Intelligenter, flexibler, schneller

Für KarstadtQuelle ist China heute Import-Land Nummer eins. Und der Konzern hat seine Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft. Professor Helmut Merkel, Vorstandsvorsitzender der Karstadt Warenhaus AG über seine Pläne.




McK: Professor Merkel, dieses große chinesische Schriftzeichen hinter Ihrem Schreibtisch: Wofür steht das?

Professor Helmut Merkel: Das ist „zhong“ und steht für „Mitte“, auch für Balanciertheit und die Konzentration aufs Wesentliche. Das Wissen, dass man nur existieren kann, wenn man seine Mitte gefunden hat. Also etwas, das wir alle anstreben.

Sie haben an der Universität in Schanghai als Gast gelehrt, reisen regelmäßig durch China, sprechen Mandarin und sind mit einer Chinesin verheiratet. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste China-Erfahrung?

Ja, natürlich, denn sie traf mich wie der Schlag. Mitte der achtziger Jahre erhielt ich eine Einladung der Fudan University in Schanghai, dort als Gastdozent zu lehren. Als ich in Schanghai landete, war mein Abholer nicht da, und ich, der ich kein Wort Mandarin sprach, stand ziemlich verloren herum. Es dauerte aber nicht lange, bis ich umringt war von zwei Dutzend Menschen, die zwar kein Wort verstanden, aber mir tatsächlich halfen, zum Gästehaus der Universität zu gelangen. Damals habe ich den Ehrgeiz entwickelt, die Sprache zumindest so zu lernen, dass ich mich zurechtfinde. Es hat mich unheimlich fasziniert, dass dies die einzige noch lebendige Sprache ist, deren schriftliche Abbildung bis in die Anfänge der Menschheit zurückgeht.

Ihr Unternehmen ist schon seit mehr als 20 Jahren in Schanghai präsent. Was hat Ihre Vorgänger ins damals noch streng kommunistische China getrieben?

China war schon damals ein Niedriglohnland, das Produktmuster hervorragend kopierte. Und es ist noch heute unermesslich ressourcenreich. Thailand und Taiwan waren für uns auch mal interessant, doch das hat sich aus vielerlei Gründen geändert.
Thailand zum Beispiel ist an der Frage der Masse gescheitert – die Produzenten dort waren einfach nicht in der Lage, ihre Betriebsgrößen entsprechend auszuweiten. Dazu kamen umfangreiche Regierungsauflagen, die die Produktion sehr verteuert haben. Eine thailändische Arbeitskraft in einer Schuhfabrik kostet heute alles in allem 180 Dollar pro Monat – in China sind es nur 40 bis 80 Dollar.

Trotzdem kaufen Sie beileibe nicht nur in China ein.

Nein, denn es gibt nach wie vor selektive Kompetenzen. Korea und Bangladesch beispielsweise sind gut in hochwertiger Freizeitkleidung, Griechenland hat eine große Tradition in Strickwaren. Ich bin auch überzeugt, dass die Ukraine noch eine vielversprechende Entwicklung vor sich hat, während Bulgarien und Rumänien ihren Zenit als Beschaffungsland vermutlich bereits überschritten haben.

Lassen Sie eigentlich auch noch in Deutschland fertigen?

Nicht, dass ich wüsste. Unsere Inlandslieferanten lassen heute ja auch weitgehend im Ausland produzieren.

Gibt es für Direct Sourcing, also den Einkauf direkt beim Hersteller, wie Ihr Unternehmen es betreibt, eigentlich eine Grenze nach oben?

Abgesehen von drei Einschränkungen: nein. Zu einem vernünftigen Sortiment gehören – erstens – ja auch Markenwaren; ohne die kann ein Warenhaus unmöglich auskommen. Die zweite Einschränkung betrifft die Geschwindigkeit. Früher hatten wir lediglich zwei Produktzyklen im Jahr, heute tauschen wir einzelne Produkte auf Wochenbasis aus. Die Flexibilität nimmt also zu, während die Zahl der Produkte pro Modell abnimmt. Und das treibt natürlich die Kosten.
Die dritte Einschränkung ist der Qualitätsaspekt. Auch die Produzenten betreiben globales Sourcing und die Vormaterialien wechseln von Lieferung zu Lieferung. Wenn in Südamerika aber eine Mückenplage herrscht, ist die Qualität des Leders dort plötzlich dramatisch schlechter. Da helfen Ihnen keine Zertifikate, sondern nur fortlaufende, eingehende Kontrollen. Wir werden also immer weiter in die Vertikalisierung gehen – das heißt, viel näher an den Hersteller heranrücken – und vom Rohmaterial bis zum fertigen Artikel alle Produktionsschritte begleiten müssen.

Noch beschaffen Sie einen Großteil Ihrer Waren über zwischengeschaltete Importeure. Warum kaufen Sie nicht mehr direkt vor Ort ein?

