Mein Tagebuch

Stell dir vor, du hast einen Traum.
Du willst jungen Menschen die Welt erklären.
Sie spielerisch entdecken lassen, was in ihnen steckt. Sie ein Stück auf dem Weg in ihre Welt begleiten. Du willst etwas Sinnvolles tun. Lehrer werden. Stell dir vor, du wirst Lehrer.
Ach, stell es dir lieber nicht vor.
Protokoll eines Lernprozesses.




I. ALLER ANFANG IST SCHWER

2. August 1976: Seit heute bin ich Referendarin. Ich wurde auf die Landesverfassung vereidigt. Endlich. Jetzt kann es losgehen. Ich fühle mich erfolgreich, obwohl mir die „richtige“ Ausbildung ja noch fehlt. Nach sechs Jahren Universität bin ich unterwegs zu neuen Horizonten. 12. August 1976: Ich bin zwei Ausbildungsschulen zugeordnet, nicht wie die übrigen Referendare nur einem Gymnasium. Ich unterrichte an einem Kolleg, wo sich junge Erwachsene auf das Abitur vorbereiten, und an einem von Nonnen geführten katholischen Gymnasium. Ich muss mich an zwei Orten zurechtfinden und mit zwei Kollegien klarkommen. Längere Wege, mehr Fahrerei. Aber ich kann auch mehr lernen. Wunderbar, ich freue mich. 20. August 1976: Die ersten Seminartage liegen hinter mir. Im Fach Politik vielversprechend. Wir werden ermutigt, eigene Ideen zu verfolgen. Anders in Französisch. Dr. K. redet ohne Punkt und Komma, wir schreiben mit. Eine Frage kann ich nur loswerden, wenn ich ihm ins Wort falle. Anstrengend. Nach zwei Stunden gebe ich auf. Vier liegen noch vor uns. Ich male Männchen oder schaue aus dem Fenster. Der Tag dehnt sich wie zäher Brei. Ein vertrautes Gefühl. Die Schülerrolle hat mich wieder. 1. Oktober 1976: Mein erster eigener Unterricht, Französisch, am Kolleg. Dr. K. ist da, um mich zu beobachten. Meine Lerngruppe besteht aus 15 jungen Erwachsenen. Sie sind Anfänger und lernen die zweite Pflichtfremdsprache, ohne die sie kein Abitur machen können. Das Lehrbuch ist mehr als 20 Jahre alt, das didaktische Konzept überholt. Die Studienrätin, die normalerweise den Unterricht hält, klärt mich vorher schon auf: Dass Menschen im Erwachsenenalter noch eine Fremdsprache lernen, ist sowieso fast ausgeschlossen, deshalb sei es völlig egal, welches Lehrbuch man verwende. Kreativität ist also gefragt. Ich produziere eigene Materialien für diese erste Prüfung. Die Klasse und ich haben viel Spaß und kommen ein gutes Stück weiter. Finde ich. Dr. K. ist irritiert. Sein Feedback zu meiner Leistung erschöpft sich in allgemeinen Floskeln. 11. Oktober 1976: Dr. K. hat mir erklärt, er könne die Art von Unterricht, wie ich ihn am Kolleg mache, nicht bewerten. Für die Oberstufenausbildung solle ich fortan in seinen eigenen Kursen, am YZ-Gymnasium hospitieren und die Lehrproben dort absolvieren. Er wird das Kolleg für den Rest meiner Referendarzeit nicht mehr betreten. Ich lerne meine erste wichtige Lektion: Kreativität ist nicht gefragt. 25. Oktober 1976: Erster Unterrichtsbesuch mit Beurteilung im Fach Politik. Ich gebe Sozialkunde in der 9. Klasse des katholischen Gymnasiums. Eine reine Mädchenklasse. Sie gilt als schwierig. Wir machen ein Rollenspiel. Dafür habe ich in der staatlichen Lehrerfortbildung eine Zusatzausbildung gemacht.
Die Klasse ist begeistert, die Stunde läuft richtig gut. Mein Ausbilder lobt mich. Doch um meine Leistungen bewerten zu können, müsse ich eine „richtige“ Unterrichtsstunde vorführen. Wieso dies kein richtiger Unterricht sei, will ich wissen. Die Schülerinnen hätten doch viel erfahren, über sich selbst und über gesellschaftliche Rollen.
Der Lernprozess sei zu spontan und zu wenig steuerbar, erfahre ich. Ich solle lieber Texte aus der Tageszeitung mit der Klasse diskutieren. Die Ergebnisse an der Tafel festhalten und von den Schülerinnen abschreiben lassen. Im Lehrprobenentwurf muss exakt festlegt werden, was die Schüler lernen sollen, und nach 45 Minuten muss man genau da sein. Wie langweilig, will ich einwenden. Doch ich halte meinen Mund und lerne Lektion zwei: Neue Unterrichtsformen sind störend. 10. November 1976: Mit der Seminarleitung habe ich über die Weigerung von Dr. K. gesprochen, meine Leistungen im Französischunterricht zu bewerten. Die Probleme mit Dr. K. seien bekannt, heißt es, aber man könne nichts machen. Und fachlich sei er ja kompetent. Ich darf das Ausbildungsseminar wechseln, wenn ich nicht klarkomme. Doch das hieße: neue Schulen an einem neuen Ort, neue Kollegien, neue Klassen – und die Verlängerung des Referendariats um ein halbes Jahr. Ich beschließe, klarzukommen. Wenn ich das Examen erst in der Tasche habe, kann ich meinen Unterricht gestalten, wie ich will. 16. September 1977: Meine letzten beiden Lehrproben vor dem Examen sind mit „gut“ bewertet worden. Ich kenne jetzt die Spielregeln und funktioniere. 12. Dezember 1977: Zweites Staatsexamen mit „gut“ bestanden. 22. Dezember 1977: Die Bezirksregierung bietet mir eine Stelle als Studienrätin an, ich soll nach R., eine Kleinstadt nahe der Zonengrenze. Nicht gerade der Ort meiner Träume. Aber das kann ja noch werden.

