Im Clanhaus um die ganze Welt

Ob in Thailand, Malaysia, den Philippinen oder Indonesien – die Geschichte der chinesischen Einwanderer in Südostasien ist die Geschichte eines erstaunlichen wirtschaftlichen Erfolges. Aber wie konnten bettelarme Bauern in einer fremden und nicht immer freundlichen Umgebung zu erfolgreichen Unternehmern aufsteigen?
Yenni Kwok erzählt die Historie der chinesischen Diaspora zwischen Kolonialisten und Kommunisten, zwischen Protektion und Pogrom – und damit auch einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte.




Nach 88 Jahren hat ihn seine lebenslange Odyssee schließlich nach Singapur geführt. Von dort aus wacht Liem Sioe Liong nun über die Reste einer Firmengruppe, die einst zu den größten Indonesiens zählte. Er ist nach wie vor einer der reichsten Männer Asiens – wie reich genau, weiß niemand. 1994 wurde sein persönliches Vermögen auf 4,8 Milliarden US-Dollar geschätzt, im Jahr 2000 ging Forbes von einer Milliarde Dollar aus. Seine Verschlossenheit hat ihn zu einer mythischen Figur werden lassen. Er ist so etwas wie der Howard Hawks Asiens.

1990 betrugen die Umsätze von Liems international operierender Salim-Gruppe etwa acht Milliarden US-Dollar. Allein das heimische Geschäft von Salim machte rund fünf Prozent des indonesischen Bruttoinlandsproduktes aus. 135.000 Beschäftigte waren für die Gruppe tätig, die mehr als 300 Unternehmen unter ihrem Dach vereinigte. Liem war die Nummer eins im indonesischen Bankengeschäft, dominierte genauso den Markt für Zement wie den für Nudeln, hielt große Anteile in der Autoproduktion und spielte eine zentrale Rolle in der Petrochemie, bei Baby-Nahrung und im Immobiliengeschäft. Auf den Umsatz bezogen, übertraf die Salim-Gruppe die anderen großen Konzerne Indonesiens um rund das Dreifache. Doch Liems Schicksal war untrennbar verbunden mit dem des indonesischen Diktators Suharto. Als dessen Karriere 1998 zu Ende ging, war auch für Liem die Zeit gekommen.

Wirtschaftlich erfolgreich, kulturell isoliert

Geboren wurde Liem in der südchinesischen Provinz Fujian. Armut und Perspektivlosigkeit hatten ihn jedoch schon früh aus seiner Heimat vertrieben. 1937 verschlug es den vagabundierenden Habenichts schließlich nach Zentraljava. Dort wurde er zunächst Kleinhändler und verkaufte Erdnüsse, Nelken und Fahrradteile. Doch in den Vierzigern begann er, mit den neuen nationalistisch-revolutionären Streitkräften Geschäfte zu machen. Wenige Jahre später war er zu einem wichtigen Ausrüster der Diponegoro-Division aufgestiegen. Der für die Truppenausrüstung zuständige Offizier bei der prestigeträchtigen Einheit war der Leutnant – und spätere General – Suharto.

Suharto verstand sich gut mit dem bescheidenen Mann aus Fujian. Als sich der „Vater der Entwicklung“ 1965 in Indonesien an die Macht putschte, begann für Liem ein rasanter Aufstieg. Und auch anderen Unternehmern chinesischer Abstammung half der Diktator auf die Sprünge. Aber während Suharto sich finanziell auf eine Schicht von chinesischstämmigen Großunternehmern stützte, unternahm er alles, um die kulturelle Andersartigkeit der chinesischen Gemeinde einzudämmen: Seine Regierung drängte die Einwanderer, indonesische Namen anzunehmen, schloss ihre Schulen und untersagte den Gebrauch ihrer Sprache und Schrift in der Öffentlichkeit.

Diese widersprüchliche Politik hatte in der Region durchaus Tradition.„Die Übersee-Chinesen erfüllten für eine ganze Reihe von Regierungen eine wichtige Funktion“, sagt Leo Douw, Professor für moderne chinesische Geschichte und Gesellschaft an der Universität von Amsterdam. „Sie bildeten eine Schicht von Geschäftsleuten, die einerseits tüchtig und zuverlässig waren, andererseits kulturell isoliert. Das machte sie angreifbar und damit für die Regierenden ungefährlich.“ In Indonesien hatten es vor Suharto schon die Holländer so gesehen, ebenso die Spanier auf den Philippinen und die Monarchen Thailands im eigenen Land. Mit dieser Haltung trugen die jeweiligen Machthaber zwar zum geschäftlichen Erfolg der Chinesen in den Regionen bei. Doch dieser Erfolg hatte einen hohen Preis: Wuchs ihr wirklicher oder vermeintlicher Einfluss zu sehr, wurde es gefährlich. Pogrome waren bis in die jüngste Zeit keine Seltenheit, ebenso wie die staatliche Unterdrückung chinesischer Kultur und Lebensart.

