Mama-Papa-Kindergärten

Wer die vielfältigen sozialen Probleme innerhalb der Gesellschaft lösen will, muss bei den Kindern anfangen – und bei den Eltern. Die britische Regierung hat aus dieser Einsicht ein Konzept gemacht und ist auf dem besten Weg, das Land zu verändern. Ein Besuch an ungewöhnlichen Orten, die mehr sind als ein Kindergarten.




Das Paradies steht auf einer unsichtbaren Grenze. Auf der einen Seite glitzert die Innenstadt von London mit ihren Banken und Regierungsgebäuden. Auf der anderen Seite liegt der Stadtteil Islington, wo jeder Vierte zu einer ethnischen Minderheit gehört und fast 40 Prozent der Haushalte ohne jedes geregelte Einkommen überleben müssen. Dazwischen ducken sich mehrere einstöckige gelbe Ziegelsteinhäuschen auf einem umzäunten Hof. In den Flachbauten kriegt der Besucher kaum einen Fuß auf den Boden, weil überall Spielzeug und Kissen herumliegen. An den Wänden stapeln sich Holzkisten, voll mit Bauklötzen, Wachsmalstiften oder Sandförmchen. Auch draußen jede Menge Spielzeug – zwischen Bäumen, Klettergerüsten und Sandkästen. Dazwischen lachen, schreien, wuseln lauter kleine Menschen. Ein Kinderparadies.

Auf der Südseite dieser Szenerie ragen die drei Wohntürme des Barbican Centre in den Himmel. Die Wohnungen in der grauen Betonburg aus den Siebzigern sind beliebt und dementsprechend teuer. An der Nordseite bröckeln ein paar weiße Sozialbauten. „Dort zu wohnen könnte ich mir nicht leisten“, sagt Helen James und deutet hinauf in den Schatten der drei Türme. „Und für die andere Seite verdiene ich zu viel. Wir liegen also genau in der Mitte.“ James ist ausgebildete Lehrerin und eine der Chefinnen des Kinderparadieses, das sich offiziell Fortune Park Sure Start Children’s Centre nennt. Die Mitte ist Programm: „Wir konstruieren hier absichtlich eine soziale Mischung“, erklärt James.

Die Kronjuwelen der Labour-Politik

In ihren Kindergarten kommen täglich rund 80 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Die Jungen und Mädchen stammen zum Teil aus bedürftigen Familien aus Islington, die nichts für die tägliche Betreuung bezahlen. Andere haben wohlhabende Mütter und Väter, die beispielsweise für ein dreijähriges Kind 172 Euro die Woche investieren müssen, wenn die Eltern zusammen mehr als 58.000 Euro im Jahr verdienen. Sechs der Kinder haben „spezielle Lernbedürfnisse“, wie es in der offiziellen englischen Sprachregelung heißt, sie sind behindert oder verhaltensgestört. Aber die Mischung ist noch bunter. In Fortune Park, der täglich von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends geöffnet ist, werden auch Eltern betreut. Während ihre Kinder lernen und spielen, treffen sie sich zu Fortbildungskursen und Gesprächskreisen. 20 Mitarbeiter eines „Family Support Teams“ besuchen außerdem die rund 1000 Familien in der Nachbarschaft, deren Kinder keinen Platz im Fortune Park bekommen haben. Damit bleibt keine Familie rings um den kleinen Campus mit ihren Nöten und Problemen allein.

Was einzigartig klingt, ist Teil einer Bewegung, die Regierungschef Tony Blair vor einigen Jahren auf den Weg gebracht hat, die der Guardian kürzlich die „Kronjuwelen der Labour-Politik“ nannte und die heute fester Bestandteil des englischen Bildungssystems ist. In England, dem größten Landesteil Großbritanniens, gibt es momentan rund 280 Zentren wie den Fortune Park. Die Regierung hatte sie zunächst unter dem Namen Early Excellence Centres etabliert, inzwischen lebt das Programm unter dem Namen Children’s Centres weiter – und wächst.

