Lernen lernen!

Seit PISA hat Deutschland Angst, es könnte mit dem Land der Dichter, Denker und Nobelpreisträger bald genauso wenig gemein haben wie das heutige Mazedonien mit dem Reich Alexanders des Großen.
Damit wir den Anschluss an die Weltspitze nicht verlieren, hat McKinsey & Company einen Vier-Punkte-Plan für eine umfassende Bildungsreform erstellt.




Du sitzt im Klassenzimmer und kaust nervös an der Unterlippe. Der Lehrer verteilt Prüfungsbögen. Ruhig bleiben. Konzentrieren! Du fängst an zu lesen, doch schon bald wird dir klar: Du verstehst kein Wort. Panik kriecht hoch; die Zeilen verschwimmen vor deinen Augen, Zahlen springen durcheinander, Grafiken verheddern sich. „Reiß dich zusammen!“, ist der letzte Gedanke, den du zu fassen kriegst. Dann wird alles weich wie Gelee, die Klausur fließt davon, du schwimmst, strampelst, zappelst, greifst ins Leere, fällst. Nur eines kann dich jetzt noch retten: Aufwachen. Hoffen, dass alles nur ein böser Traum war – und dass die Wirklichkeit freundlicher ist.

Deutschland hat Prüfungsangst. Seit die erste Pisa-Studie veröffentlicht wurde, ist das Bildungssystem im Ausnahmezustand. Wie ein Schüler, der sich lange um seine Hausaufgaben gedrückt hat und vor der Abschlussarbeit versucht, im Hauruckverfahren alles zu pauken, ringt das Land mit der Reform seiner Kindergärten, Schulen und Universitäten.

Nur langsam sickert ins öffentliche Bewusstsein, dass viel von dem auf dem Spiel steht, was Deutschland ausmacht: unsere Kultur, unser Wohlstand, unser Sozialstaat. So wie in der Evolution nur die Stärksten überleben, gewinnen in der Globalisierung nur die Klügsten. Wenn wir Deutschen auch in 20 Jahren noch mehr Geld verdienen wollen als Osteuropäer oder Asiaten, dann muss unsere Arbeit auch mehr wert sein. Damit der Anteil an wissensintensiven Tätigkeiten wie Forschung oder qualifizierten Dienstleistungen in Deutschland steigt, müssen unsere Kopfarbeiter mit der internationalen Elite mithalten können, und zwar quer durch die Gesellschaft. Bisher sind die Voraussetzungen dafür nicht gut. Im Wettbewerb der besten Bildungssysteme liegt Deutschland laut Pisa 2003 unter 29 Ländern bestenfalls im Mittelfeld – in Mathematik auf Platz 16, im Lesen auf Platz 19 und in den Naturwissenschaften auf Platz 15.

Um den Klassenerhalt zu sichern, reicht es nicht, einen neuen Trainer anzuheuern, der die alte Mannschaft mit ein paar Tricks wieder auf Zack bringt. „Nach dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit brauchen wir heute ein Bildungswunder“, schreibt Jürgen Kluge, Deutschland-Chef von McKinsey & Company in seinem Buch „Schluss mit der Bildungsmisere“. Wissen und Kreativität, Lernfähigkeit und Selbstständigkeit entscheiden über unseren gesellschaftlichen Reichtum. „Dabei lediglich auf den Staat zu setzen, der zur Behebung aller Mängel mehr Geld und mehr Lehrer einsetzen soll, ist keine Lösung.“ Eine umfassende Bildungsreform lässt sich nicht von Politikern mit ein paar regulatorischen Handgriffen steuern. Bildung ist eine Sache des Bewusstseins – bei allen Beteiligten. Studien zeigen: Die Aufmerksamkeit, die Eltern der Erziehung ihrer Kinder entgegenbringen, ist für deren Entwicklung entscheidend. Aber gilt uns Bildung hier zu Lande wirklich als Wert für alle? Unser System ist nicht nur mittelmäßig in seiner Leistung, es ist auch hochgradig sozial selektiv. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland schlechter ab als jedes andere vergleichbare Industrieland. Hier zu Lande nehmen nur elf Prozent der Kinder mit sozial schwacher Herkunft ein Hochschulstudium auf. Bei Familien mit hohem sozialem Hintergrund sind es 81 Prozent.

