Durchs Nadelöhr

Wer eine Tasse Kaffee trinkt, genießt fast immer auch ein Stückchen Hamburg. 
Der Hafen der Hansestadt gilt als Europas wichtigster Umschlagplatz für Rohkaffee.




Sie hatte am 10. Dezember im tropisch-schwülenSantos abgelegt, war von Brasilien aus mehr als zweiWochen lang über Rio de Janeiro, Tanger und Rotterdamin Richtung Norden geschippert, um schließlich am Morgen des 29. Dezember bei eisigen Temperaturen in die Elbmündung einzubiegen. Jetzt ruht ihr grauer Stahlkörper träge am Hamburger Burchardkai. Ein rauer Winterwind fegt die Elbe hinauf, während Arbeiter derHamburger Hafen und Logistik AG die 246 Meter lange „Autumn E“ von ihrer Fracht befreien. Container für Container schwebt ihre Ladung hinüber aufs nasse Asphaltpflaster, wobei der Frachter jedes Mal, wenneiner der stelzenbeinigen Kräne einen Container von seinem Deck pflückt, den Rumpf ein paar Zentimeter zuheben scheint. Mit an Bord: 20 Container mit feinstembrasilianischem Arabica-Kaffee, die ein paar Kilometerweiter bereits sehnlichst erwartet werden.

Mit fast einer Million Tonnen Rohkaffee, die Jahr für Jahr in Hamburgs Hafen umgeschlagen wird, ist die Hansestadt so etwas wie der wichtigste Coffeeshop des Kontinents. Gleich einem durchtrainierten Sportlerherzen, das im Sekundentakt Adrenalin durch die Adern desmenschlichen Körpers schickt, pumpt die Stadt Kaffeebis in die hintersten Winkel Europas. Schon im 17. Jahrhundert kamen hier die ersten Kaffeebohnen aus arabischen Provenienzen an, im Jahre 1677 – und damit achtJahre vor Wien! – öffnete in Hamburg das erste Kaffeehaus. Eine zweite Kaffeeblüte erlebte die Hansestadt mitdem Bau der Speicherstadt ab 1885, die nicht nur eineneigenen Block für den Kaffeehandel, sondern auch eineder weltweit ersten Kaffeebörsen beherbergte. Heute werden über den Hamburger Hafen 500 Millionen Kaffeetrinker in Skandinavien, Osteuropa und Deutschlandmit Nachschub versorgt – eine logistische Meisterleistung, bei der nichts mehr an Quartiersleute und Kaufmannsgemütlichkeit, dafür umso mehr an einen nervösen Wettlauf gegen die Zeit erinnert.

Wenige Stunden nachdem die 20 Container Brasilkaffee am Burchardkai abgestellt wurden, sind sie bereits wieder von Sattelschleppern geschultert. Zwanzig Minutenspäter rollen sie auf die Lkw-Waage der NKG Kala Hamburg GmbH im Hamburger Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg. Die NKG Kala (für „Kaffeelagerei“) ist ein Unternehmen der hanseatischen Neumann Kaffee Gruppe, dieetwa ein Siebtel des weltweiten Kaffeeumschlags besorgt. Ihr hochmoderner Kaffeespeicher im HamburgerHafen ist ein Hochleistungswerk, das tagtäglich Hunderte Tonnen Rohkaffee aus aller Welt einsaugt, verarbeitet und just in time wieder ausspuckt – falls EdisonPecani sie durchlässt.

Strenge Qualitätsprüfung

Pecani ist Hafenlogistiker bei der NKG Kala und derErste, der an der sogenannten Prüframpe des Kaffeespeichers die Container in Empfang nimmt. Nachdem erZustand und Ladepapiere überprüft hat, durchtrennt ermit einem Bolzenschneider ihre Versiegelung und öffnet die quietschenden, schweren Stahltüren. Zum Vorschein kommt ein einziger riesiger schneeweißer Kunststoffsack, der den Container ausfüllt und randvoll mit Kaffee ist oder besser wohl: sein sollte. „Wir hatten hier auch schon einen Container, in dem statt Kaffee 20 Tonnenfeinster kenianischer Strandsand steckten“, erinnertsich Pecani. „Irgendwer muss auf dem Weg zu uns die Ladung ausgetauscht haben.“ Der Coup dürfte sich gelohnt haben: 20 Tonnen Rohkaffee haben einen Wertvon rund 50.000 Dollar.