„Children’s Centres sind One-Stop-Shops mit Dienstleistungen für kleine Kinder, deren Eltern und für Beschäftigte aus dem Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich“, fasst Patrick Towgood das Konzept zusammen. Towgood sitzt im Londoner Regierungsviertel in einem Großraumbüro des englischen Bildungsministeriums. Er ist einer von drei Spezialisten der Abteilung Sure Start, die sich im Auftrag der Bildungsministerin Ruth Kelly darum kümmern, Children’s Centres im ganzen Land zu errichten. Weil Kinder, Eltern und Pädagogen voneinander lernen sollen. Damit sich das Land entwickeln kann.

Die Idee ist eigentlich simpel: Wer eine Gesellschaft verändern will, muss bei den Kindern anfangen. Je früher, desto besser. Schließlich lernen Kinder lange vor der Einschulung all das, was ihr gesamtes Leben prägen wird – Selbstvertrauen, soziales Verhalten oder das Lernen selbst. Was eine Gesellschaft in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder unternimmt oder unterlässt, bestimmt wie kaum eine andere Maßnahme den Zustand dieser Gesellschaft. Deshalb muss man früh anfangen. Und in die Bildung der Kleinen die Großen einbeziehen. Schließlich haben Eltern den stärksten Einfluss auf ihre Kinder.

Im Londoner Zentrum Fortune Park kümmern sich 20 Lehrer und ausgebildete Erzieher, außerdem externe Spezialisten wie Sprachtherapeuten, Psychologen oder Sozialarbeiter um ihre Kunden. Sie lassen die Kleinen nicht einfach nur vor sich hinspielen – sie fördern sie auch intensiv. So lehrt das Team nach einem festgelegten Curriculum einfaches Rechnen und Lesen, übt den Umgang mit Alltagsgegenständen oder unterstützt die Kinder systematisch, wenn sie sich zum Beispiel gerade für grundlegende Naturgesetze interessieren. Zudem stimulieren die Fortune-Park-Mitarbeiter gezielt die Kreativität der kleinen Besucher. Künstler aus dem Viertel bieten jeden Freitag „Messy Play“ an, spielerisches Rummatschen. Dann können die Kinder unter Anleitung kleine Kunstwerke aus Mehl, Wasser und Farbe erschaffen.

Während die Kleinen matschen, lernen die Eltern beispielsweise, wie sie ihre Wohnung sicherer machen können, um ihre Kinder vor Gefahren im Haushalt zu bewahren. In Stay-and-Play-Kursen lernen sie unter Anleitung, mit ihrem Nachwuchs zu spielen. Sie können auch mit den Eltern anderer Säuglinge zusammensitzen, um sich darüber auszutauschen, wie man richtig stillt. Oder um sich gegenseitig Mut zu machen, weil sie schon wieder wochenlang keine Nacht durchgeschlafen haben.

Die Kinderzentren in England sind kommunale Dienstleistungszentren, die mit frühkindlicher Bildung und Erziehung unter einem Dach begonnen haben – und bei den Gesprächskreisen für Eltern noch lange nicht aufhören. So gibt es im Fortune Park zum Beispiel dienstags zwischen ein Uhr und drei Uhr nachmittags Unterricht in Englisch als Zweitsprache, der sich an ausländische Erwachsene richtet. Die Mitarbeiter helfen ihren Nachbarn aber auch beim Ausfüllen von Formularen für Arbeitslosen- oder Sozialhilfe. Bei all dem arbeiten sie eng mit anderen lokalen Einrichtungen und Behörden wie etwa Sozialämtern oder Berufsschulen zusammen. Sogar für registrierte Tagesmütter dient das Kinderzentrum als Basis. Die selbstständigen Betreuerinnen können dort zum Beispiel Matschespiele anbieten, die sie bei sich zu Hause kaum veranstalten würden. Oder auch einfach nur eine Tasse Tee mit ein paar Kolleginnen trinken.