Auch deswegen muss Deutschland ein Volk von Bildungsexperten werden. Dass das Thema seit Pisa einen festen Platz in den Medien hat, ist ein erster Schritt, aber nur die halbe Miete. Was wissen wir schon? Selbst Fachleuten fällt es schwer, die Datenberge aus Studien, Konzepten und Ankündigungen zu überblicken, die Politiker, Pädagogen, Soziologen sowie Eltern- und Schülerverbände in den vergangenen Jahren zusammengetragen haben. Jeder weiß, dass Finnen, Japaner oder – im Bezug auf die Universitäten – Amerikaner ein besseres Bildungssystem haben als wir. Aber wer weiß schon, warum? Wie war das noch mit den Vor- und Nachteilen von Gesamt-, Ganztags-, Vor- und Schwerpunktschulen, mit Eliteuniversitäten und Studiengebühren? Warum sind Bayerns Schüler deutsche Meister und die Bremer Tabellenschlusslicht? Und was können die Norddeutschen tun, um besser zu werden und die Bayern zu überholen? Unser Bildungssystem ist eine Blackbox: Wir wissen, was wir reinstecken. Seit Pisa wissen wir auch, was rauskommt. Aber wir haben keine Ahnung, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und welche Inputs tatsächlich für einen guten Output sorgen.

Wo also geht die Reise hin? Was können, was sollten wir verändern? An wem oder was soll sich Deutschland orientieren? Mit welchem Ziel? Das hat sich auch McKinsey gefragt und im Rahmen eines Langfristprojektes das deutsche und internationale Bildungssysteme unter die Lupe genommen. Seit 2001, also schon bevor die Pisa-Debatte die Öffentlichkeit aufschreckte, arbeiten die Berater im Rahmen der Initiative McKinsey bildet. mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis an Fragestellungen, die helfen sollen, eine gemeinsame Route zu definieren. Der erste Schritt auf dem Weg: eine Landkarte, ein gemeinsamer Rahmen, auf dem sich die unterschiedlichen Maßnahmen verorten lassen.

Das Basiskonzept erfüllt mehrere Funktionen gleichzeitig: Erstens fasst es die wichtigsten Erkenntnisse aus den internationalen Vergleichsstudien und der neuesten Forschung zusammen. Die verschiedenen Ansätze, die in den vergangenen Jahren in Deutschland beschlossen wurden – vom übergreifenden Sieben-Punkte-Plan der Kultusministerkonferenz bis hin zu konkreten Initiativen einzelner Schulen –, lassen sich hier einordnen.

Zweitens bietet der McKinsey-Plan konkrete Orientierungspunkte, an denen sich der Fortschritt der Bildungsreformen messen lässt. Denn nur, wer klare Ziele und Zeitpläne vorgibt, kann überprüfen, ob die Ankündigungen auch zu den erhofften Ergebnissen führen. Drittens will das Konzept zum öffentlichen Umdenken anleiten. „Wenn wir die deutsche Bildungsarmut bekämpfen wollen, brauchen wir einen Bildungsvertrag, an dem sich alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligen“, meint Kluge. „Für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es uns gelingt, aus unseren Bildungsinstitutionen Werkstätten von morgen zu machen, deren Kerngeschäft die Befähigung zu einem konstruktiven und selbstbewussten Umgang mit dem Wandel ist.“ An vier Stellschrauben gilt es aus Beratersicht zu drehen: Frühkindliche Bildung muss stärker gefördert werden. Die Qualität von Bildung muss definiert, systematisch verbessert und dauerhaft gesichert werden. Kindergärten, Schulen und Universitäten brauchen mehr Freiheit. Und am Geld darf die Reform nicht scheitern, denn Bildungsausgaben sind die wohl wichtigste Investition in unsere Zukunft.