Mit dem sogenannten Probenstecher, einer hohlen metallenen Lanze mit angeschärfter Spitze, durchstößt Pecani das Kunststoff-Inlet und entnimmt der Ladungeine Stichprobe (tatsächlich stammt der Begriff „Stichprobe“ aus der Sprache der Quartiersleute). Mit zwei Handvoll des graugrünen Rohkaffees unter der Nasenimmt er einen tiefen Atemzug („Am Geruch erkennen wir bereits Sorte und Provenienz und auch, ob er im Übermaß mit chemischen Fremdstoffen in Berührung gekommen ist“), untersucht die Probe unter dem gleißenden Licht eines Leuchttisches auf Wurmstiche undmisst ihren Feuchtigkeitsgrad. 

Wenn die Probe den Qualitätskriterien der Kala-Kunden entspricht – und das ist bei rund 95 Prozent aller Lieferungen der Fall –, ist Pecanis Hand die letzte, die die Ladung berührt. Von jetzt an werden die Bohnen vollautomatisch sortiert, gereinigt und über ein kilometerlanges Pipeline-System transportiert. Gesteuert wird das Ganze von Technikern in einem Kontrollraum, der mit Dutzenden Kameramonitoren, Bildschirmen und Großrechnern eher an die Kommandozentrale eines Kraftwerks denn an ein Lagerhaus erinnert.

Lückenlose Dokumentation

Zunächst aber dirigiert Pecani den Container zur Entladerampe. Dort wird er angekippt, sein schützender Innensack aufgeschlitzt und der Inhalt in einen ebenerdigenTrichter entleert. Im Inneren des Gebäudes befreienSauganlagen die Ladung von Staub (jede Woche liefertdie NKG Kala etwa vier Container gepressten Staub an die Hamburger Müllverbrennungsanlagen), in einemSchüttelsieb werden Fremdkörper wie Zeitungsschnipsel, Kaffeestrauchzweige, Bindfäden und Steine aussortiert. Vor allem Letztere sind im Zeitalter der KaffeeVollautomaten ein gravierendes Problem: Ein einzigesSteinchen genügt, um ihre filigranen Mahlwerke außerGefecht zu setzen. 

Weil aber ein Schüttelsieb nicht zwischen Bohnen undähnlich großen Steinchen zu unterscheiden vermag,haben Techniker der NKG Kala gemeinsam mit Kaffeeröstern und Maschinenherstellern eine neuartige Maschineentwickelt, die unter Ausnutzung der Gravitationskraftdie einen von den anderen trennt. „Ohnehin wird die Ladung und ihr Weg exakt dokumentiert“, sagt Pecani. „Sollte irgendein Kaffeetrinker in Kopenhagen oder Kattowitz ein Problem mit seinem Kaffee melden, könnten wir binnen einer halben Stunde genau sagen, woher die Lieferung kam.“ Jetzt verschwinden die Bohnen aber erst einmal im Speicher der NKG Kala. 

Dieses silbrig-graue zehnstöckige Hochhaus, in dessen 331 Silos 35.000 Tonnen Rohkaffee Platz finden, ist so etwas wie Deutschlands größter Kaffeebauch. Im Schnitthat jede zweite Kaffeebohne, die hierzulande gemahlen, aufgebrüht und getrunken wird, zuvor seine Innereiendurchlaufen. Dabei ist das Hochhaus eigentlich ein Nadelöhr, erklärt Günter Brockhaus. Brockhaus ist 60 Jahre alt, studierter Volkswirt und ehemaliger Banker mit Tweedsakko und randloser Brille. Als Manager der Neumann Kaffee Gruppe hat er in den vergangenen 25 Jahren weltweit das Kaffeegeschäft mitgesteuert und Plantagen aufgebaut. Heute, als Leiter von Europasgrößter Kaffeelagerei, ist er so etwas wie ein später Nachfolger der klassischen hanseatischen Quartiersleute. „Kaffee“, sagt Brockhaus, „ist inzwischen zwar das nach Rohöl weltweit wichtigste Handelsgut. Und doch sind Warenfluss und Verfügbarkeiten mitunter genauso unberechenbar wie vor hundert Jahren.“