II. LEHREN HEISST LERNEN

1. Februar 1978: Dienstantritt an der additiven Gesamtschule in R. Vier Schulzweige in getrennten Gebäuden. Offiziell ein Kollegium unter einer Leitung, de facto vier Kollegien in vier Lehrerzimmern. Ich wurde dreimal gefragt, ob ich die neue Referendarin sei. Ich bin die neue Studienrätin. Die Kollegen staunen. Einen weiblichen Lehrer hat es am Gymnasium in R. noch nicht gegeben. 15. März 1978: Ich gebe pro Woche 24 Stunden Unterricht in vier Fächern, zwei davon habe ich studiert. Ich unterrichte 178 Schüler zwischen 10 und 21 Jahren in acht Lerngruppen. Meine Arbeitszeit liegt zwischen 50 und 60 Stunden pro Woche. Meist sitze ich bis Mitternacht über Vorbereitungen oder Korrekturen. Ich hoffe, es wird weniger, wenn ich erst mehr Routine habe. Von den Gymnasialkollegen bin ich die Einzige, die auch an der Realschule und in der Orientierungsstufe unterrichtet. Dazu hatte ich spontan Ja gesagt, als ich gefragt wurde. Praktisch heißt das: in den Pausen lange Wege zwischen den einzelnen Gebäuden. Sechsmal 25 verschiedene Schülergesichter. Ich büffle ihre Namen. Mein Konferenz- und Besprechungspensum verdreifacht sich, die Arbeitszeiten auch. Ich muss schnell besser werden. Anfängerprobleme, tröste ich mich. 22. September 1978: Im neuen Schuljahr unterrichte ich Geschichte in der Oberstufe, zwölfter Jahrgang, Thema: NS-Zeit. Mein Unterricht soll konkret und ortsbezogen sein. Den Nationalsozialismus hat es auch in R. gegeben. Der Leiter des Stadtarchivs erlaubt mir und der Schülergruppe, die offiziellen Stadtchroniken aus den Jahren 1933 bis 1945 einzusehen. Oberstudienrat M., der Gesamtschulleiter, teilt meine Begeisterung nicht. In den Chroniken würden Namen auftauchen, vielleicht Familiennamen von Schülern, und das könne Ärger geben. Dies sei ein kleiner Ort. Ich will ihm etwas von forschendem Lernen und neuen Unterrichtsmethoden erzählen, aber ich komme nicht zu Wort. M. wird bei der Rechtsabteilung der Bezirksregierung nachfragen, ob ich einen solchen Unterricht überhaupt machen dürfe. Ich darf. Die Bezirksregierung teilt die Bedenken des Schulleiters nicht. Herr M. ist sauer.