Trotz dieser Schreckensmeldungen zog es immer wieder Chinesen fort aus der Heimat. Waren die frühen Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert in erster Linie wagemutige Händler auf der Suche nach neuen Märkten und Waren, wurden spätere Generationen durch Bürgerkriege, den Niedergang des Kaiserreichs, das Chaos der ersten Republikjahre, Überbevölkerung und Hungersnöte aus dem Land getrieben. Doch was auch immer die Gründe für den Exodus waren: In ihren neuen Heimatländern erwiesen sich die Exilchinesen als ausgesprochen erfolgreich. In Indonesien werden noch heute etwa 80 Prozent der 200 größten Unternehmen von chinesischen Einwanderern oder ihren Nachfahren kontrolliert. In fast allen anderen Ländern Südostasiens spielen sie eine ähnlich zentrale Rolle im Geschäftsleben. Viele der bettelarmen Auswanderer oder ihre Kinder schafften den Aufstieg in die Mittelschicht, einige sogar in die Oberklasse. Wie haben sie das gemacht?

Handel und Kommerz haben eine lange Tradition in China. In weiten Teilen Südostasiens dagegen waren dies ziemlich neue Ideen. Damit war die Konkurrenzsituation für die Neuankömmlinge also recht günstig. Als zentraler Startvorteil erwies sich jedoch die vor allem in Südchina seit langem übliche Organisation in weit verzweigten Clan-Netzwerken. Wo immer es die Emigranten hin verschlug: Der Clan war bereits da. In den Clanhäusern fanden die Neuankömmlinge Starthilfe, Zugang zu Krediten und Marktinformationen. Dort ließen sich lokale und regionale Handelsbeziehungen knüpfen, die den Radius der nichtchinesischen Konkurrenz in der Regel bei weitem übertrafen.

Auch die Organisation der Emigration trug zum Erfolg bei. So lieh sich der angehende Emigrant in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – einer der Hochphasen chinesischer Auswanderung – üblicherweise das Reisegeld von einem „alten Gast“, so der chinesische Ausdruck für Angehörige einer früheren Auswanderergeneration. Einige von ihnen pendelten regelmäßig zwischen den Hafenstädten Südostasiens und ihren Heimatgegenden in China. Dort rekrutierten sie „neue Gäste“. Auf kleinen Sampans reisten die Neuen entlang der südchinesischen Küste bis zu einem der großen Häfen, vor allem Xiamen, Shantou und Hongkong.

Dabei blieb man unter sich. War der neue Gast etwa ein Angehöriger der Hakka, einer Volksgruppe in Südchina, so reiste er im Gefolge eines Hakka-Anwerbers. Solange er auf die Überfahrt wartete, stieg er in einer Herberge ab, die auf Hakka spezialisiert war. Das hatte nicht nur den Vorteil, dass er sich dort seiner Muttersprache bedienen konnte – die zahlreichen südchinesischen Dialekte unterscheiden sich voneinander oft so stark wie europäische Sprachen einer linguistischen Familie. Es gab dort auch die Gerichte der heimischen Küche, nicht unwichtig in einem Land, dessen Bewohner etwas anderes als das Essen ihrer Heimatregion in der Regel für kaum genießbar halten. Es war für den Auswanderer aber auch deshalb günstig, unter Landsleuten zu bleiben, weil er dort nicht den Feindseligkeiten anderer chinesischer Volksgruppen ausgesetzt war. Ein verbissener Krieg zwischen Hakka und Punti-Guangzhouesen etwa war für eine ganze Generation von Auswanderern das entscheidende Motiv, die Heimat zu verlassen.