Genau wie seine historischen Vorgänger steht Brockhaus nämlich am Ende einer globalen Sammelbewegung, die irgendwo auf einer Farm im äthiopischen Hochland, dem sandigen Hof einer kolumbianischen Kooperative oder der abgelegenen Plantage eines vietnamesischen Kleinbauern beginnt. Von dort wird der Rohkaffee hinunter in die Hafenstädte gebracht, oft über holprige Pässe, bevor man ihn im Bauch eines Schiffes verstaut. Wie zu Zeiten der Frachtsegler und Kolonialmächte hängt es noch immer von Wind und Wetter, Verkehrsdichte und der Sicherheit auf internationalen Schifffahrtsrouten ab, ob und wann ihre Orders die Hansestadt erreichen. Sowartet Günter Brockhaus noch heute auf mehrere Container mit Kaffee, die statt in seinem Silo in den Händensomalischer Piraten landeten. „Ob eine avisierte Ladunguns wie geplant erreicht, wissen wir erst wirklich, wenndas Schiff in die Elbmündung einbiegt“, sagt der 60-Jährige und zuckt mit den Schultern. 

In jenem Moment aber, wenn die Ladung aus einem der etwa 60 Kaffee-Lieferländer auf den Betriebshof der NKG Kala rollt, verwandelt sich das hochbegehrteWeltprodukt in einen Rohstoff, der vollelektronisch verarbeitet und gewogen, nach streng standardisierten Qualitätsmaßstäben sortiert und in allerhöchster Hektikgehandelt wird. Denn auf der anderen Seite des Nadelöhrs warten bereits die Kunden, darunter alle großen Kaffeefirmen. Deren Röstereien und Lieferketten sind soeng getaktet, dass Brockhaus ihnen den Rohkaffee viertelstundengenau anliefern muss. Das macht die Sacheso nervenaufreibend. Die Feiertage vor Ankunft der „Autumn E“ haben Brockhaus und seine Leute daherwieder einmal durchgearbeitet, am ersten Weihnachtstag hatten sie ausnahmsweise frei, am zweiten ging es in Wilhelmsburg bereits wieder rund. „Eigentlich“,sagt Brockhaus, „bleibt uns ziemlich häufig nichts als Troubleshooting.“ 

Jahrhundertealte Tradition 

Wie vergleichsweise gemächlich das Geschäft mit dem Kaffee dagegen früher ablief, wird auf der anderen Seite der Elbe anschaulich. Rund zehn Kilometer von Brockhaus’ Nadelöhr entfernt, steht der Besucher im liebevollgemachten Hamburger Speicherstadtmuseum vor romantischen Erinnerungsstücken des frühen Hamburger Kaffee-Booms. Blickt auf die sepiabraunen Fotos von Pferdefuhrwerken und Quartiersleuten mit Schiebermützen und weißen Schürzen, die im Auftrag der KaufleuteKaffee in der Hamburger Speicherstadt einlagerten. Schließt die Hand um alte Probenstecher und dornengespickte Griepen, mit denen früher Kaffeesäcke gegriffen und auf Sackkarren geworfen wurden. Und erfährt von Ralf Lange, dem Kurator des Museums, dass es vor allem die „guten Verbindungen der Hamburger Kaufleute und ihre Wendigkeit“ waren, denen Hamburg seine Stellung als europäische Kaffeehauptstadt verdankt. 

Als sich nämlich Anfang des 19. Jahrhunderts die Kaffeegroßmacht Brasilien von ihrer Kolonialmacht abnabelte, sprangen hanseatische Kaufleute blitzschnell in die Lücke, die die Portugiesen hinterlassen hatten. „Die Hamburger verfügten einerseits über exzellente Verbindungen nach Lateinamerika und belieferten andererseits schon damals ganz Deutschland, Skandinavien und Nordosteuropa mit Waren aus den ehemaligen Kolonien“, sagt Lange. Mit ihrem Großmarkt im Hinterhof und stetem Nachschub aus Südamerika wurden aus hanseatischen „Pfeffersäcken“ schnell kapitale Kaffeekönige.Viele investierten in Lagerbetriebe und sogar eigenePlantagen in Übersee. 

