Ein gutes Gefühl

Erst die Röstung macht das Aroma. Deshalb gilt es als hohe Kunst, die zahlreichen Inhaltsstoffe einer Kaffeebohne zu einer gelungenen Komposition werden zu lassen. Was das bedeutet, zeigt ein Besuch am Niederrhein.





Manchmal schütteln die Kunden von Alex Reinhart-van Gülpen über ihren Lieferanten den Kopf. Will der nun Kaffee verkaufen oder nicht?

Er will. Aber nicht zu viel auf einmal. „Wenn jemand anruft und sich für ein Vierteljahr mit Bohnen eindeckenmöchte, rate ich ab“, sagt der Inhaber von Lensing & van Gülpen in Emmerich, einem der traditionsreichsten deutschen Spezialitäten-Röster. „Die Leute sollen kleine Mengen bestellen, dann haben sie immer frisch geröstetenKaffee. Die Frühstücksbrötchen fürs Wochenende kauftman ja auch nicht schon am Donnerstag ein.“ 

Dass Kaffee am besten schmeckt, wenn er frisch gemahlen wurde, weiß jeder Laie. Aber frisch geröstet? „Verbrauch innerhalb einer Woche – das ist ideal“, sagt Reinhart-van Gülpen. Natürlich bleibt seine Ware auch danach lange noch von exzellenter Qualität. Aber wer in fünfter Generation Kaffee röstet und sich mit Bohnen soviel Mühe macht wie der 63-Jährige, der möchte natürlich verhindern, dass sie auch nur einen Hauch ihres Aromas einbüßen.

Drei Dinge sind es, die eine Tasse Kaffee ausmachen: die Auswahl der Bohnen, ihre Röstung, die Zubereitung. Und auch wenn die Rohware den größten Einfluss auf die Güte des Getränks hat – der entscheidende Vorgang ist das Rösten. Erst durch ihn verwandeln sich ungenießbare grüne Bohnen in aromatisch braune. Und dabeigeht es um weit mehr als um bloßes Erhitzen. In jeder Kaffeebohne stecken etwa eine Million Zellen; jede einzelne Bohne setzt beim Rösten rund 800 Aromen frei. Nur wer das komplizierte Zusammenspiel von Kaffeesorte, Röstdauer und Temperaturverlauf beherrscht, rettet diesen Schatz an Geschmack in die Tasse.

Seit um Kaffee ein regelrechter Kult entstanden ist, versuchen sich immer mehr Menschen an dieser Rettung.„Vor zehn Jahren waren es noch 200 Kleinröster hierzulande, inzwischen liegt die Zahl bei über 500“, sagt Klaus Langen, Vorsitzender der Deutschen Röstergilde,in der sich Betriebe von der „Kupferkanne“ auf Sylt biszu „Wildkaffee“ in Garmisch-Partenkirchen zusammengeschlossen haben. Nicht wenige der Mitglieder rösten hauptsächlich für das eigene Café, oftmals vor denAugen der Gäste, und produzieren auf diese Art gerade einmal fünf Tonnen im Jahr – nur ein winziger Bruchteildessen, was mancher Großröster ausstößt.

So wie Alex Reinhart-van Gülpen. „Sie brauchen erst mal guten Rohkaffee, sonst erzielen Sie auch mit der besten Röstung kein befriedigendes Ergebnis“, sagt er und reicht seinem Besucher eine Tasse, aus der feiner Duft emporsteigt. „Mexikanischer Maragogype. Erst gestern aus Hamburg eingetroffen, zwei Säcke. Die Bohnen werden wegen ihrer Größe auch Elefantenbohnen genannt,sie ergeben einen sehr weichen, säurearmen Kaffee, derechte Liebhaber hat.“

Der Maragogype gehört im Lensing-&-van-Gülpen-Sortiment zu den sortenreinen Kaffees aus nur einem Anbaugebiet, aber das Rösten wird heute mit einer Mischungbeginnen. Die „Royal Special Crema“ ist ein Blend aus vier verschiedenen Bohnensorten. „Wir verbinden dasGutmütige der mittel- und südamerikanischen Provenienzen mit einem säurebetonten Ostafrikaner, der bringt Musik da rein, und das Ganze runden wir ab mit einer Prise Robusta aus Asien“, erklärt Reinhart-van Gülpen. Herauskommen soll ein leichter Espresso, der pur oder im Milchkaffee als morgendlicher Muntermacher taugt, seinen Dienst aber auf sanfte Art verrichtet. Damit er diesen Charakter in seiner ganzen Komplexität herausbildet, muss er entsprechend geröstet werden. 