III. ALLTAG – ÜBERLEBEN IM SYSTEM

23. April 1980: Dienstantritt an der Integrierten Gesamtschule in F., einer Großstadt in Westdeutschland. Die Ganztagsschule ist achtzügig mit 1500 Schülern und 200 Lehrern. Sie ist in mehreren Betonkästen und Gründerzeitbauten untergebracht, in einem Brennpunkt-Stadtteil. Ich habe Lehrernummer 139.
Aus familiären Gründen habe ich mich nach F. versetzen lassen, heute ist mein erster Arbeitstag nach sechs Monaten Mutterschaftsurlaub. Zwei Schülerinnen der 8. Klasse kommen nach der großen Pause zu spät zum Unterricht und entschuldigen sich damit, dass sie bei den Kleinen ausgeholfen hätten. So erfahre ich, dass es an dieser Schule eine Kinderkrippe gibt, die noch Kinder sucht. Ich bin fassungslos. Hatte ich doch wochenlang nach einer Tagesmutter gesucht und mehrfach mit der Schulleitung wegen der Stundenverteilung telefoniert, damit ich Familie und Beruf organisieren konnte. Die Kinderkrippe wurde nie erwähnt. 16. Juni 1980: Der Schulrat meldet sich zum Unterrichtsbesuch an. Es geht um meine Verbeamtung auf Lebenszeit. Das passt mir gar nicht. Nach sieben Wochen in der 8. Klasse, mit nur drei Stunden Unterricht Sozialkunde läuft es noch nicht so toll. 27. Juni 1980: Mein Prüfungstag. Zu Beginn der Stunde ist etwa die Hälfte der Schüler anwesend. Die übrigen kleckern in den nächsten 15 Minuten einzeln oder in Grüppchen herein. Die lange Schlange vor dem Schulkiosk wird als Entschuldigung vorgebracht. Das ist die Wahrheit. Die Wege in und zwischen den Gebäuden sind lang, und wenn einige hundert Schüler in der Zehn-Minuten-Pause zum Kiosk stürmen, dauert es, bis jeder versorgt ist. Große Pausen gibt es nicht, sie sind an der Ganztagsschule absichtlich verkürzt, weil die Mittagspause 45 Minuten dauert. Also beginnen wir den Unterricht grundsätzlich zu spät. Die Lernprozesse, die ich danach noch in Gang setzen kann, sind bescheiden.
Ich soll mich über ein bisschen Unpünktlichkeit nicht aufregen, hatte mir der Jahrgangsleiter vor Wochen gesagt. Tue ich auch nicht, 199 Kollegen finden es ja auch völlig in Ordnung. Aber der Schulrat macht aus seinem Missfallen keinen Hehl. Zum Unterrichtsbeginn sollten alle Schüler auf ihren Plätzen sitzen. Ich kann ihm leider keine Hoffnung machen, das Schülerverhalten durch pädagogisches Einwirken zu verändern. Die Organisation der Schule produziert die Unpünktlichkeit der Schüler täglich neu.
Ich bin durchgefallen, doch der Schulrat ist milde. Er nimmt das nicht zu den Akten, wertet den Besuch als „Beratung“. Im Herbst will er wiederkommen. 18. August 1980: Erster Schultag nach den Sommerferien. Mein neuer Stundenplan sieht zwölf Unterrichtsstunden vor, eingebettet in zehn Freistunden. Ein Witz. Ich hatte eine halbe Stelle beantragt, um mehr Zeit für meine Familie zu haben und bei weniger Belastung einen besseren Unterricht machen zu können. Jetzt bin ich mit halber Stelle und halber Bezahlung die volle Zeit in der Schule und muss mein Kind dennoch ganztags zur Tagesmutter geben. Im Stundenplanbüro ernte ich Achselzucken von den Kollegen. Alle meine Stunden liegen auf so genannten Bändern, meine Fächerkombination sei eben ungünstig. Änderungen am Stundenplan sind frühestens in einem Jahr möglich. 