„Das ist keine heile Welt“

Professor Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über medizinische Studien in Schwellenländern, Pharma-Skandale und das unterschiedliche Körpergewicht von Deutschen und Indern.




Herr Professor Broich, wir wollen über Transparenz und ethische Standards in der Pharmaindustrie sprechen. Fast hätte ich unser Gespräch wegen eines Hexenschusses absagen müssen, aber dank eines Medikaments – dem Antirheumatikum Arcoxia – sitzen wir jetzt doch hier. Kann ich davon ausgehen, dass mein Medikament auf ethisch einwandfreie Weise getestet wurde?

Broich: Ja, das können Sie. Damit Arzneimittel bei uns zugelassen werden, müssen die in Europa gültigen Standards eingehalten worden sein, selbst wenn ein Teil der klinischen Studien in anderen Ländern durchgeführt wurde.

Die Pharmabranche erlebt derzeit eine ähnliche Entwicklung wie viele andere Industrien: Medikamente werden häufig in kostengünstigen Schwellenländern in Asien oder Südamerika getestet. Warum sollte es bei Arzneimittelstudien ethischer zugehen als in Sweatshops für Hemden oder Schuhe?

Natürlich beobachten wir diese Entwicklung genau und nicht ohne Sorge. Das hat mit den ethischen Standards ebenso zu tun wie mit den wissenschaftlichen, denn Studienergebnisse aus Asien sind nicht immer ohne Weiteres auf Europa übertragbar. Aber weil uns die Herausforderungen bewusst sind, prüfen wir mit Blick auf die Patientensicherheit sehr genau und arbeiten eng mit anderen Ländern zusammen.

Kann ich als Verbraucher nachvollziehen, wo und wie mein Medikament getestet worden ist?

Bisher ging das nicht ohne Weiteres, aber neuerdings haben wir gesetzliche Rege­ lungen, die genau das ermöglichen. Pharmakonzerne müssen jetzt innerhalb von sechs Monaten nach der Zulassung eines Medikaments alle klinischen Studien in einer Datenbank veröffentlichen. Dort kann jeder einsehen, wo die Tests gemacht wurden, wie viele Patienten teilgenommen haben, nach welchen Kriterien getestet wurde und wie die Ergebnisse waren. Das ist ein großer Fortschritt, um Transpa­ renz und Vertrauen zu schaffen.

Das ist auch nötig, denn dass sich Schwellenländer wie Indien, China, Russland und Brasilien als Pharmastandorte etablieren, ist vielen Verbrauchern nicht geheuer. Immer wieder gibt es Berichte über Arzneimittel-Skandale. Warum geht die Pharmaindustrie dieses Risiko ein?

In den Schwellenländern entstehen derzeit große neue Märkte. Die pharmazeutische Industrie investiert natürlich dort, wo das größte Wachstum ist. Wirkstoffe werden heute schon überwiegend in Asien produziert.

Länder wie Indien und China knüpfen die Zulassung von Medikamenten an die Bedingung, dass auch ein Teil der klinischen Tests in ihren Ländern stattfindet. In westlichen Gesellschaften wird es schwieriger, Menschen für Tests zu gewinnen. Menschenrechtsgruppierungen sprechen von „Pharmakolonialismus“. Ist das angemessen?

Nein, das hat mit der Realität wenig zu tun. Zunächst einmal sind die USA und Europa noch immer die größten Märkte der Pharmaindustrie, und viele Tests wer­ den nach wie vor hier gemacht. Das verlangen wir als Zulassungsbehörde auch, denn um eine Arzneimitteltherapie beurteilen zu können, müssen wir natürlich sicher sein, dass sie auch bei unserer Bevölkerung wirksam ist.

Funktioniert der menschliche Körper nicht überall gleich?

Im Prinzip ja, aber trotzdem gibt es Unterschiede. Zum Beispiel das Gewicht: Ein Inder ist im Durchschnitt viel leichter als ein Deutscher. Auch Ernährungsgewohnheiten oder andere Behandlungsbedingungen spielen eine Rolle. Schon zwischen Patienten in den USA und Deutschland können erhebliche Unterschiede auftauchen.

Zum Beispiel?