Schonend in der heißen Trommel

Das geschieht bei Lensing & van Gülpen in derselben kleinen Halle, in der auch Lagerung, Abwiegen, Mahlen und Verpacken stattfinden. Jutesäcke mit der Aufschrift„Café do Brazil“ stapeln sich auf Paletten. Daneben steht ein halbes Dutzend heller Holzfässer, deren Inhalt Kaffeekenner auch ohne den Schriftzug darauf nicht raten müssten: Nur „Jamaica Blue Mountain“ wird in so edler Verpackung auf Reisen geschickt. Mit einem Kilopreis von 50 bis 60 Euro für Rohware gehört die Sorte zu den teuersten der Welt. 

Vor allem aber fallen die zwei Röstmaschinen ins Auge: die eine ein zinkfarbener Koloss aus Gusseisen, die andere zierlich und dunkelrot. Was anmutet wie „großer Bruder und kleine Schwester“, ist tatsächlich ein Duo aus derselben Familie. Beide sind Trommelröster. Sie kommen vor allem in kleinen Kaffeemanufakturen zum Einsatz, weil sie sich gut für geringe Mengen und schonende Langzeitröstung eignen. Die eine fasst Chargenvon maximal 12 Kilo, die andere von 90. Und beide sind hier in Emmerich gefertigt – von Probat, einem der weltweit führenden Röstmaschinen-Hersteller, dessen größte Modelle vier Tonnen pro Stunde bewältigen. Mitbegründer der Firma war ein gewisser Alexius van Gülpen – der Urgroßvater des heute aktiven Röstmeisters. Das war 1868 und markierte hierzulande den Beginn maschineller Kaffeeveredlung. Bis dahin hatten deutsche Kaffeetrinker rohe Bohnen im Kolonialwarenhandel gekauftund zu Hause selbst geröstet – in langstieligen Pfannen, die man ins offene Kaminfeuer hielt, oder in topfförmigen Eisenbehältern für den Herd. 

Alex Reinhart-van Gülpen lässt die Krawatte zwischen zwei Knopflöchern unter dem Hemd verschwinden. Dann drückt er den Zündknopf des großen Rösters. Mit drei weiteren Knöpfen, die jeweils für zwei Gasbrenner zuständig sind, setzt er alle sechs Flammen in Gang: Die waagerecht über dem Feuer rotierende Trommel soll gut aufgeheizt werden. Nun holt er eine Schale mit fertig gerösteten „ Royal Special Crema“-Bohnen. Sie sind eine Spur heller als die kräftig braunen eines klassischen Espresso. „Das ist unser Muster. So müssen sie später aussehen.“ Als sich auf der Digitalanzeige des Thermometers, das die Temperatur im Trommelinneren anzeigt, die Zahlen der Starttemperatur von 220 Grad nähern, schaltet er erst zwei, später vier Brenner wieder ab, „sonst wird es zu heiß“. Erst jetzt, bei exakt 220 Grad Celsius, öffnet Reinhart-van Gülpen die Klappe des Trichters über der Trommel, und 50 Kilo Rohkaffee prasseln in den Zylinder. Schlagartig sackt die Temperatur um 100 Grad ab. „Sie fällt so dramatisch, weil die Bohnen nun die Hitze annehmen“, erklärt der Röstmeister.