I. FRÜH INVESTIEREN STATT SPÄT REPARIEREN

Wenn es losgeht, ist das Wichtigste längst passiert. Am Tag ihrer Einschulung ins staatlich regulierte Bildungsleben haben Kinder das Lernen bereits gelernt. Wenn nicht, ist es fast schon zu spät.

Lernen beginnt lange, bevor wir es als solches bezeichnen. Bis zum fünften Lebensjahr formen sich im menschlichen Gehirn die Strukturen, von denen das Denk- und Lernvermögen abhängt. Kleinkinder erkunden die Welt mit allen sechs Sinnen, und die Erkenntnisse, die sie ihr abringen, prägen sich tief ein. Wenn sie die Schwerkraft entdecken oder den Lichtschalter, wenn sie ein Mobile zum Tanzen bringen oder Oma auf die Palme; wenn sie erspüren, dass man ein Lächeln gewinnt, wenn man eines verschenkt, dann verweben sich im Gehirn synaptische Verbindungen zu einem immer dichteren Netz. Je spannender und verschiedenartiger die Reize, die ein Kleinkind erlebt, desto mehr tut sich im Hirn – ein Leben lang.

Die Hirnforschung weiß das schon lange, doch unser Bildungssystem fühlte sich bisher für die erste Phase des Lernens nicht zuständig. Bis zum Alter von drei Jahren sind Kinder fast ausschließlich in der Obhut ihrer Mütter, häufig notgedrungen. Krippen sind in Westdeutschland kaum verbreitet, aber auch im Osten, wo die Betreuung von Kleinkindern Tradition hat, wird die frühkindliche Lerndynamik nicht genügend gefordert und gefördert. Gemessen am neuesten Stand der Lernforschung, sind viele deutsche Krippen und Kindergärten wie Garderoben, an denen man sein Kind abgibt und zufrieden ist, wenn man es unzerknautscht zurückbekommt. Das Problem ist ein Grundsätzliches. Deutsche Erzieherinnen, so das Klischee, in dem immer ein Körnchen Wahrheit steckt, sind Frauen, die ihren Mutterinstinkt zum Beruf gemacht haben; lieb zu sein ist ihre wichtigste Qualifikation. Die meisten haben nach der Real- oder Hauptschule eine dreijährige Ausbildung gemacht; ein Viertel ist über 50. Abiturienten trifft man in diesem Beruf selten, Männer fast nie.

Dabei geht es auch anders: In Pisa-Siegerländern wie Finnland, Schweden oder Frankreich, aber längst nicht nur dort, ist der gängige Ausbildungsweg für Angestellte in Kindergärten ein Universitätsstudium, mit einem Abschluss als Bachelor of Education. Regelmäßige Fortbildungen sind Pflicht, in denen Erzieher etwa lernen, wie man mit Kindern naturwissenschaftliche Experimente durchführt oder sie schon früh an eine Fremdsprache gewöhnt. Die hohe Qualifikation geht nicht zwangsläufig mit einer entsprechend hohen Bezahlung einher, wohl aber mit Karrierechancen. Erzieher ist ein Beruf mit hohem gesellschaftlichem Ansehen, in dem man es „zu etwas bringen“ kann.

Zwar gibt es auch in Deutschland Kindertagesstätten, die mit den modernsten der Welt mithalten können. Doch man muss sie suchen. Nur ein kleiner Teil der Eltern macht sich diese Mühe, manchmal liegt die nächste gute Krippe auch einfach zu weit entfernt. Und man muss sie finden. Aber wie? Oft genug ist die vorbildliche Kita gar nicht auszumachen. Und schließlich muss man das bessere Angebot auch bezahlen können.

Kinder aus sozial schwachen Familien sind doppelt benachteiligt. Weil es neben dem Geld auch am Bewusstsein fehlt, dass Mutterliebe elementar, aber kein Ersatz für moderne Pädagogik ist. Und dass Nestwärme und frühkindliche Förderung nicht dasselbe sind.