Die ersten dieser Zentren richtete die Labour-Regierung von Premierminister Tony Blair schon 1997 ein – direkt nach dem Regierungswechsel. Damals betonte die neue Administration in einem Strategiepapier, eines ihrer wichtigsten Ziele sei das Verbessern der frühkindlichen Bildung und Erziehung – zusammen mit den Lebensbedingungen der Eltern dieser Kinder. Der Ankündigung hat die Regierung inzwischen Taten folgen lassen. Seit ihrem Amtsantritt hat sie rund 1,2 Millionen neue Kinderbetreuungs-Plätze geschaffen und die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich um fast ein Fünftel gesteigert. Finanzminister Gordon Brown beschrieb im vergangenen Jahr die Zukunft. „Während das 19. Jahrhundert geprägt war durch die Einführung von Grundschulbildung für alle und das 20. durch die Einführung von weiterführender Bildung“, sagte er, „wird das 21. Jahrhundert gekennzeichnet sein durch Vorschulversorgung und Kinderbetreuung für alle Bürger.“

Bei dieser Entwicklung geht England schon mal voran – nach einhelliger Expertenmeinung ist es dank der neuen Kinderzentren weltweit führend bei der frühkindlichen Bildung und Erziehung. So schreibt die OECD im Länderbericht zur Kita-Studie, für den sich Inspekteure in England umgesehen haben: „Das Team war beeindruckt von den Bemühungen der Regierung, die vielen Jahre der Vernachlässigung bei frühkindlicher Erziehung und Bildung auszugleichen sowie Menschen und Ressourcen zu mobilisieren, um junge Kinder und deren Familien zu unterstützen.“

Zwar gibt es ähnliche Zentren auch in anderen Ländern, beispielsweise in Kanada, Finnland, Australien oder in den USA. Aber nur England errichtet seine Kinder- und Erwachsenenzentren flächendeckend. Sie entstehen zurzeit auf Basis der Erkenntnisse, die die Regierung mit 107 Pilotprojekten gewonnen hat, die sie Early Excellence Centres nannte. Nach Definition des Bildungsministeriums ist ein Early Excellence Centre „eine frühkindliche Einrichtung, die das Ministerium als ein Leuchtfeuer mit besonders guter Praxis in Bezug auf qualitativ hochwertige, integrierte Bildung, Betreuung und Familienunterstützung anerkannt hat“.

Spielanalyse mit Fotos, Videos und Schemata

Diese Zentren der ersten Generation bauten auf existierenden Kinderhorten, Vorschulen oder ähnlichen Einrichtungen auf. Und sie richten sich bis heute vor allem an Familien mit besonders jungen oder allein erziehenden, arbeitslosen, armen oder kranken Eltern. Den sozial Schwachen wollte die Regierung vor allem helfen, deshalb etablierte sie die Early Excellence Centres vorrangig in heruntergekommenen Problembezirken. Vor Ort wird jedes Kind systematisch mit einem Lehrplan gefordert und gefördert. Die Betreuer in den Zentren analysieren das Spiel der Jungen und Mädchen mithilfe von Schemata. So nennen die Pädagogen regelmäßig wiederkehrende Verhaltensmuster, die anzeigen, womit sich ein Kind gerade beschäftigt – beispielsweise mit vertikalem Aufeinanderstapeln von Gegenständen oder mit rotierenden Körpern. Die Betreuer bieten dann Spiele an, die das kindliche Interesse unterstützen.

Zugleich erfassen und dokumentieren sie Lernfortschritte und Eigenarten ihrer Schützlinge alle paar Wochen mit Fotos, Videos und Notizen. Diese Dokumente reichen sie als eine Art Gebrauchsanweisung an Grundschulen weiter, wenn die Kinder mit fünf Jahren schulpflichtig werden. Die Aufzeichnungen dienen außerdem als Grundlage für Gespräche mit den Eltern. Das ist wichtig, weil Mama und Papa in den Zentren als die wichtigsten Experten für Kinder gelten.

