weit entfernt. Wie kommt man dahin?

Indem man versucht, sich zunutze zu machen, was auch das menschliche Gehirn so leistungsstark macht. Ein Unternehmen muss Veränderung zulassen. Es muss flexibel sein und Raum lassen für Kreativität. Es muss sich seiner selbst bewusst sein. Wissen, wo es steht und dass Veränderung etwas Positives ist. In fest gefügten mechanistischen Strukturen ist kein Platz für Kreativität und Innovation. Unser Gehirn ist das Vorbild: ein sich selbst organisierendes System. Eine Organisation, die innovativ sein will, muss entsprechende Strukturen entwickeln und ein hohes Maß an Selbstorganisation der Mitarbeiter zulassen.

Die meisten Unternehmensführer assoziieren Selbstorganisation vermutlich mit Chaos.

Selbstorganisation führt ein Unternehmen ebenso wenig ins Chaos, wie mein Körper oder Ihr Körper ein Chaos ist – es sei denn, wir hätten Krebs. Der menschliche Körper ist wie jedes lebende System selbstorganisierend und anpassungsfähig und befindet sich ständig am Rande des Chaos. Aber eben nicht im Chaos, das ist der Unterschied.
Genau die Grenze, an der Chaos und Ordnung aufeinander treffen, ist der Ort, wo neue Informationen auftauchen und neue Ordnungen entstehen können. Das ist der Raum für Innovationen. Am Rande des Chaos gibt es noch keine fest gefügte Ordnung. Die Dinge sind nur lose verbunden. Sie können sich in jede Richtung entwickeln und sich auf unterschiedliche Art neu organisieren. Deshalb sind biologische Systeme so kreativ. Sie können sich immer wieder veränderten Bedingungen anpassen.

Das mag für das menschliche Gehirn, für biologische Systeme, vielleicht sogar für kleine und mittlere Unternehmen die ideale Organisationsform sein. Aber was ist mit dem Konzern? Wie sollen sich zigtausend Mitarbeiter stets und ständig neu organisieren?

Die Größe ist nicht entscheidend. Der Konzern besteht aus Menschen. Aus Bereichen, Divisionen, Sparten, Abteilungen, Gruppen und kleinen Teams. Jede Einheit könnte sich selbst organisieren – sie kann es nicht, weil wir es nicht zulassen. Wir vertrauen nicht auf die individuelle Kraft und die Möglichkeiten. Wir glauben auch nicht an die Kraft der Organisation. Stattdessen meinen wir, wir müssten ständig steuern und kontrollieren. Auch Organisationen haben Angst. Und Hierarchie suggeriert Sicherheit. Unternehmen, in denen Sicherheit und Kontrolle vorherrschen, sind auch in einem stabilen Gleichgewicht und funktionieren in der Regel eine lange Zeit ganz gut. Aber sie sind nicht kreativ. Wer innovativ sein will, muss selbst organisierende Strukturen entwickeln.
Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die das längst geschafft haben. Und ihre Erfahrungen zeigen deutlich: Solange selbstorganisierende Netzwerke durch eine übergreifende Vision zusammengehalten werden, die allen Klarheit gibt über Ziel und Richtung, ist eine Balance am Rande des Chaos gut möglich.

Hierarchien haben nicht nur negative Begleiterscheinungen, Strukturen reduzieren auch unnötige Mehrarbeit und sorgen für Klarheit und Entlastung. Hat nicht jeder – egal, ob Mensch oder Organisation – auch ein tiefes Bedürfnis nach Ruhe, Routine und Sicherheit?

Richtig, ein Teil unseres Gehirns strebt nach Stabilität und Kontrolle. Tatsächlich ist das lebenswichtig – man stelle sich vor, wir müssten jeden Tag alles neu lernen. Kein Individuum kann sich ständig neu organisieren, bestimmte Handlungen müssen als Routinen quasi automatisch ablaufen. Wenn wir nicht in bestimmten Bereichen ständig auf unsere Erfahrung zurückgreifen könnten, wäre auch keine Energie frei für Kreativität. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn es keine Veränderungen gibt, wird das Gehirn träge, stumpft ab und baut keine neuen Strukturen mehr auf. Und das gilt auch für Organisationen.