Um dieses soziale Gefälle auszugleichen, wurde in Großbritannien ein Konzept entwickelt, das Kinder und Eltern gleichzeitig unterstützt. Im Rahmen von Early Excellence Centres (EEC) arbeiten Kindergärten mit Familienzentren zusammen. Die Kleinen bekommen spezielle Förderung; die Eltern individuelle Beratung. Allein erziehende Mütter werden nach Möglichkeit als Teilzeit-Erzieherinnen in die Kindergärten integriert. Grundschultests belegen, dass Kinder von EECs deutlich profitieren.

Derartige Konzepte auch in Deutschland zu verwirklichen wird nicht billig. Eine Überschlagsrechnung: Angenommen, wir würden für alle Kinder einen Tagesbetreuungsplatz anbieten, mit Betreuungsrelationen auf international hinreichendem Niveau, einer besseren Aus- und Weiterbildungsquote und folglich auch höheren Gehältern für die Erzieherinnen und Erzieher, würden Mehrkosten von 10 bis 15 Milliarden Euro jährlich auf uns zukommen. Das entspricht nur einem Drittel der Haushaltsmittel, die wir heute für Kindergeld aufwenden – über deren Verwendung kein Empfänger Rechenschaft abzulegen hat.

Dennoch viel Geld. Aber ist es nicht gerade das Prinzip deutscher Wertarbeit, gleich etwas Ordentliches zu kaufen, damit man lange etwas davon hat? Nachbessern ist immer teurer, als es gleich richtig zu machen. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Kleinen, sondern für den Beginn jeder Bildungsphase. Die Hochschule, die sich in einem aufwändigen Prozess die passenden Studenten auswählt, wird im Zweifel immer besser verfahren. Der Aufwand wird sich rechnen – für den Studenten, für das Lehrpersonal und für die Reputation der Hochschule selbst. Also: Lieber früh investieren statt spät reparieren. Und, wie ein alter Lehrerspruch mahnt: „Wer früh anfängt, ist auch früher fertig.“

II. KONSEQUENTE QUALITÄTSMESSUNG UND -SICHERUNG

Pädagogen-Zitate wie das genannte füllen Poesiealben, Abi-Zeitungen und manches launige Geschenkbüchlein. Genau genommen sind Lehrersprüche eine eigene Literaturgattung, eine Erzähltradition, in der sich seit Jahrhunderten der Schatz deutscher Vernunftappelle niederschlägt. „Man lernt nicht für die Schule, sondern fürs Leben“ ist einer dieser Evergreens, oder: „Wer fleißig arbeitet, braucht sich vor dem Test nicht zu fürchten.“

Die Lehrer haben Recht. Aber auch leicht reden. Schließlich verteilen sie Noten, ohne selbst benotet zu werden; sie bewerten Leistungen, ohne ihre eigene unter Beweis stellen zu müssen. Das Referendariat ist der letzte offizielle Test, den deutsche Lehrer in ihrem Leben machen müssen. Zwar stellen Studien wie Pisa dem Bildungssystem mittlerweile regelmäßig ein Zeugnis aus. Doch die Untersuchungen sind Luftbilder. Einzelne Schulen lassen sich darauf nicht erkennen, Lehrer erst recht nicht. Die Ursachen für die Bildungsmisere bleiben im Dunkeln.

Lehrer unterliegen deshalb dem Pauschalverdacht, unmotiviert und überbezahlt zu sein. Dabei wäre es leicht, aus der Faule-Säcke-Ecke herauszukommen: durch den Beweis des Gegenteils. Durch gute Leistung. Wie gesagt: Wer fleißig arbeitet, braucht sich vor dem Test nicht zu fürchten. Bildungsexperten fordern, die Qualität der Schulen regelmäßig zu überprüfen. Und zwar mit dem gleichen Ziel, mit dem Lehrer Klassenarbeiten schreiben lassen: nicht um die Schlechten zu bestrafen, sondern um die Guten zu belohnen und die Schwachen zu fördern. Zwar ist die Leistung einer Schule schwieriger zu messen als die Produktivität einer Autofabrik oder die Zufriedenheit eines Hotelgastes. Aber mehrere Länder machen bereits vor, dass Qualitätsmessungen nicht nur machbar, sondern auch sinnvoll sind.