Auch die Grundüberzeugung der Regierung hat sich über die Jahre gehalten. Wer gut werden will, muss sein eigenes Profil bilden dürfen, davon waren die Politiker immer überzeugt. Deshalb sollte sich jedes Pilot-Zentrum an den jeweiligen Bedürfnissen vor Ort orientieren. Und sich mit örtlichen Initiativen und bereits existierenden staatlichen oder privaten Einrichtungen beraten. Zusammen arbeiteten die Partner Geschäftspläne für jedes neu zu gründende Zentrum aus und reichten sie zur Prüfung beim Bildungsministerium ein.

Dort rechneten dann Beamte nach, ob die Angebote – von Kinderspielgruppen über Mutter-Kind-Betreuungen bis zu Fortbildungen für Arbeitslose – realistisch und finanzierbar waren. Wenn sie grünes Licht gaben, gab es Fördergelder vom Staat, und zwar je nach geplantem Angebot und geplanter Größe des Projektes unterschiedlich viel. „Die Spannbreite der Unterstützung ist wegen der vollkommen unterschiedlichen Ausgangsbedingungen enorm groß“, erklärt Patrick Towgood vom englischen Bildungsministerium. Sie reicht von rund 47.000 Euro bis 370.000 Euro jährlich. Darin enthalten sind knapp 7200 Euro, die jedes Zentrum im Jahr für Forschung und Fortbildung erhält. Insgesamt, so die jüngste Finanzplanung, wird die englische Regierung rund 65 Millionen Euro in Early Excellence Centres investieren.

Bei den Zentren decken die Zuschüsse der Regierung nur etwa ein Drittel der Kosten – und gleichen damit aus, was das Early Excellence Centre mehr kostet als ein herkömmlicher Kindergarten. Den Rest ihres Budgets organisieren die Zentren aus sehr unterschiedlichen Quellen. Manche bekommen Geld von lokalen Gesundheitsbehörden, weil sie in deren Auftrag Kurse anbieten. Andere sammeln Spenden von Unternehmen und Bürgern. Oder sie bessern ihre Kasse mit Kursgebühren von erwachsenen Kunden auf. Zudem vergeben viele einen Teil ihrer Kindergarten-Plätze an wohlhabende Eltern. Die müssen je nach Einkommen bis zu sechs Euro für jede Stunde bezahlen, in der ihre Kinder durch die ausgefeilte Pädagogik im Zentrum gefördert werden. Die soziale Mixtur, die auf diese Weise bei den Besuchern zu Stande kommt, ist gewollt – sie soll verhindern, dass sich die Kunden, für die das Zentrum in erster Linie gedacht war, als arme Leute stigmatisiert fühlen.

Das Konzept der Early Excellence Centres hat sich so gut bewährt, dass die Regierung das Pilotprogramm im kommenden Jahr auslaufen lässt – und unter dem Namen Children’s Centre in größerem Maßstab weiterführt. Die 107 bestehenden Einrichtungen werden umbenannt; klassische Vorschulen oder Spielgruppen werden zu Zentren umgebaut. Ein Fünftel aller Kindergärten in sozialen Brennpunkten soll sich in den nächsten Jahren zum Children’s Centre wandeln. Zudem sind zahlreiche Neugründungen geplant. Die neue Zentrums-Generation wird noch mehr Serviceangebote für Kinder und Familien unter einem Dach vereinen. So richten beispielsweise Arbeitsämter oder Gesundheitsbehörden vor Ort Außenstellen ein. Schon 2008, so die Pläne der Regierung, wird es 2500 Children’s Centres geben. Bis 2010 sollen es 3500 sein – eines in jeder Gemeinde. Bereits im März des kommenden Jahres könnten die Angebote 650.000 Kinder in den ärmsten Gegenden des Landes erreichen.

„So etwas“, kündigt Malte Ristau-Winkler an, „wird es in den kommenden zwei Jahren auch in Deutschland geben.“ Ristau-Winkler ist Abteilungsleiter Familie, Wohlfahrtspflege, Bürgerschaftliches Engagement im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Ministerium hat bereits eine „Agenda Eltern-Kind-Zentren“ veröffentlicht. Ziel der Bestrebung, so heißt es darin, sei „die Entwicklung von möglichst vielen Familienzentren“ nach dem Vorbild der englischen Einrichtungen. Ristau-Winklers Angaben zufolge haben Vertreter des Familienministeriums bereits feste Abkommen mit kommunalen Spitzenverbänden, den beiden großen Kirchen, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag sowie mehreren Wohlfahrtsverbänden geschlossen. Schon ab dem kommenden Jahr wollen die Kooperationspartner die ersten bestehenden Kindergärten in Eltern-Kind-Zentren umwandeln.