Stach das Schiff endlich in See, begleitete der Anwerber seine Klienten bis zum Bestimmungsort. Dort lieferte er sie bei ihrem neuen Arbeitgeber ab oder brachte sie zu den Verwandten, die nach ihnen geschickt hatten. Die Neuen wurden in den Zielländern schnell in die passenden Clanhäuser integriert. In Südchina hatten solche Clanorganisationen schon lange eine zentrale Rolle gespielt. Guangdong und Fujian, die Heimatprovinzen fast aller Übersee-Chinesen, sind weit entfernt von der Hauptstadt. An diesen Rändern des Imperiums reichte die staatliche Autorität meist nicht bis auf die Dorfebene, sondern versandete irgendwo in der Umgebung der Kreisstädte. Es waren die Clanhäuser oder Huiguan, die diese Lücke füllten. In den Dörfern lief nichts ohne die mächtigen Familien, und auf den unteren Verwaltungsebenen kamen selbst die kaiserlichen Beamten ohne ihre Unterstützung nicht aus.

Die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Clans waren häufig fiktiv. Mit einer Familie, die sich aus Kindern, Eltern und Großeltern zusammensetzt, hatten diese Gruppierungen nicht viel gemeinsam. So gab es ganze Dörfer, die mit einem Familiennamen auskamen – damit besiegelten die Bewohner ihr Abhängigkeitsverhältnis zum mächtigsten Clan. Das Ansehen der einzelnen Clanhäuser hing maßgeblich von ihrer Ahnenreihe ab. Ahnenverehrung ist ein zentrales Element chinesischer Religiosität. Deswegen bemühten sich die Clans, ihre Abstammung auf einen glänzenden Helden der chinesischen Geschichte zurückzuführen. So beanspruchen etwa die meisten Li-Familien Verwandtschaft mit dem Gründer der Tang-Dynastie, der seinerseits seine Ahnenreihe auf Li Er zurückführte – auf Laotse.

Mit so einem Daxing, einem großen Namen, legte man sich besser nicht an, außer man hatte selbst eine Organisation von vergleichbarer sozialer und wirtschaftlicher Stärke hinter sich. Dann konnte es zu einer blutigen Fehde kommen. Die mächtigsten Gruppen waren in der Lage, schlagkräftige Privatarmeen aufzustellen, und in diesem Fall konnte eine solche Vendetta das Ausmaß eines Bürgerkrieges annehmen.

Nicht alle Clans hatten solche Machtmittel zur Verfügung. Doch auch die weniger einflussreichen waren straff geführte Organisationen. Die Hierarchien gewährten allerdings nicht jedem Mitglied gute Aufstiegschancen. So blieb vielen jungen Männern nichts anderes übrig, als fortzugehen und den Lebensunterhalt in weit entfernten Städten zu verdienen.

Die brauchten nicht unbedingt in China zu liegen. Immer wieder hatte es einzelne Glückssucher nach Nanyang, Südostasien, verschlagen. Doch erst als im 19. Jahrhundert die Ordnung im Reich zusammenbrach, wurde daraus eine Massenbewegung: Nach Norden und ins Landesinnere zog die südchinesischen Migranten nun nichts mehr; stattdessen gingen sie zu zehntausenden nach Nanyang. Die Clanstrukturen versprachen schließlich überall eine weiche Landung. 

Neben Verwandtschaftsbeziehungen, ob real oder fiktiv, war für die Clanidentität der Herkunftsort entscheidend. Um diese Verbundenheit auch für die nächste Generation sicherzustellen, schickten die Auswanderer ihre Kinder zur Erziehung zurück nach China – wenn sie es sich leisten konnten. Im besten Fall fand der Sohn im alten Heimatort, dem Qiaoxiang, auch gleich eine Braut. So erging es meinem Großvater Lai Tjin Tong. 1914 wurde er im damaligen Batavia, heute Jakarta, geboren. Kurz nach seinem sechsten Geburtstag schickten seine Eltern ihn in ihr Qiaoxiang in der Nähe von Meixian und gaben ihn dort in die Obhut der Familienorganisation. Erst zwölf Jahre später kehrte er nach Jakarta zurück. Dort heiratete er seine Verlobte, die er aus Meixian mitgebracht hatte.

Lais patriotische Gefühle für China waren stark. Wie viele seiner Landsleute war er seit den fünfziger Jahren überzeugt, dass die Kommunisten in Peking endlich ein Mittel gefunden hätten, den seit Jahrzehnten andauernden Niedergang Chinas umzukehren. Er war voller Enthusiasmus für die neue Regierung. In seiner Nachbarschaft in Jakarta fiel er dadurch auf, dass er so laut es ging volksrepublikanische Radiosender hörte. Als Indonesien Mitte der Sechziger von antikommunistischen und antichinesischen Pogromen erschüttert wurde, lag es für ihn nahe, nach China überzusiedeln. 1967 zog er schließlich zurück nach Meixian.