Für Fibromyalgie, eine sehr schmerzhafte Erkrankung des Muskel­ und Skelett­ systems, sind in den USA Medikamente auf dem Markt, die wir in Europa nicht zugelassen haben. Denn als wir uns die Ergebnisse der klinischen Studien genau angeschaut haben, stellte sich heraus, dass die Tests von US­Patienten dominiert wurden. Bei denen konnte man eine positive Wirksamkeit nachweisen, bei euro­ päischen Patienten dagegen nicht. Unsere Abwägung von Nutzen und Risiken für europäische und deutsche Patienten war deshalb negativ.

Wenn immer weniger Amerikaner und Europäer an Testreihen teilnehmen, werden solche Unterschiede in Zukunft vielleicht gar nicht mehr auffallen.

Bisher sind bei uns zum Glück noch genügend Patienten zu Studien bereit. Aber wir müssen daran arbeiten, dass das so bleibt. Dafür muss man Patienten erklären, wo der Nutzen von medizinischen Anwendungstests liegt, nicht nur für die Allge­ meinheit, sondern auch für sie selbst. Sie haben die Chance, eine neue, bessere Behandlung zu bekommen. Und unsere Sicherheitsstandards sind so hoch, dass dabei niemand ein großes Risiko eingeht.

Sehr sicher heißt allerdings auch sehr teuer. In Schwellenländern sollen die Kosten für Testreihen rund 40 Prozent niedriger sein. Bei drei- bis sogar vierstelligen Millionenbeträgen, die in die Entwicklung eines neuen Medikaments fließen können, bedeutet das enorme Ersparnisse.

Dass man in Asien oder Südamerika viel preiswerter testen kann, liegt auf der Hand. Deswegen werden etwa Tests für Generika inzwischen überwiegend in Schwellenländern gemacht. Denn da geht es nicht mehr um die primäre klinische Wirksamkeit, sondern um die Frage, ob Wirkstoff A genauso verstoffwechselt wird wie Wirkstoff B.

Das bringt uns zurück zu den ethischen Standards. Zulassungsstudien sind heute weltweite Unternehmungen mit gewaltigen Budgets und Dutzenden Dienstleistern. Gibt es da nicht jede Menge Möglichkeiten für Korruption und Manipulation? Gerade weil es um viel Geld geht, haben die pharmazeutischen Unternehmen ein hohes Eigeninteresse, unsere strengen Zulassungsanforderungen zu erfüllen. Dazu gehören einerseits die wissenschaftlichen Standards, etwa die richtige Auswahl von Patienten und Beurteilungsinstrumenten für die jeweiligen Krankheitsbilder, und andererseits die Einhaltung der ethischen Standards, die in der Deklaration von Helsinki festgehalten sind.

Die Deklaration von Helsinki schreibt vor, dass im besten Interesse der Testpatienten gehandelt und diese über mögliche Risiken adäquat aufgeklärt werden müssen.

Ist das in Ländern wie Indien, wo viele Menschen Analphabeten sind, überhaupt zu gewährleisten?

Ja, das muss in jedem Fall sichergestellt sein. Die World Medical Association passt die Deklaration von Helsinki auch immer weiter an, um diesen Umständen Rech­ nung zu tragen. Medikamente kommen bei uns nur nach einer intensiven Prüfung durch die Zulassungsbehörde und eine Ethikkommission auf den Markt.

Wie muss ich mir das vorstellen? Ein Wirkstoff wird im Labor eines Pharmaunternehmens entwickelt, beispielsweise in Deutschland. Dann wird er in aller Welt getestet, und nach mehreren Jahren liegt beim BfArM ein riesiger Stapel mit Unterlagen in der Post. Wie können Sie nachvollziehen, was auf dem Weg dorthin alles passiert ist?

Wir sehen die Studien nicht erst am Ende, sondern begleiten sie von Anfang an. Jede Testreihe wird von uns oder einer anderen nationalen Behörde genehmigt. Und unsere Prüfer können den Verlauf vor Ort kontrollieren.

Wie häufig finden Sie Regelverstöße?

Das ist keine absolute Ausnahme. Kleinere Probleme gibt es häufiger, zum Beispiel falsch geführte Protokolle. Das kann dann zum Abbruch einer Studie führen. Tatsächliche Fälschungen, etwa erfundene Patienten, sind aber sehr selten.

Wie viele Prüfanträge bearbeitet das BfArM im Jahr?