Über einen Mangel an Veränderung können sich die meisten Unternehmen in jüngster Vergangenheit nicht beklagen. Ganz im Gegenteil. Mit dem Wandel wächst allerdings nicht die Kreativität, sondern das Gefühl der Überforderung – und die Innovationskraft schwindet.

Ein Individuum, das sich nicht als autonom erleben kann, empfindet Veränderung als Bedrohung. Es wird nach Sicherheit streben, versuchen, den Status quo zu bewahren, um Stabilität herzustellen. Das ist das Gegenteil von Kreativität.
Umgekehrt braucht jedes kreative System auch Ruhe und Phasen von Erholung. Das Gehirn muss also seine sich widersprechenden Teile ausbalancieren und ständig zweierlei tun: mit seinen Gewohnheiten mühelos und spielend auf bekanntem Terrain funktionieren, gewissermaßen an den vertrauten Küsten entlangsegeln – und gleichzeitig nach neuen Ufern Ausschau halten und sich ins Unbekannte wagen. Diese Balance zwischen dem, was man sicher weiß und fühlt, und dem, wovor man erschreckt, weil es neu ist, kann das menschliche Gehirn nur am Rande des Chaos finden. Auch Organisationen brauchen Phasen der Ruhe, es muss immer etwas geben, worauf man sich verlassen kann. Mitarbeiter brauchen eine Basis, die ihnen Sicherheit gibt. Und ein Ziel, das sie verfolgen wollen. Alles dazwischen können sie ganz gut allein. Kreativität ist unendlich. Und die Angst vor Erschöpfung unbegründet. Unser Gehirn ist so flexibel, dass es sich bis ans Lebensende ständig neu verschalten und neue Strukturen aufbauen kann.

Mitfühlend, visionär und spontan

Zwölf Merkmale spiritueller Intelligenz

  1. Self-Awareness – Bewusstsein seiner selbst
    Das Wissen davon, wer man ist, woran man glaubt, was man schätzt und was einen motiviert.
  2. Spontaneity – Spontaneität
    Der Mut und die Möglichkeit, auf Veränderungen zu reagieren.
  3. Being vision and value led – geführt von Visionen und Werten
    Das Handeln aufgrund von Prinzipien und innerer Überzeugung mit Blick auf ein erstrebenswertes Ziel.
  4. Holism – Ganzheitlichkeit
    Die Begabung, übergreifende Muster, Beziehungen und Verbindungen wahrzunehmen.
  5. Compassion – Mitgefühl
    Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Gefühle nachzuvollziehen.
  6. Celebration of Diversity – Verschiedenartigkeit wertschätzen
    Das Wertschätzen von Menschen wegen ihrer Andersartigkeit, nicht trotz.
  7. Field independence – Gegen-den-Strom-Schwimmen
    Der Mut, eigene Entscheidungen zu treffen und sich im Zweifel gegen die Masse zu stellen.
  8. Humility – Demut
    Die Einsicht, Teil eines größeren Ganzen zu sein, und seinen Platz in der Welt zu kennen.
  9. Tendency to ask fundamental „Why“-questions – Fragen nach den Ursachen stellen
    Das Bedürfnis, die Dinge verstehen und ihnen auf den Grund gehen zu wollen.
  10. Ability to reframe – einen neuen Blickwinkel einnehmen
    Die Fähigkeit, Situationen oder Probleme mit Abstand und in einem anderen Kontext zu betrachten.
  11. Positive use of Adversity – Widerstände positiv nutzen
    Die Grundhaltung, dass man aus Fehlern, Rückschlägen und Leid lernt und daran wächst.
  12. Sense of Vocation – sich berufen fühlen
    Die Bereitschaft, zu dienen und etwas zu geben.

Literatur

Spiritual Capital – Wealth We Can Live by. Zusammen mit Ian Marshall. Berrett-Koehler, 2004; 250 Seiten; 22,10 Euro

SQ – Spirituelle Intelligenz. Zusammen mit Ian Marshall. Scherz Verlag, 2001; 350 Seiten; 13 Euro

Am Rande des Chaos – Neues Denken für chaotische Zeiten. Midas Verlag, 2000; 256 Seiten; 24,80 Euro

The Quantum Self – Human Nature and Consciousness Defined by the New Physics. William Morrow, 1991; 272 Seiten; 10,99 Euro

www.dzohar.com


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.