Das richtige Geschäft zur richtigen Zeit

Das Timing war miserabel, denn die Kulturrevolution war bereits in vollem Gange. Die heimgekehrten Auslandschinesen standen unter Generalverdacht, kapitalistische Spione zu sein, und damals war Verdacht gleich Schuld. 1970 gelang es ihm, sich nach Hongkong abzusetzen. Zu seinem Glück hatte er vor der Umsiedlung nach China einen Teil seiner Ersparnisse bei Verwandten in Jakarta zurückgelassen – was er mit nach China genommen hatte, war enteignet worden. Mit dem Geld aus Jakarta gründete er in Hongkong ein Linientaxi-Unternehmen, etwas später kam eine Wäscherei dazu.

Die Wäscherei war das richtige Unternehmen zur richtigen Zeit: Ende der siebziger Jahre begann der Aufstieg der Provinz Guangdong in Hongkongs Hinterland zu einem der weltweit größten Zentren für arbeitsintensive Leichtindustrien. Vor allem Kleidung wurde dort in großen Mengen produziert, und die ganzen Markenjeans und -hemden mussten irgendwo gewaschen werden, bevor sie in die Läden geschickt werden konnten. Zur selben Zeit begann sich jedoch abzuzeichnen, dass Hongkong in nicht allzu ferner Zukunft ein Teil der Volksrepublik werden würde. Lai traute den Pekingern nicht mehr und siedelte nach Singapur über. Dort fühlte er sich fremd, also zog er 1981 zurück nach Hongkong. Vierzehn Jahre später starb er in Jakarta. Nach seiner Beerdigung in der indonesischen Hauptstadt richteten seine Söhne einen Schrein zur Verehrung des Patriarchen in Meixian ein. Die Stadt in Guangdong galt immer noch als Ursprungsort der Familie, obwohl ihr Vater in Jakarta geboren wurde und sie selbst in Hongkong lebten.

Neben den familiären gab es weitere Netzwerke, die es den Auslandschinesen erleichterten, in ihren neuen Heimatländern Fuß zu fassen. Noch im 19. Jahrhundert entwickelten sich Handelsgilden, die sich ebenfalls oft nach Namen und Geburtsort unterteilten. Dann kamen Handelskammern und Gewerkschaften dazu, ergänzt durch Geheimorganisationen oder „Triaden“, mal politischer, mal religiöser, mal krimineller Art. Ähnlich wie zuvor in Südchina wuchsen aus den Allianzen der einflussreichsten Zusammenschlüsse langsam patriarchalisch geführte Dachorganisationen hervor. Unter den Auslandschinesen übernahmen diese Meta-Huiguan viele gesellschaftliche und politische Funktionen: Sie waren zuständig für wirtschaftliche Kontakte, Wohlfahrtsdienste, soziale Kontrolle und den Unterhalt chinesischer Schulen. Auch vermittelten sie zwischen der chinesischen Gemeinde und den lokalen Behörden.

„Die Juden des Orients“

Schon die Kolonialregierungen hatten das hohe Maß an chinesischer Selbstverwaltung nach Kräften gefördert. Es hatte perfekt zu ihrer Strategie der indirekten Herrschaft gepasst. Dazu gehörte auch eine gezielte Förderung der Segregation. Das „Kapitan“-System, nach dem die verschiedenen Gemeinden aus ihren Reihen einen Anführer oder Kapitan wählten, der der Kolonialverwaltung Rechenschaft schuldig war, wurde zum Vorbild in der Region. Mit einem kleinteiligen Puzzle halbwegs selbstverwalteter Einheiten war leichter fertig zu werden, so das Konzept der Kolonialmächte, als mit einem großen Block von Untertanen unter direkter Kolonialherrschaft. Der chinesischen Minderheit hatten die Holländer in Indonesien Landerwerb untersagt. Indem sie auf diese Weise eine finanzstarke Konkurrenz aus dem profitablen Geschäft mit den Plantagen heraushielten, förderten sie die chinesische Präsenz in Handel und Kommerz. Nach dem Ende der Kolonialzeit verschärften die neuen Staaten diese Diskriminierungspolitik. So galt lange Zeit für die südostasiatischen Chinesen, dass an politische Karrieren gar nicht zu denken war, akademische Laufbahnen nicht gestattet wurden, chinesischer Landbesitz unerwünscht blieb und der Zugang zu staatlich examinierten Berufen wie Arzt, Lehrer oder Anwalt stark erschwert oder gleich ganz verwehrt wurde. Es blieb den Chinesen also gar nichts anderes übrig, als alle Konzentration auf das Geschäft zu richten.