Das Bundesfamilienministerium kann die Entwicklung allerdings lediglich mit Pilotprojekten ankurbeln – und hoffen, dass die Länder folgen. Denn anders als bei den englischen Vorreitern ist in Deutschland nicht der Bund für Bildung und Erziehung zuständig, die Entscheidungshoheit liegt bei den 16 Bundesländern. Der Bund hat deshalb fünf deutsche Leuchttürme mit besonders vorbildlicher Praxis auserwählt. Sie sollen die Bundesländer anspornen. Mit ersten Erfolgen – Nordrhein-Westfalen und Brandenburg wollen bereits einsteigen.

Mehr Fortbildungen, weniger Drogen und Missbrauch

Sie folgen der Einsicht, dass sich ein Engagement in jeder Hinsicht rechnet. In England sind diese Erkenntnisse längst gesichert. „Die Blair-Regierung hat die richtigen Ziele erkannt und sich nicht gescheut, dafür Geld auszugeben – das zahlt sich jetzt aus“, erklärt Michael Gasper. Der Wissenschaftler hat am Forschungszentrum für frühe Kindheit des University College Worcester eine staatliche Evaluation der Zentren koordiniert. In ihrem Abschlussbericht erklären Gasper und seine Kollegen, dass alle beteiligten Gruppen von den Kinderzentren profitieren. Der Studie zufolge lernen die Kinder schneller und konzentrierter, sie verhalten sich sozialer und haben mehr Selbstvertrauen. Behinderte oder lerngestörte Kinder werden schneller entdeckt und können dadurch früher und gezielter unterstützt werden. Die Eltern besuchen laut Gasper häufiger Fortbildungskurse, die ihre Chancen am Arbeitsmarkt aufbessern. Sie sind seltener sozial isoliert, haben weniger häufig Probleme mit Drogen oder Alkohol, die Quoten für Kindesmissbrauch gehen zurück, die Familien brechen seltener auseinander. Insgesamt steige der soziale Zusammenhalt in den Gemeinden, die ein Kinderzentrum haben. Und auch die Mitarbeiter im Zentrum profitieren: Sie können sich leichter und qualitativ hochwertiger weiterbilden und sind dementsprechend häufig besser qualifiziert.

„Ich weiß, das klingt wie ein kitschiges Hollywood-Happy-End“, sagt Gasper, „aber ich kann nach unseren Besuchen in den Zentren klipp und klar sagen, dass ihre Auswirkungen vor Ort beachtlich sind: Sie helfen den Menschen dabei, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und ihr Leben zu leben.“

Vorsorge statt Folgeschäden

Eine Regierung, die möglichst viel Geld in die Bildung und Erziehung von kleinen Kindern investiert, tut nicht nur etwas für ihre Bürger.
Sie handelt auch ökonomisch klug. Denn die Investition rentiert sich, und zwar vor allem für den Staat.

Mit 14 kommt Louise in ein Heim, sie hasst die Schule, und sie hasst später ihren Job in einem Schnellrestaurant. Mit 18 wird sie zum ersten Mal schwanger, im selben Jahr stirbt ihr Vater. Ihr Ehemann misshandelt und missbraucht sie. Sie wird wegen Depressionen behandelt und besucht erstmals die Elterngruppe in einem Kinderzentrum in England. Kurz darauf wird sie erneut schwanger, muss das Kind aus medizinischen Gründen abtreiben. Ihr nächstes Kind bringt sie zur Welt, nach der Geburt geht sie mit ihren Kindern zur Spielgruppe ins Zentrum. Mit 20 hat Louise drei Kinder und sogar wieder Aussicht auf einen Job.