24. Oktober 1980: Ich habe meine Lebenszeit-Verbeamtungs-Lehrprobe bestanden. Große Show mit massivem Medieneinsatz: Bildfolien, Overhead-Projektor, Tonträger, bunte Kreide. Die Schüler waren bestochen: eine Runde Eis nach überstandenen Mühen. Sie wussten auch, was drankommt, und die guten Schüler gaben sich alle Mühe, französische Sätze fließend zu parlieren. Neben dem Schulrat saßen, von mir eingeladen und zu meiner Unterstützung: die Fachleiterin, der Jahrgangsleiter und eine Personalratskollegin. Alles lief wie geschmiert. In der Nachbesprechung loben die Kollegen mein Engagement und die Leistungen der Schüler in den höchsten Tönen. Da kann der Schulrat wenig kritisieren. 17. November 1980: Ich will immer noch guten Unterricht machen. Als ich den Schulassistenten nach dem Belegungsplan für das Sprachlabor frage, lächelt er müde. Die Technik ist seit anderthalb Jahren kaputt. Geld für die Reparatur gibt es nicht und wird auch in absehbarer Zukunft nicht bewilligt. Die Systeme seien zu störanfällig oder unsere Schüler zu rabiat. Er versucht zu trösten: Für das aktuelle Französischlehrbuch hat es sowieso niemals Tonbänder gegeben, dafür reichte der Etat nie. 22. Juni 1981: Seit fünf Tagen Dauerregen. Frau K., die Bibliothekarin, verteilt Eimer zwischen den Regalen. Das Flachdach ist schadhaft. Geld für die Reparatur ist keins da, es wurde aber Geld für Eimer bewilligt, für zehn Stück. Es ist der fünfte Eimereinsatz in diesem Jahr. 3. Juli 1981: Es werden noch Kollegen für den Oberstufenunterricht im kommenden Schuljahr gesucht. Ich bin nicht abgeneigt, doch bevor ich zusage, erkundige ich mich – und entdecke sofort den Haken: Die Oberstufe liegt fünf Gehminuten entfernt in einem anderen Gebäude. Das bedeutet wieder einmal sechsstündige Unterrichtstage ohne Pause und schlechte Stundenpläne, weil die Oberstufenkurse immer auf Stundenplanbändern liegen. Kurzum: jede Menge Mehrarbeit fürs gleiche Geld.
Bin ich denn bescheuert? Da unterrichte ich doch lieber noch einen Anfängerkurs Französisch oder Religionsersatz in der Mittelstufe. So ein Test ist an einem Abend korrigiert, für die Oberstufenkorrektur brauche ich mehrere Abende plus ein Wochenende. Ich lehne mit Bedauern ab: „Es tut mir wirklich Leid, aber ich kann gar nicht in die Oberstufe gehen. Ich bin Klassenlehrerin im zehnten Jahrgang. Und es gibt einen Konferenzbeschluss, nach dem es dort keinen Lehrerwechsel mehr geben darf.“ Eine Überlebensstrategie. Nach vier Jahren im Beruf bin ich im System angekommen. 