Der erwachende Nationalismus in den Ländern Südostasiens machte das 20. Jahrhundert zu einer holprigen Wegstrecke in der Geschichte der Übersee-Chinesen. Selbst in Thailand, wo sich das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zuwanderern lange Zeit besonders harmonisch gestaltet hatte und die Chinesen oft gar nicht als Ausländer betrachtet wurden, sahen sie sich nun heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte König Rama VI. von Siam zahlreiche antichinesische Pamphlete, in denen er sich von traditionellen europäischen Ressentiments inspiriert zeigte: In „Die Juden des Orients“ warf er den Chinesen in der Diaspora vor, keine Loyalität zu ihren neuen Heimatländern zu zeigen. Ähnlich wie in Europa Antisemiten die Juden für die Urheber von Kapitalismus, Moderne und Sittenverfall hielten, waren in Asien die chinesischen Immigranten nun dem diffusen Verdacht ausgesetzt, den jungen Nationalstaaten irgendwie schädlich zu sein.

Nachdem Suharto Mitte der sechziger Jahre chinesische Organisationen in Indonesien verboten hatte, lockerte er im folgenden Jahrzehnt seine strikte Assimilationspolitik ein wenig. Wenigstens unter dem Deckmantel einer religiösen Ausrichtung konnten sich chinesische Organisationen nun wieder gründen. Die Huiguans hatten sich aber ohnehin weiterentwickelt. In den achtziger Jahren waren einige von ihnen schließlich zu riesenhaften, weltumspannenden Heimatort-Vereinen herangewachsen. So versammelten sich etwa 1991 mehr als 1000 Delegierte zur Internationalen Teochew Convention in Paris.

Auch die Machthaber in Peking begannen sich nun für diese Organisationen zu interessieren. 1997 gestatteten sie es den inzwischen 4000 Delegierten der Chaozhou Convention, sich im südchinesischen Shantou zu treffen, einst einer der großen Auswanderungshäfen. In den vergangenen 20 Jahren fanden mehr als 100 solcher Großveranstaltungen internationaler Clans statt, Tendenz steil steigend. Prominente chinesische Großunternehmer organisieren und unterstützen die Versammlungen. So liest sich die Mitgliederliste der International Association of Fuzhou Corporation wie ein Who’s who der Geschäftswelt Südostasiens. Eines der prominentesten Mitglieder des Vereins ist der Hongkonger Immobilien- und Medienmagnat Robert Kuok, einer der einflussreichsten Geschäftsleute in der Region mit exquisiten Beziehungen zur Pekinger Regierung.

Und so schließt sich der Kreis langsam. Die Zentralregierung macht sich daran, die Ressourcen der Diaspora anzuzapfen. Es war kein Zufall, dass Peking die Sonderwirtschaftszonen in Guangdong und Fujian einrichtete. Zum überwiegenden Teil stammen die Übersee-Chinesen oder Huaqiao aus den beiden Südprovinzen. Für Huaqiao-Geschäftsleute führt der Weg auf den chinesischen Markt in der Regel über Kontakte im Ursprungsort ihrer Familie. Der neue chinesische Kapitalismus konnte so vom Geld, der Erfahrung und der Dynamik der erfolgreichen Expatriates profitieren.

Heute ist Amerika verlockender

Der Strom der Emigration nach Südostasien ist dafür im Moment fast versiegt. Die sich ständig verändernde Lage in China und in den Zielländern führt zu neuen Mustern der Auswanderung. In jüngerer Zeit zieht es die Emigranten vor allem nach Australien, Amerika und, in geringerem Ausmaß, nach Europa. Länder wie Indonesien sind von China aus gesehen im Moment nicht sehr verlockend. Als es 1998 mit der Diktatur Suhartos zu Ende ging, war sein Sturz von heftigen Pogromen gegen die Chinesen in Jakarta begleitet. Zwar entspannten sich seitdem die Beziehungen zwischen Chinesen und Indonesiern, und in den vergangenen Jahren ist es vor allem in Jakarta zu einer kleinen Renaissance indonesisch-chinesischer Kultur gekommen. Doch für viele war 1998 das Maß voll.