Das muss man erst einmal können, denn hinter jedem Glied einer Supply Chain steckt eine enorme Managementleistung. Da ist ein unheimliches Know-how gefragt, und man muss die Leute erst einmal dorthin setzen, wo sie ihr Know-how kombinieren können. Außerdem: Allein kriegt man das gar nicht hin. Sie brauchen Partner, die exakt verstehen, was bei Ihnen gefragt ist. Und Sie müssen ein System aus Checks and Balances etablieren. Denn einem Importeur Risiken abzunehmen heißt ja auch, die Risiken selbst zu übernehmen.
Wenn wir selbst Textilien herstellen lassen, müssen wir zum Beispiel garantieren, dass die Ware frei von Stoffen wie AZO, Quecksilber und Formaldehyden ist. Wir müssen also eine zuverlässige Qualitätsprüfung etablieren, und das bedeutet viel Kleinarbeit. Ein weiteres Beispiel: Wir geben heute unseren Schuhlieferanten sogar vor, welche Schuhkartons sie zu verwenden haben. Es gibt günstige, die kosten nur 30Cents, sind aber im schlimmsten Fall wabbelig und brechen zusammen, wenn man sie stapelt. Also haben wir uns für die 70 Cent teuren, stabilen entschieden. Um all solche Details muss man sich kümmern, sonst zahlt man eine Menge Geld.

Wie wird sich das Direct Sourcing bei Karstadt künftig verändern?

Wir werden unsere gesamte Supply Chain besser integrieren und dadurch viel Zeit gewinnen. Warum soll etwa eine Merchandiserin nicht vor Ort entscheiden, ob ein Muster unseren Vorstellungen entspricht? Zurzeit werden die Muster noch nach Deutschland gesandt, dabei würde das Versenden eines hochauflösenden Bildes völlig ausreichen. Die Zeitpuffer für das Hin- und Herschicken von Warenproben werden wegfallen. Und auf diese Weise werden wir intelligentere, flexiblere, schnellere Ketten aufbauen.

Was ist nach so vielen Jahren in China Ihre wichtigste Erkenntnis, um erfolgreich Geschäfte zu betreiben?

Man muss die Kultur verstehen lernen. Wenn Sie den anderen nicht respektieren und für voll nehmen, haben Sie in China keine Chance. Für mich ist es manchmal beschämend, zuzusehen, wie manche Westler glauben, mit den Chinesen umspringen zu können.

Umgekehrt springen Chinesen mit ihren westlichen Geschäftspartnern auch nicht gerade zimperlich um. Stichwort Rechtsunsicherheit: Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Markenrechte?

Markenrechte werden leider in der Tat mit Füßen getreten – aber das ist kein spezifisch chinesisches Problem, das gibt es genauso in Rumänien, Bulgarien oder Südamerika.

Ein typisch chinesisches Problem ist die Sorglosigkeit, in der mit Umwelt und Mitarbeitergesundheit umgegangen wird.

China geht derzeit durch eine Phase wie wir zu unserer Wirtschaftswunderzeit. Ich erinnere mich an meine Kindheit am Rhein, wo selbst ich als kleiner Junge genau merkte, wie die Wasserqualität immer schlechter wurde. So ist es heute in China, da sieht man in Guangzhou im Pearl-River-Delta selbst an Sommertagen die Sonne vor lauter Smog nicht mehr. Doch genauso, wie sich bei uns Arbeits- und Umweltstandards durchgesetzt haben und heute der Rhein wieder einer der artenreichsten Flüsse ist, wird das auch in China geschehen.

Menschenrechtsorganisationen fordern schon mal, so lange nicht in China fertigen zu lassen, wie Umwelt- und Arbeitsstandards nicht stimmen.

Die Chinesen wissen sehr genau, wo die Sensitivität bei uns liegt. Aber sie nutzen die komparativen Vorteile, die sie heute noch haben. Wir beginnen jetzt ja auch mit unseren Zertifizierungen gemäß den Richtlinien der AVE. Wer diese Kriterien mittelfristig nicht erfüllt, bekommt keine Aufträge mehr. Mittlerweile haben auch die Chinesen erkannt, dass gute Arbeitsbedingungen mit hoher Produktivität einhergehen. Nach 16 Stunden Arbeit kann kein Mensch mehr Qualität bringen. Aber mit steigenden Standards steigen natürlich auch die Arbeitskosten und damit die Preise, die wir letztlich für Produkte nehmen müssen.
Aber beobachten Sie mal deutsche Verbraucher, wenn sie vor einem Warenhausregal stehen: Die meisten vergessen blitzartig alles, sobald sie den Preis sehen.

All jene, die hier zu Lande vor Überhitzung warnen und das vermeintliche Wirtschaftswunderland bereits kurz vor dem Absturz sehen, irren also?