16. März 1984: Auf der Stufenkonferenz wurde eine landesweite Studie vorgestellt, die das Abiturniveau von Gesamtschulen und Gymnasien vergleicht. Beide Schultypen liegen danach gleichauf. Die Stufenleitung und die Mehrheit der Kollegen sieht darin einen Beweis für die Leistungskraft unserer Schule. Ich weise darauf hin, dass die besten Abiture bei uns in der Regel von Kollegiaten abgelegt werden oder von Schülern, die von Realschulen zu uns gekommen sind. Dass sie unsere Abiturschnitte auf den Landesschnitt heben, sollten wir uns eingestehen, finde ich. Die Kollegen fallen über mich her. Ich bin ein Nestbeschmutzer. Fortan werde ich von vielen nicht mehr gegrüßt. 30. Januar 1986: Ich funktioniere, es gibt keine Beschwerden über mich, aber der Sinn meines Tuns ist mir abhanden gekommen. Ich unterrichte auf meiner halben Stelle 14 Wochenstunden Oberstufe, führe einen Leistungskurs zum Abitur und komme mit Vorbereitungs- und Korrekturzeiten auf Arbeitszeiten von 45 bis 50 Stunden pro Woche. Zu Beginn der Weihnachts-, Oster- und Herbstferien liegen auf meinem Schreibtisch jeweils zwischen 80 und 100 Klausuren, die korrigiert werden müssen, was ein bis zwei Wochen dauert, wenn man seine Arbeit ernst nimmt. Im Land wird für die 35-Stunden-Woche gestreikt.
Im Kollegium gelten wir Lehrer mit Oberstufen-Qualifikation, die jedes Jahr mit Schülergruppen ins Abitur gehen müssen, als Miesmacher, die die Leistungen der Gesamtschule nicht anerkennen. Aber die Abiturprüfung ist die einzige offizielle Überprüfung der Leistungen. Noten sind Verwaltungsakte, Klausuren grundsätzlich klagefähige Akten, die jederzeit gerichtlich überprüft werden können. Von meinen zehn Leistungskurs-Schülern sind zwei glänzend, sie haben ihr Französisch durch ständigen Kontakt mit der Kultur gelernt. Die übrigen acht sind so schwach, dass sie gute Chancen haben durchzufallen. 25. September 1987: Ich bin mit einer elften Klasse im Schullandheim. Wir sind Selbstversorger. In der Küche laufen die Vorbereitungen fürs Frühstück. Ich sehe vier kleine Kannen mit vier kleinen Kaffeefiltern, das heiße Wasser wird mit Suppenkellen eingefüllt. Ein merkwürdiges Arrangement. Ob die Schüler die große Kaffeemaschine mit Filter für 20 Personen nicht gesehen haben? Doch, lautet die treuherzige Antwort, „aber wir wussten nicht, wie wir die Kaffee- und Wassermengen ausrechnen sollten“.
Die beiden Jungs kommen von einer Schule, die ein Reformprojekt ist, wissenschaftlich begründet, begleitet und in Publikationen hoch gelobt. Die beiden Mädchen sind aus unserer eigenen Mittelstufe. Alle haben Dreisatz, Verhältnisrechnung und Algebra gelernt. Aber sie können ihr Wissen nicht zur Lösung eines praktischen Problems nutzen. Mein persönlicher Pisa-Schock, dreizehn Jahre bevor dieser Begriff geprägt wird. 24. Mai 1990: Mein Versetzungsantrag wurde genehmigt. Ein letztes Mal nehme ich an der schulinternen Lehrerfortbildung teil. Es gibt zwei Tage unterrichtsfreie Zeit für die Schüler, das Kollegium lernt. Allerdings gibt es von Regierungsseite keinerlei Etat für Referenten – die Qualität der Fortbildung ist entsprechend. Zum Abschied ein Begrüßungsdialog: „Bist du neu hier, ich habe dich noch nie gesehen?!“ – „Ich bin schon zehn Jahre hier, Lehrernummer 139!“ „Ich hab’ auch vor zehn Jahren angefangen, mit der Lehrernummer 112!“