So fiel damals auch das Haus von Liem Sioe Liong, Indonesiens reichstem Mann und Suhartos liebstem Vertrauten, Plünderern zum Opfer. Es lag in einer bescheidenen Nachbarschaft. Liem hatte es gekauft, bevor sein Erfolg begann. Er betrachtete das Haus als seinen Glücksbringer. Umso größer war der Schock, als er es brennen sah. Doch der Zustand hielt nicht lange an. Als erfahrener Migrant wusste Liem, dass es höchste Zeit war, weiterzuwandern.

Chinas Überseekolonien

Nordamerika:

Der Goldrausch in Kalifornien und an der kanadischen Westküste zog Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von chinesischen Einwanderern an. 1880 waren rund 100.000 Chinesen in den USA. In Kalifornien stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung, aber knapp 25 Prozent der Arbeiter.
Heute stammen die Emigranten zum größten Teil aus der Mittel- und Oberschicht. Ein Viertel der etwa 2,7 Millionen US-Amerikaner chinesischer Abstammung hat einen Hochschulabschluss – das liegt 100 Prozent über dem gesamtamerikanischen Durchschnitt. Das liegt vor allem daran, dass US-Universitäten eine starke Anziehungskraft auf Chinesen ausüben. Viele der Studenten bleiben nach dem Abschluss in den USA. Rund 1,1 Millionen Kanadier oder 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung sind chinesischer Abstammung. Sie kommen vor allem aus Hongkong. Die steigende gesellschaftliche und politische Anerkennung der Chinesen zeigt sich etwa in der Ernennung von Adrienne Clarkson, geborene Poy, zum Generalgouverneur von Kanada. 1939 in Hongkong geboren, kam sie 1942 als Kriegsflüchtling nach Kanada. In ihrer Funktion als Oberkommandierende der kanadischen Streitkräfte nahm sie im Juni diesen Jahres an den Feierlichkeiten zum Jahrestag des D-Day in der Normandie teil.

Australien:

Die Entdeckung reichhaltiger Goldvorkommen in Australien zog seit 1851 auch viele chinesische Einwanderer an. Zehn Jahre später bestand die Bevölkerung in den Goldfeldern von Victoria zu 25 Prozent aus Chinesen, in New South Wales waren es 60 Prozent. Als der Boom ein Ende fand, gingen viele zurück nach China, nicht immer freiwillig. Nach dem Ende der „White Australia Policy“ Anfang der siebziger Jahre begann eine neue Phase chinesischer Immigration. Nun kamen vor allem qualifizierte Fachkräfte aus Hongkong. Seit dem Beginn der Öffnungspolitik ist ein stetiger Anstieg der Einwanderung aus der Volksrepublik zu verzeichnen. Heute ist Chinesisch nach Englisch die am weitesten verbreitete Sprache in Australien: 400.000 Bürger gaben an, in der Familie Chinesisch zu sprechen. Das sind etwa zwei Prozent der australischen Bevölkerung.

Europa:

In Großbritannien liegt die Zahl der chinesischen Einwanderer und ihrer Nachfahren heute bei rund 250.000. Vor allem in den sechziger Jahren boomte die Einwanderung aus China. Die meisten der Immigranten waren Reisbauern aus den ländlichen Gebieten um Hongkong. Gab es 1951 nur 36 chinesische Restaurants im Vereinigten Königreich, sind es heute mehr als 14.000. Die Gastronomie ist noch heute der Haupterwerbszweig der Chinesen in Großbritannien, doch die Tendenz ist fallend: Unter den Einwanderern der zweiten Generation ist das Spektrum der Aktivitäten sehr viel breiter als unter denen der ersten.
In Frankreich erreichte die chinesische Einwanderung nach dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam einen Höhepunkt: Von den rund 150.000 Flüchtlingen aus den französischen Ex-Kolonien in Indochina waren 50 bis 60 Prozent chinesischer Abstammung. Insgesamt leben heute etwa 300.000 chinesische Auswanderer und ihre Nachfahren in Frankreich.
Schnell bildeten sich auch auf dem Rest des Kontinents chinesische Gemeinden. Wie in Großbritannien sind auch auf dem Kontinent die meisten Chinesen der ersten Einwanderergeneration in der Gastronomie tätig. Es gibt aber markante Ausnahmen: So haben die rund 10.000 Hamburger Chinesen zum größten Teil auf irgendeine Art mit dem Hafen zu tun. Insgesamt leben heute gut 75.000 chinesische Staatsbürger in Deutschland.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.