Louises Geschichte wird beschrieben in einer staatlichen Evaluation der englischen Early Excellence Centres. Dem Bericht zufolge hat die junge Frau sich selbst und der öffentlichen Hand eine Menge Geld gespart, weil sie mithilfe des Zentrums ihr Leben in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt hat. Ihre Besuche im Kinderzentrum haben den Staat rund 1300 Euro im Jahr gekostet – knapp 13.000 Euro jährlich wären für Heimplätze und psychologische Betreuung fällig geworden, hätte Louise die klassische soziale Abstiegskarriere gemacht.

Die Zahl gilt nur für die ersten Lebensjahre der Kinder. Auf lange Sicht wäre die Kleinfamilie den Staat noch sehr viel teurer zu stehen gekommen. Wie teuer, lässt sich schwer rechnen. Die Sozial-Statistiken weisen nahezu jeden unglücklichen Entwicklungsverlauf aus, den ein Mensch nehmen kann. Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit, Verbrechen. In Einzelfällen, schreiben die Autoren der Studie, beläuft sich das Verhältnis zwischen rechtzeitig ausgegebenem und später gespartem Geld auf eins zu 50.

In Fachkreisen gilt es inzwischen als sicher, dass Investitionen in frühkindliche Bildung und Erziehung für die öffentliche Hand viel lohnenswerter sind als etwa Investitionen in Hochschulen. Ein kostenloses Studium rechnet sich vor allem für das Individuum – dank der guten Ausbildung bekommt der Hochschulabsolvent später eine besser dotierte Anstellung. Der Staat, der dem Bürger das Studium finanziert hat, profitiert bestenfalls indirekt: in Form höherer Steuereinnahmen durch das bessere Gehalt. Die gesellschaftliche Bildungsrendite, hat McKinsey errechnet, liegt in diesem Fall bei mageren 3,4 Prozent.

Ganz anders sieht die Rechnung aus, wenn der Staat Kindergärten ausstattet, hoch qualifizierte Erzieher einstellt und Sozialarbeiter zu Problemfamilien mit sehr jungen Kindern schickt. Dann steigt die Rendite – laut Bildungsinvestitionsrechnung – auf zwölf Prozent. Weil die Politik rechtzeitig möglichen Folgeschäden vorbeugt und so die Sozialkassen spürbar entlastet. Eine Langzeitstudie der Universitäten von London, Oxford und Nottingham aus dem vergangenen Jahr belegt, dass die gesamte Gesellschaft von effizienter Vorschulbildung profitiert, weil die geförderten Kinder als Jugendliche oder Erwachsene seltener Verbrechen begehen und weniger oft psychisch oder körperlich krank werden. Zudem haben sie eine bessere berufliche Ausgangsposition und sind damit seltener arbeitslos. Der Staat investiert also auch in die Chancengleichheit seiner Bürger.

Deutschland gibt durchschnittlich 4455 Euro pro Jahr für ein Kind zwischen drei und sechs Jahren aus – einen Studenten lässt sich das Land mehr als das Doppelte kosten. Aus Sicht der McKinsey-Berater ein unfaires, vor allem aber unkluges Missverhältnis, aus dem sie ihre Forderung nach mehr staatlichem Engagement im frühkindlichen Bereich ableiten. So ließen sich die Defizite in den Sozialsystemen an der Ursache behandeln.

In die gleiche Kerbe schlagen auch der Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen und Enrique Iglesias, Präsident der Inter-American Development Bank. Die beiden Ökonomen haben 1999 bei der Inter-American Development Bank Conference in Paris ein Thesenpapier zu dem Thema präsentiert. Demzufolge helfen Investitionen in frühkindliche Bildung zugleich Familien, deren Kindern, dem Staat und der Wirtschaft. Daraus resultiere ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum – und ein Durchbrechen des Armuts-Teufelskreises. „Die beste Investition, die eine Regierung machen kann“, folgern Sen und Iglesias, „ist die in die Bildung und Erziehung von Kindern in deren ersten Lebensjahren.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.