Natürlich gibt es Risiken. Die Gegensätze zwischen den boomenden Küstenprovinzen und der unterprivilegierten Bevölkerung im Hinterland, insbesondere in den westlichen Provinzen, könnten das Wachstum in einigen Regionen tatsächlich für einige Zeit unterbrechen. Genauso ist es mit den Faktoren Energieknappheit und Umweltverschmutzung. Denkbar ist auch, dass China nach dem Wegfall der Quoten schlicht zu erfolgreich wird. Südeuropäische Hersteller, die Produktionskapazitäten und Aufträge an China verlieren, könnten versuchen, den Warenfluss mit einer Kaskade von Anti-Dumping-Klagen für einige Zeit zu stoppen.
Für die nächsten Jahre sehe ich aber deutlich mehr Chancen als Risiken. Wenn Sie einen Kühlschrank für ein Drittel unseres Preises herstellen können, ist das keine Seifenblase, sondern ein unglaublicher Wettbewerbsvorteil. Hinzu kommt die enorme Nachfrage im Land, die für einen langfristigen Boom sorgen wird.
Und dann? Eines Tages wird den Chinesen passieren, was bei uns derzeit passiert: dass Systeme aufgebaut wurden, die auf Wachstum ausgerichtet sind, aber kein Wachstum mehr da ist.

Wann wird das sein?

Es wird sicher ein gutes Jahrhundert dauern.

Professor Helmut Merkel wechselte im Laufe seiner beruflichen Karriere mehrfach zwischen Theorie und Praxis. Der Betriebswirt war Projektleiter beim Beratungsunternehmen Sema Group, lehrte BWL, Logistik und Wirtschaftsinformatik an der Universität Mannheim, war Mitglied der Geschäftsleitung der Handelsgruppe Deichmann und wurde im April 2000 in den Vorstand der KarstadtQuelle AG berufen. Seit Juli 2003 Ist Helmut Merkel Vorstandsvorsitzender der Karstadt Warenhaus AG mit Sitz in Essen.

Weltweite Suche – Global Sourcing in der Automobilindustrie

Textil- und Spielzeugindustrie nutzen die Faktorkostenvorteile in Niedriglohnländern wie China oder Indien schon längst. Automobilhersteller aus Europa, den USA und Japan dagegen verhalten sich bislang zurückhaltend – trotz internationaler Allianzen und globaler Ausrichtung. Anders als Lieferanten aus geografisch näher liegenden Ländern wie Mexiko oder der Tschechischen Republik werden die Zulieferer aus Indien und China hinsichtlich Qualität und Effizienz deutlich kritischer beurteilt. Anfang des Jahrzehnts machten die Exporte von Automobilkomponenten weniger als ein Prozent der gesamten Ausfuhren Chinas aus (zum Vergleich: Mexiko 7 Prozent, Tschechien 16 Prozent). Zudem handelt es sich in China fast ausschließlich um Ersatzteile, nicht um Erstausrüstungsgeschäft. Tatsächlich sind die Anforderungen an den Einkauf von Automobilkomponenten deutlich komplexer als in anderen Industrien. Neben Parametern wie Kosten und Qualität spielt vor allem die Zeit eine wichtige Rolle: Einzelne Teile just in time und sequenzgenau über tausende Kilometer in die Supply Chain einzutakten ist auch für erfahrene Logistiker höchst kompliziert. Und die Komplexität der Aufgaben wächst mit jedem Kilometer, den der Lieferant vom eigenen Werk entfernt produziert.

Doch auch im Automobilbau lassen sich Kostenvorteile nutzen. Welche der gut 3000 mechanischen Teile eines Mittelklasseautos für eine Produktion in der Ferne in Frage kommen, muss jedoch sorgfältig geprüft werden. Denn auch wenn die Herstellung günstig wäre: Einige Teile sind so sperrig (Treibstofftanks) oder so empfindlich (Windschutzscheibe), dass ein Überseetransport aus ökonomischer Sicht nicht sinnvoll ist. Die übrigen Teile können – auf Basis ihrer Lohn- oder Materialkostenanteile und mit Blick auf ihren Technologiegehalt – in fünf Cluster gegliedert werden. Berücksichtigt man Einflussfaktoren wie Kostensenkungen durch Spezifikationsanpassungen oder kontinuierliche Produktivitätsverbesserungen über mehrere Modellzyklen, lassen sich durch den Einkauf in Niedriglohnländern im Einzelfall mehr als 70 Prozent der Kosten sparen. Maßnahmen wie Änderungen im Produktdesign können die Kostenstruktur einzelner Teile und Komponenten zudem so verändern, dass sie sich in ein Cluster mit höherer globaler Beschaffbarkeit verschieben lassen.

Die Grundanforderungen bleiben: Global Sourcing erfordert eine funktionierende Organisation und eine eigene Einkaufsabteilung einschließlich talentierter lokaler Manager vor Ort zum Aufbau eines zuverlässigen Lieferantennetzwerks. Mit all dem lassen sich weltweit Kostenvorteile nutzen.

Cluster-Ansatz bei der globalen Beschaffung von Automobilteilen und -komponenten (in Prozent)

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Quelle: McKinsey Automotive & Assembly Sektor
* Anteil an den Materialkosten eines Autos; komplexe elektronische Komponenten nicht eingerechnet
** Für das Jahr 2015 gerechnet, im Vergleich zur Inlandsbeschaffung

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.