In Großbritannien oder in den Niederlanden werden Bildungsstätten regelmäßig von Inspektoren besucht. Mindestens alle sechs Jahre verbringen Prüferteams eine Woche in der Schule und versuchen, sich einen Überblick zu verschaffen. Sie vergleichen Statistiken, begutachten Unterrichtsstunden und führen Interviews mit Schülern, Lehrern und Eltern. Gute Schulen werden mit Budgetzuschüssen belohnt. Fallen Schwächen auf, müssen die Schulen nachsitzen. Wer das Klassenziel nicht aus eigener Kraft erreicht, darf auf Nachhilfeunterricht von externen Beratern hoffen. Sollte sich eine Schule dauerhaft als unverbesserlich erweisen, droht ihr jedoch die Schließung.

McKinsey schlägt derartige Tests auch für Deutschland vor. Einerseits sollte die Leistung aller Schüler in der zweiten, sechsten und neunten Klasse in den Fächern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und einer Fremdsprache überprüft werden. Mit einem bundesweit einheitlichen Test könnte man vergleichen, welche Einrichtungen erfolgreich sind und welche nicht. Außerdem sollte jede Schule mindestens alle vier Jahre von Gutachtern besucht werden. Die Maßnahmen zur Qualitätsmessung und -sicherung würden rund 600 bis 700 Millionen Euro pro Jahr kosten.

Schul-TÜV heißt dieses Konzept. Der Vergleich mit der regelmäßigen Autoinspektion ist treffend. In beiden Fällen geht es um den Schutz von Menschenleben. So wie nicht funktionierende Bremsen lieber in der Werkstatt auffallen sollten als bei 150 km/h auf der Autobahn, sollten auch schwache Schulen repariert werden, bevor sie ihre Absolventen schlecht vorbereitet ins Leben schicken.

III. MEHR FREIRÄUME FÜR DIE BILDUNGSINSTITUTIONEN

Bildungseinrichtungen allein durch regelmäßige Inspektionen in die richtigen Bahnen lenken zu wollen dürfte allerdings genauso aussichtslos sein, wie Schüler mit Strafandrohungen zum Lernen anzuhalten. Kindergärten, Schulen und Universitäten brauchen nicht weniger Freiheiten, sondern mehr. Wenn man Schulen und Lehrer für ihre Leistungen verantwortlich macht, muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, verantwortlich zu handeln. Die meisten Erzieher, Lehrer und Hochschuldozenten haben ihren Beruf mit jugendlichem Ehrgeiz und Elan ergriffen, dann aber schnell gemerkt, dass ihrem Tatendrang Fesseln angelegt werden. Innerhalb der Beschränkungen von strikten Lehrplänen, festen Budgetvorgaben und bürokratischen Bestimmungen den Spielraum für eigene Kreativität zu finden macht so viel Spaß, wie in knietiefem Matsch Tango zu tanzen. Dann lieber gar nicht bewegen.

Während der Trend in der Wirtschaft seit Jahrzehnten zu flachen Hierarchien, Teamgeist, Leistungsanreizen und Eigenverantwortung geht, herrscht im Bildungssystem noch immer der bürokratische Mittelbau. Schulleiter haben weder wirklich Einfluss darauf, welche Lehrer sie einstellen, noch wofür sie ihr Geld ausgeben. Die Möglichkeit, gute Leistungen durch Bonuszahlungen zu belohnen, gibt es nicht. Dies widerspräche wohl auch der in Behörden bis heute streng hierarchischen Struktur.

Dabei hielt sich Deutschland seine Dezentralisierung lange zugute. Im föderalen System ist Bildung die Hoheit der Länder. Damit sollte regionalen Unterschieden Rechnung getragen werden. Doch die Entscheidungen werden an der falschen Stelle getroffen. Vergleichbarkeit und Transparenz bleiben auf der Strecke. Statt bundesweite Standards regional umzusetzen, erlassen 16 Bürokratien jeweils eigene Vorgaben. Einige wollen die Rechtschreibreform, andere torpedieren sie. Die einen schicken ihre Kinder dreizehn Jahre zur Schule, die anderen zwölf. Studenten oder Lehrer, die von einem Bundesland ins andere wechseln wollen, müssen oftmals um die Anerkennung von Qualifikationen und Leistungen kämpfen.