Auf Augen, Ohren und Nase vertrauen

Eigentlich würde man jetzt – wie beim Kochen – einen Blick auf die Uhr erwarten. Es gibt auch ein kleines Plastikmodell mit Zeigern auf dem Zulauf zur Kühlwanne – ein präziser Zeitmesser sieht allerdings anders aus. „Die habe ich nur angebracht, um zu wissen, wie spät es ist“, sagt Reinhart-van Gülpen. „Beim Rösten verlasse ich mich ganz auf mein Gefühl, auf Augen, Ohren und Nase.“ Und auf sein Werkzeug. Denn wie ein Koch das Wärmeverhalten einer gut eingebrannten Eisenpfanne kennt, so weiß der Röstmeister, wie die Probat auf unterschiedliche Kaffeemengen und  veränderte Flammenzahl reagiert. Schließlich kennt er sie schon sein ganzes Leben. 1939 gebaut, ist sie zehn Jahre älter als er selbst und tat von Anfang an hier im Familienbetrieb ihren Dienst. Sie hat den Bombenhagel der Alliierten überlebt, obwohl sie dabei aus dem vierten Stock gefallen ist. Und sie hat nie eine Modernisierung gebraucht, bis auf eine Kleinigkeit: Seit den Siebzigerjahren wird sie per Piezo-Zündung gestartet, nicht mehr mit einer Papierlunte. 

Nach fünf Minuten, die Temperatur ist inzwischen wieder deutlich gestiegen, greift Reinhart-van Gülpen erstmals zum Probenzieher. Mit dem stabförmigen Löffel lassen sich Bohnen im laufenden Röstprozess aus der Trommel entnehmen, begutachten und wieder zurückgeben. Sie sind nun nicht mehr grün, sondern gelblich. Drei Minuten später haben sie erste Bräune angenommen. Reinhartvan Gülpen führt sie zur Nase. „Sie riechen schon leicht angeröstet. Nicht mehr lange, dann brechen sie auf.“ Und tatsächlich ist kurz darauf Prasseln und Knistern aus der Trommel zu vernehmen, die Summe jedes einzelnen Knackens einer Bohne. 

Lebensmittelchemiker wissen, was da passiert. Sie haben die Vorgänge beim Kaffeerösten bis ins Detail entschlüsselt: Ab einer Temperatur von 100 Grad zerfallen Kohlenhydrate und Proteine, bilden bei der „Maillard-Reaktion“ die typischen Röstaromen und färben die Bohne dunkel ein. Außerdem verdampft durch Erreichen des Siedepunktes ein Großteil des im Kaffee gebundenen Wassers. Die Bohne bläht sich auf, verdoppelt im Extremfall ihr Volumen und verliert zugleich bis zu einem Fünftel ihres Gewichts. Ab 180 Grad entstehen Melanoide: dunkle Pigmente, die für weitere Einfärbung sorgen. Gleichzeitig bildet sich Kohlendioxid und drückt mit bis zu 20 Bar gegen die Zellwände der Bohne, lässt sie dann am Längsschnitt, einer Art Sollbruchstelle, aufplatzen. Sind 200 Grad erreicht, treten Kaffee-Öle aus, die der Bohne seidigen Glanz verleihen. Steigt die Temperatur auf mehr als 230 Grad, beginnt die Bohne zu verkohlen. Für sehr dunkle Röstungen, wie sie etwa in Süditalien üblich sind, kann so ein Verbrennungseffekt erwünscht sein. Der Kaffee erhält dann einen kräftig-würzigen, aber auch leicht bitteren Geschmack. Der Emmericher „Royal Special Crema“-Variante würde so viel Hitze nicht bekommen. Sie soll mild bleiben und fruchtig-blumige Noten entwickeln. 