IV. DIE LETZTE RUNDE

20. August 1990: Habe meinen Dienst an der Kooperativen Gesamtschule am Stadtrand von F. angetreten. Nur 100 Kollegen und etwa 800 Schüler. Ich will weiter mit 18 Wochenstunden arbeiten, das ist eine dreiviertel Stelle. Und ich mache mit der Direktorin einen Deal: Wenn ich einen guten Stundenplan bekomme, bin ich bereit, auch im Realschulzweig zu arbeiten und in den integrierten Kursen in der Mittelstufe Religionsersatz-Unterricht zu geben. Einen so guten Stundenplan hatte ich noch nie: Ich arbeite an vier Tagen, habe Mittwoch und Samstag frei. 20. November 1990: Busaufsicht um 13.35 Uhr. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. In der Bus-Schleife drängen sich einige hundert Schüler, in schneller Folge fahren zehn bis zwölf Busse vor. Die Masse drängt, stößt und schiebt sich. Die Größten und Stärksten erobern die Sitzplätze. Hier gilt das Faustrecht.
Der Kollege, der mit mir zusammen eingeteilt ist, sitzt in sicherer Entfernung auf einem Absperrgitter. Er versteht nicht, worüber ich mich aufrege. Wir reden auf Konferenzen von sozialem Lernen, aber den archaischen Dschungelkampf, der hier stattfindet, nehmen wir nicht zur Kenntnis. Die Aufsicht ist rechtlich vorgeschrieben. Solange wir da sind, kann die Schule nicht belangt werden, falls ein Unfall passiert. Der Kollege, der nicht rechtzeitig seinen Beobachtungsposten bezogen hat, wäre im Falle eines Unglücks dran. Aber dafür hat man seine Berufshaftpflicht. 4. Dezember 1990: Ich unterrichte Religionsersatz im integrierten Kurs im siebten Jahrgang. 25 Schüler aus acht verschiedenen Klassen, von drei verschiedenen Zweigen – Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweig – kommen zweimal pro Woche für 45 Minuten zusammen, um etwas über Moral und Ethik zu lernen. Es sind überwiegend Haupt- und Realschüler, die Kinder aus den gebildeten Elternhäusern gehen eher zum Religionsunterricht. Es ist schwierig. Texte, die Hauptschüler mit Mühe entziffern können, lösen bei den meisten Gymnasiasten Gähnen aus. Im Gespräch dominieren die eloquenteren Schüler. Die Hauptschüler können sich nur nonverbal zur Wehr setzen. Wie bringe ich eine solche Gruppe dazu, zusammen zu arbeiten? Und wie soll ich was benoten? 12. September 1991: Sechste Stunde Französisch in der neunten Klasse: Fritz, 14, lässt zwei winzige Rennautos auf seinem Französischbuch fahren; Bernd, 15, versucht seine 1,86 Meter auf einem Stühlchen unterzubringen, das ihm drei Nummern zu klein ist; Farid flirtet mit Monika, Iris und Anna haben sich unter heftigem Gekicher Wichtiges mitzuteilen. Mirka, sieht aus, als würde sie noch mit Puppen spielen. Die 31 Jungen und Mädchen sind eine ganz normale Schulklasse. Wir haben 45 Minuten.
Ich habe es spaßeshalber einmal ausgerechnet: Jeder Schüler kommt auf eine Sprechzeit von einer Minute und 28 Sekunden pro Unterrichtsstunde, vorausgesetzt, der Lehrer sagt gar nichts. 43 Minuten und 32 Sekunden lang muss jeder Schüler zuhören. Aber im Fremdsprachen-Unterricht ist der Lehrer nun mal das einzige korrekte Modell der Zielsprache. Klar, dass er am meisten redet. Mindestens die Hälfte der Unterrichtszeit, also 22,5 Minuten. Pro Schüler bleibt demnach eine aktive Sprechzeit von 43,55 Sekunden. Lust oder Spaß kann ich glücklicherweise nicht einmal rechnen. 10. Oktober 1991: Die Ergebnisse dieser Sprachdidaktik sind in der elften Klasse zu besichtigen. 25 Schüler im fünften Jahr Französisch. 80 Prozent von ihnen quälen sich irgendwie durch Konjunktiv und wenig anspruchsvolle Texte. Sie sind froh, die Sprache bald abwählen zu können. Von Zeitungslektüre fühlen sich die meisten überfordert, Literatur zu lesen ist undenkbar. Zwei Schüler sind richtig gut und am Leistungskurs interessiert, der Rest wird Fächer belegen, in denen leichter Punkte zu holen sind. In Englisch sieht es nicht viel besser aus. 14. September 1992: Das neue Schuljahr ist vier Wochen alt. Ich habe wieder eine volle Stelle und unterrichte in 23 Wochenstunden insgesamt 156 Schülerinnen und Schüler zwischen zwölf und 20 Jahren in neun Lerngruppen. In den ersten Unterrichtsstunden nach Schuljahresbeginn habe ich sie zum Gruppenfoto gebeten und mir die Bilder in die Kurslisten geheftet, um 156 Namen zu lernen. Manche Schüler sehe ich nur einmal die Woche in einer Doppelstunde.