Um die Reformblockade aufzubrechen, fordern Experten zweierlei: Zunächst müssen mehr Kompetenzen von den Länderregierungen an die Bildungseinrichtungen abgegeben werden. Welcher Lehrer in welches Kollegium passt, nach welchen Methoden unterrichtet wird, ob Musikinstrumente gekauft werden oder ein Chemielabor – all das sollen nicht mehr Ministerialbeamten entscheiden, sondern die Schulen selbst. Auch die Hochschulen brauchen mehr Freiheit, bei der Auswahl ihrer Studenten oder bei ihren Budgets. Sie sollten die Höhe von Studiengebühren selbst festlegen und sie auch nach eigenem Gutdünken verwenden dürfen. Nur so können Studenten erkennen, ob das Angebot wirklich das wert ist, was sie bezahlen. Aus bürokratischem Schlendrian wird dann Wettbewerb. Und das im Idealfall nicht nur innerhalb der öffentlichen Bildungsträger, sondern auch zwischen öffentlicher und privater Konkurrenz.

Diese Vorschläge umzusetzen wird nicht einfach. Denn die Verlierer der Reform sind diejenigen, die bisher das Sagen hatten.

IV. BILDUNG ALS INVESTITION VERSTEHEN UND FÖRDERN

Bis zu diesem Punkt war’s einfach. Ein paar Kindergärten hier, eine Reihe Ganztagsschulen dort, den Lehrern die Leviten lesen, Erzieherinnen zur Fortbildung abkommandieren und Bürokraten entmachten – in der Theorie ist das alles ein Spaß. Doch inzwischen ist eine ziemliche Rechnung aufgelaufen: Mindestens viereinhalb Milliarden Euro im Jahr für frühkindliche Erziehung; 600 bis 700 Millionen Euro jährlich für Inspektionen; Studiengebühren – finanziert mit zinsgünstigen Bildungsdarlehen – würden außerdem rund 1,5 Milliarden Euro per annum kosten. Eine Menge Mehrausgaben für einen Staat, der in Schulden ertrinkt.

Trotzdem. Die Frage „Was kostet das?“ ist fehl am Platz. Wir sollten lieber fragen: „Was kriegt man dafür?“ Bildung ist kein Konsum, kein Eis, das man wegschleckt, kein Urlaub, in dem man das Leben genießt, kein Kaschmirpulli, mit dem man sich beweist, wie lieb man sich hat.

Bildungsausgaben sind keine Kosten. McKinsey hat für Investitionen in die frühkindliche Bildung eine gesellschaftliche Bildungsrendite von zwölf Prozent errechnet. Ganztagskindergärten ermöglichen es beiden Elternteilen, Karrieren zu verfolgen. Für den Staat bedeutet das zusätzliche Steuern. Und unsere Wirtschaft kann international nur mithalten, wenn Hochschulen und Universitäten genügend hoch qualifizierte Arbeitskräfte ausbilden.

Wer eins und eins zusammenzählt, dem wird schnell klar, dass Investitionen in Bildung eine hervorragende Geldanlage sind. Alles andere ist ein gewaltiges Verlustgeschäft. Aber damit sind wir schon wieder beim Problem: Wie gut beherrschen wir eigentlich noch die Grundrechenarten?

Literatur

Jürgen Kluge: Schluss mit der Bildungsmisere – Ein Sanierungskonzept. Campus Verlag, 2003; 241 Seiten; 24,90 Euro
Nelson Killius, Jürgen Kluge, Linda Reisch (Hg.): Die Zukunft der Bildung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002; 227 Seiten, 10 Euro
Nelson Killius, Jürgen Kluge, Linda Reisch (Hg.): Die Bildung der Zukunft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003; 363 Seiten, 13 Euro

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Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.