In den vergangenen zehn Jahren sind in Deutschland mehr als 10.000 Studien durch­ geführt worden. Damit ist Deutschland eines der aktivsten Länder in der Durchführung klinischer Studien. Für uns im BfArM heißt das um die 1000 Anträge zu neuen und 800 bis 900 Sicherheitsberichte aus laufenden Prüfungen pro Jahr.

Wie viele Prüfer haben Sie dafür?

Etwa 30.

30 Prüfer für fast 2000 Anträge und Sicherheitsberichte? Und da soll man sich keine Sorgen machen?

Wir wünschen uns durchaus Verstärkung. Die Studien werden regional komplexer, deshalb werden auch die Inspektionen immer aufwendiger. Da müssen wir in der Tat hinterher sein, das ist keine heile Welt.

Sie brauchen also mehr Personal.

Das wäre das eine – und das gilt eigentlich für alle europäischen Behörden. Das andere ist, dass wir uns wünschen, dass klinische Prüfungen wieder verstärkt in Europa durchgeführt und nicht weiter verlagert werden. Wir haben hier sehr hohe Standards, die wir schützen sollten.

Der Wunsch, dass Arbeit zurück in die teuren Industrienationen verlagert wird, hat sich bisher in keiner Branche erfüllt. Um die Standards global zu sichern, müssen die Schwellenländer am gleichen Strang ziehen. Wie gut ist die Zusammenarbeit?

Mit den westlichen Behörden und der WHO arbeiten wir schon lange sehr eng zusammen. Mit den Schwellenländern bauen wir das gerade aus. Vergangenes Jahr hat es ein Abkommen mit Brasilien gegeben, auch nach China haben wir viele Kontakte. Wenig Austausch gibt es bisher leider mit Indien, aber über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) treiben wir auch das gerade voran.

Indien stand in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, zum Beispiel wegen eines Impfskandals der gemeinnützigen Organisation Path. Die hat 2009 mit Geld der Bill und Melinda Gates Stiftung eine Beobachtungsstudie gestartet, bei der Tausende Mädchen gegen die Gebärmutterhalskrebs verursachenden Papillomaviren geimpft wurden. Sieben Probandinnen starben, und obwohl kein direkter Zusammenhang zu der Impfung hergestellt werden konnte, kam heraus, dass Ärzte und Behörden ethi- sche Richtlinien grob missachtet hatten. Die minderjährigen Mädchen wurden etwa ohne Zustimmung ihrer Eltern geimpft. Ist es da nicht verständlich, dass Menschen- rechtsorganisationen Alarm auslösen?

Doch, das ist natürlich ein Skandal. So etwas darf einfach nicht passieren.

Indiens Regierung hat nie einen vollständigen Untersuchungsbericht vorgelegt, angeblich aus Angst um den Ruf des „Pharmastandorts Indien“. Internationale Medizinkonzerne investieren dort besonders gern, weil es gut ausgebildete, Englisch sprechende Ärzte gibt und viele Millionen Menschen, die für sehr wenig Geld zu Studien bereit sind.

Natürlich sind sich auch die großen Pharmaunternehmen dieser Probleme be­ wusst. Sie haben deshalb eigene Auditoren, die ihre Studien genau überwachen und dokumentieren. Aber das Vertrauen, das durch solche Skandale verspielt wird, lässt sich nur schwer zurückgewinnen.

Was lässt sich daraus lernen?

Dass es gut ist, dass wir in Europa strenge Regelungen haben. Unser Arzneimittel­ recht ist auch aus Fehlern entstanden, etwa dem Contergan­Skandal. Auf unsere heutigen Standards können wir sehr stolz sein, deswegen müssen wir dafür sorgen, dass sie eingehalten werden.

Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft blicken: Was wäre Ihr Wunschszenario?

Volle Transparenz bei der Durchführung und Auswertung klinischer Studien nach unseren wissenschaftlichen und ethischen Prinzipien und ein weltweit funktionie­ rendes Netzwerk von Inspektoren der unterschiedlichen Behörden, die sich eng austauschen und sicherstellen, dass unsere hohen Standards überall eingehalten werden.

Was ist Ihre Horrorvorstellung?

Dass klinische Prüfungen nur noch an den kostengünstigsten Standorten durchgeführt werden.

Und was ist realistisch?

Wie immer wird die Realität am Ende dazwischenliegen. Deshalb engagieren wir uns so sehr, damit unsere Patienten auch in Zukunft auf Wirksamkeit und Sicher­ heit gut geprüfte Arzneimittel erhalten. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.