In drei Wochen sind Herbstferien. Bis dahin muss ich in allen Gruppen die ersten Klausuren und Klassenarbeiten geschrieben haben. Ich habe mich erkältet, hoffentlich werde ich nicht krank. Oberstufenklausuren wegen Krankheit des Lehrers zu verschieben ist praktisch unmöglich, dann kommt der ganze Plan ins Rutschen. Vor den Herbstferien muss ich allen Schülern eine vorläufige mündliche Note geben und sie im Kursheft dokumentieren. Absurd. Ich kenne kaum die Namen und habe die Schüler noch so wenig im Unterricht erlebt, dass ich mir kein Bild machen kann. Aber frühzeitig Noten geben ist eine per Erlass geregelte Pflicht. 26. Oktober 1992: Heute rief Frau Z. an, die Leiterin des Gymnasialzweigs, was denn in der 9b los sei? Drei Fachkolleginnen hätten sich bei ihr beschwert, weil ich eine Klassenarbeit in Französisch überwiegend mit Einsen und Zweien bewertet habe.
Das stimmt. Ich habe vorher einen Bewertungsmaßstab definiert, ihn den Schülern offen gelegt – und ihn nachträglich nicht geändert, als ich sah, dass die Mehrheit der Arbeiten mit gut und sehr gut bewertet wurde. Es ging um eine komplexe Aufgabe von kreativer Textproduktion, bei der ich Rechtschreibfehlern weniger Gewicht gegeben und die Kommunikationsleistung insgesamt höher bewertet habe. Sich in einer unbekannten Situation orientieren und in der fremden Sprache ausdrücken zu können sind laut Richtlinien übergeordnete Lernziele, versuche ich meiner Vorgesetzten, einer Mathematikerin, zu erläutern. Die meisten französischen Rechtschreibfehler sind in der mündlichen Sprache unhörbar und für die Kommunikation ohne Belang. 24. Februar 1993: Heute hat die Fachkonferenz Französisch zum dritten Mal wegen der von mir zu gut bewerteten Klassenarbeit getagt. Die Schulleitung konnte keine Verordnung oder Richtlinie finden, gegen die ich verstoßen habe. Meine Argumentation ist schlüssig, sie ist pädagogisch und fachdidaktisch nicht zu widerlegen. Aber dass der Bewertungsspiegel jeder Klassenarbeit der Gauß’schen Normalverteilungskurve entspricht, ist ein ungeschriebenes Gesetz.
Die Fachkonferenz Französisch muss auf Anweisung der Schulleitung so lange tagen, bis neue Regeln produziert sind, die verhindern sollen, dass „so etwas wieder vorkommt“. Drei Sitzungen lang konzentriert sich die Diskussion schon auf die Frage, welche Orthografie- und Grammatikverstöße als ganze, halbe oder Viertelfehler zu werten seien. Ich schaue aus dem Fenster oder male Muster auf meinen Block. Ich bin hier verkehrt. Ich werde gehen. 31. Januar 1994: Ich habe meinen Antrag auf Beurlaubung ohne Bezüge bei der Schulleitung abgegeben. „Betreuung eines minderjährigen Kindes“ gebe ich als Grund an. Dagegen gibt es nach den Paragrafen des Landesschulgesetzes keine Einrede. Die Schulleitung bedauert.

V. EPILOG

6. Februar 2005: Ich treffe im Theater einen Kollegen meiner letzten Schule. Er erzählt mir von der Grundrenovierung. Der ekelhafte braune Teppichboden ist endgültig Vergangenheit. Auch die Schülertoiletten wurden erneuert. Damit sie möglichst lange in gutem Zustand bleiben, müssen die Lehrer sie nach jeder Pause abschließen. Er findet das auch nicht schön, aber was solle man sonst tun? 16. Juli 2005: Heute wird der englische Harry Potter VI ausgeliefert. Der Postbote wird ihn auch meinem 14-jährigen Neffen Jörg bringen, er ist ein Geschenk von mir. Obwohl Jörgs Englisch noch bescheiden ist, wird er sich durchbeißen, er will unbedingt wissen, wie die Geschichte weitergeht, und kann die deutsche Übersetzung nicht abwarten. Wenn er erfolgreich ist, wird kein noch so mittelmäßiger Schulunterricht ihn aus dem Paradies, ein englisches Buch lesen zu können, wieder vertreiben. Die Kinder aus den Bildungsschichten brauchen zum Lernen nicht unbedingt die Schule.

Aber was ist mit denen, für die Schule der einzige Zugang zu Wissen und Bildung ist?


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.