Auf den exakten Zeitpunkt kommt es an

Immer wieder schaut Reinhart-van Gülpen deshalb auf das Thermometer, auf dem die Zahlen springen: 172, 173, 175. Die Wärmezufuhr der alten Probat lässt sich anders als bei ihrer mit zwölf Jahren blutjungen Schwester nicht stufenlos regeln – so als hätte ein Haushaltsbackofen nur die Einstellungen warm, mittel und heiß. „Wenn ich jetzt, ohne weitere Brenner einzuschalten, die Bohnen richtig durchröste und die gewünschte Färbung erreiche“, sagt Reinhart-van Gülpen, „dann wäre das maximale Schonung.“ Dass gerade für Espresso eine lange Röstzeit nötig ist, hat mit seiner Zubereitungsart zu tun: Wenn Wasser unter hohem Druck durch Kaffeemehl schießt, lösen sich die in der Bohne enthaltenen Säuren stärker als bei Kaffee, der gefiltert wird – und landen in der Tasse. Weil beim Rösten Säuren kontinuierlich abgebaut werden, lässt sich ihre Konzentration durch lange Röstzeiten verringern. 

Nach 15 Minuten ist das Ziel fast erreicht. Für den Besucher sehen die bronzefarbenen Bohnen, die der Röstmeister nun aus der Trommel zieht, genau richtig aus, nicht zu hell und nicht zu dunkel – so wie die vorher gezeigten Musterbohnen. Aber der Röstmeister ist noch nicht zufrieden: „Die krieg’ ich noch gleichmäßiger.“ Im Halbminutentakt zieht er jetzt Proben, schaut, steckt den Stab zurück in den Röstbehälter. Viele Tausend Male hat Reinhart-van Gülpen diese Endphase einer Röstung schon erlebt, und doch sieht plötzlich nichts mehr nach Routine aus, fast hektisch wirken seine Bewegungen. Als er eine Probe nicht mehr in die Hitze zurückschickt und abrupt das Gas stoppt, ist es geschafft. Der Kaffee ist fertig – denkt der Besucher. 

Tatsächlich muss er noch gekühlt werden, und zwar schnell, damit er nicht innerlich nachbrennt und das perfekte Timing des Röstmeisters zunichte macht. Reinhartvan Gülpen öffnet dafür die Auslaufklappe und lässt das Röstgut in ein rundes Sieb-Becken ab, wo es von einem Rührwerk gelockert wird. Von unten bläst kalte Luft auf die heißen Bohnen, warme wird nach oben abgesaugt. Binnen drei bis vier Minuten haben die Bohnen so viel Temperatur verloren, dass man sie in die Hand nehmen kann. „Nun müssen sie noch 12 bis 15 Stunden ausgasen und zur Ruhe kommen“, sagt Reinhart-van Gülpen, „erst dann haben sie ihr volles Potenzial entfaltet.“ 

Wie überall ist auch in diesem Metier Handarbeit teuer. Die Emmericher Spezialitäten kosten das Doppelte bis Dreifache dessen, was die Industrie für einen sehr guten Kaffee im Handel verlangt. Rösten in Massen erfordert ganz andere Volumina. In Großröstereien laufen die Maschinen Tag und Nacht. Eingesetzt werden meist sogenannte Heißluftröster, die in kurzer Zeit viel Hitze an die Bohne bringen. Wo die Kleinröster bis zu 20 Minuten für eine Charge brauchen, wird Filterkaffee hier in 90 bis 150 Sekunden geröstet; die Zeiten für Espresso liegen zwischen fünf und acht Minuten. Aber auch wenn die Bohne in der riesigen Anlage gedeiht: Über die optimale Qualität entscheidet auch in der Großrösterei die Expertise eines erfahrenen Röstmeisters. Er schaut, schnuppert, entnimmt Stichproben und kontrolliert permanent Farbwerte, um zu sehen, ob die Anlage perfekt eingestellt ist oder justiert werden muss.

Auch in einer Manufaktur wie Lensing & van Gülpen geht es angesichts einer wachsenden Gemeinde von KaffeeGourmets längst nicht mehr so gemütlich zu wie früher. „Vor einigen Jahren haben wir noch von jeder Charge in aller Ruhe einen Probekaffee getrunken. Dafür fehlt heute die Zeit.“ Alex Reinhart-van Gülpen hat inzwischen die kleine Probat angeworfen, als Nächstes sind zehn Kilo der dicken Maragogype-Bohnen dran. Und auch wenn Mensch und Maschine nun schon so oft miteinander warm werden mussten: Sie scheinen noch immer richtig heiß zu sein auf die nächste Röstung.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.