Auch bei der Verarbeitung des „braunen Goldes“ setztedie Hansestadt Maßstäbe. Als Anfang der 1880er-Jahre die Hamburger Speicherstadt geplant wurde, konnten die Kaufleute bereits einen eigenen, ausschließlich dem Kaffeehandel und -lagern vorbehaltenen Abschnitt für sich reklamieren. Kernstück der Block O genannten Koffein-Meile war die 1887 eröffnete Hamburger Kaffeebörse, an der – als dritte Warenterminbörse für Rohkaffee nach New York und Le Havre – fortan tagtäglich dieWeltmarktpreise mitbestimmt und immer größere Mengen gehandelt wurden. „Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lagerte in Hamburg die gewaltige Menge von zwei Millionen Sack Kaffee“, berichtet Lange, „im konkurrierenden Antwerpen hingegen war es zu diesem Zeitpunktnur etwa die Hälfte.“

Hochmoderne Neuzeit

Mit Kriegsausbruch ging der Hamburger Kaffee-Boom zu Ende. Erst beschlagnahmte man einen Teil des Kaffees für Heer und Marine, dann vernichteten Krieg, Inflationund Weltwirtschaftskrise Vermögen und Absatzmärkte. Zu guter Letzt setzten im Zweiten Weltkrieg britische Fliegerbomben einen Teil von Block O samt Kaffeebörse in Brand. Mit der Nachkriegsteilung Europas brach den Hamburgern auch noch der osteuropäische Absatzmarktweg, während auf ihrem Heimatmarkt exorbitante Steuern und Zölle Kaffee zum Luxusgut verteuerten. Für einKilo kolumbianischen Rohkaffee – das ist auf einer historischen Quittung im Speicherstadtmuseum nachzulesen – waren im Jahr 1950 zehn Mark zuzüglich zwölf Mark Steuern, Zölle und Ausgleichsabgaben fällig.

In den Sechzigerjahren setzte das ein, was Wirtschaftswissenschaftler Strukturwandel nennen: Supermärkteverdrängten die Tante-Emma-Läden, Großröstereien die zahlreichen kleinen Kaffeeröster. Im Hamburger Hafenwiederum verloren die Quartiersleute, die in den dunklen Speicherstadtböden mit Sackkarre und Griepen hantierten, den Wettbewerb gegen Groß-Logistiker mit Gabelstaplern und klimatisierten Lagerhäusern. Gegen Mitteder Neunzigerjahre wurde in der Speicherstadt derletzte Sack Kaffee eingelagert. Auch die NKG Kala schaute sich Anfang der Nullerjahre nach einem neuen Standort um, denn an ihrem Stammplatz begann seit 2003 die Hafencity emporzuwachsen.Heute steht am Grasbrook, wo früher Arbeiter die Säckestapelten, ein schickes Bürohochhaus namens „CoffeePlaza“, von dem aus die Holding-Mutter ihre weltweitenGeschäfte lenkt.

Die Kaffeelagerei hingegen zog ins weniger schicke Wilhelmsburg und in einen hochmodernen Kaffeepeichermit eigenem Bahnanschluss. Mit seinen rund 70 Mitarbeitern kann Günter Brockhaus – „Bro“, wie ihn die Kollegen nennen – hier mehr als ein Drittel des gesamtendeutschen Kaffeeimports bewegen. Statt wie frühermehrere Wochen lagern die Bohnen mittlerweile meistnur noch wenige Tage. Aus Brasilien kommt inzwischennicht nur einmal, sondern viermal pro Woche ein Schiffmit Kaffee. Und aus dem einstigen Lagergeschäft ist ein umfassendes Dienstleistungangebot rund um die begehrte Bohne geworden. Dank entsprechender Zertifizierungen darf Günter Brockhaus heute auch Bio- undFairtrade- oder Halal- und koschere Kaffees verarbeiten.Und obwohl gerade erst sechs Jahre alt, platzt sein Speicher bereits aus allen Nähten.

Das klingt überraschend, gelten die Märkte West- undNordeuropas inzwischen doch als weitgehend kaffeesatt.Da trifft es sich gut, dass Chinesen, Russen und Osteuropäer den Kaffeegenuss zusehends für sich entdecken.Nach Brockhaus’ Schätzungen dürfte der Welt-Kaffeedurst künftig Jahr für Jahr um zwei Prozent zulegen.Teetrinker werden zu Kaffeetrinkern. Der Osten wird koffeiniert. Und das Nadelöhr im Hamburger Hafen wird noch einmal ein Stückchen enger.

Speicherstadtmuseum Hamburg
Am Sandtorkai 36
20457 Hamburg

Öffnungszeiten 1. April bis 31. Oktober:
Mo bis Fr 10 bis 17 Uhr
Sa, So und Feiertage 10 bis 18 Uhr
Öffnungszeiten 1. November bis 31. März:
Di bis So 10 bis 17 Uhr


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.