Da geht besser
Herr Professor Henze, noch vor 40 Jahren starben neun von zehn leukämiekranken Kindern, heute liegen ihre Heilungschancen bei mehr als 80 Prozent. Hat die Diagnose Krebs ihren Schrecken verloren?
Ein Erfolg der Pharmaforschung?
Wie war das möglich?
Warum konnten Sie nicht einfach von bekannten Größen und bewährten Verfahren für Erwachsene ausgehen? Die Dosierungen für Kinder ließen sich doch kalkulieren.
Aber klinische Studien mit Kindern sind heikel. Zu Recht. Schließlich können die Patienten nicht selbst entscheiden und ihre Einwilligung zu Tests erteilen.
Führen Sie die enormen Fortschritte bei den Heilungserfolgen auf diese Studien zurück?
Absolut. Wir haben in Deutschland mehr als 90 Prozent der Kinder im Rahmen von klinischen Studien behandelt, was weltweit übrigens ziemlich einmalig ist. Wir haben hierzulande früh eingesehen, dass der einzelne Arzt nicht viel ausrichten kann, weil er aufgrund der geringen Patientenzahlen zu wenig fundierte Erkenntnisse gewinnen kann. 2000 Neuerkrankungen von Kindern und Jugendlichen pro Jahr klingt nach viel, ist für die medizinische Forschung aber sehr wenig. Für wirklich relevante Resultate muss man sich also intensiv austauschen und sehr eng mit Kollegen und anderen Kliniken kooperieren.
Welche Einsichten in neue Therapieformen und Behandlungskonzepte gewinnen Sie über diesen Weg?
Nehmen Sie nur die Spätfolgen von Therapien. Zum Beispiel bei der Behandlung von Morbus Hodgkin, einer bösartigen Erkrankung des Lymphsystems. Wir haben herausgefunden, dass eine Bestrahlung im Brustbereich bei Mädchen im Pu- bertätsalter 30 Jahre später zu einem Brustkrebsrisiko von 30 Prozent führt.
Oder die Schädelbestrahlung bei Leukämiepatienten. Früher galt sie als Meilenstein, weil mit der Bestrahlung überhaupt erst erreicht worden war, dass 30 Prozent der von Leukämie betroffenen Kinder überlebten. Erst später hat man gesehen, dass sie deutlich nachteilige Auswirkungen auf die körperliche und geistige Entwicklung der Patienten hatte – und dass fünf von hundert der behandelten Kinder irgendwann einen Hirntumor entwickelten. Heute ist die Bestrahlung nicht mehr Bestandteil der Therapie.
Wie ist angesichts dieser Erfolge die aktuelle Zurückhaltung zu erklären? Einer europäischen Untersuchung zufolge ist die Zahl der nicht kommerziellen Studien in den vergangenen Jahren um 25 Prozent gesunken.
Ganz einfach: Die Anforderungen an die Durchführung von klinischen Studien sind inzwischen derart gestiegen, dass wir uns den Aufwand immer seltener leisten können. Durch die Direktive, die 2001 im Zuge der Novellierung des Arzneimit- telgesetzes in Kraft getreten ist, haben die administrativen Auflagen ein Ausmaß angenommen, das fast nicht mehr zu bewältigen ist.
Mittlerweile brauchen wir fünf Jahre, um eine Studie überhaupt erst an den Start zu bringen. Mein Kollege, der nach mir die internationale Leukämiestudie leitet, ist hier an der Charité durch ein Stipendium sogar zwei Jahre lang von seiner regulären Arbeit freigestellt worden, um sich aus- schließlich der Planung einer Studie zu widmen. Wie soll das denn funktionieren? Normalerweise machen das die Ober- ärzte und leitenden Ärzte neben ihrer Regelarbeitszeit.
Hinzu kommen die Kosten: Wenn heute im Rahmen einer von der EU finanzierten internationalen Studie Mittel in Höhe von sechs Millionen Euro bereitgestellt werden, fressen allein die vorgeschriebene Administration und die Dokumentationspflichten die Summe mehr oder weniger auf.
War das früher anders?
Die administrativen Hürden von damals sind mit den heuti- gen nicht zu vergleichen. Zudem hat es die Koordinationszentren für klinische Studien nicht gegeben. Das Gros der Studiengelder wandert heute in die Verwaltung – für Arbeiten, die wir früher einfach mitgemacht haben.
Ich persönlich finde es unmöglich, dass Gesetze mit weitreichenden Vorgaben erlassen werden, aber keiner dafür sorgt, dass die zusätzlichen Anforderungen auch finanziert werden. Für die große internationale Studie zur Behandlung von Kindern mit einem Rückfall der Leukämie, die wir aktuell an der Charité durchführen, tritt finanziell neben der EU maßgeblich die Deutsche Kinderkrebsstiftung ein. Die wiede- rum erhält Spenden von der Oma, die in ihren Sparstrumpf langt und fünf Euro beisteuert. So sollte das nicht sein. Meiner Ansicht nach wären die Regierung und die EU hier in der Pflicht, für eine angemessene Finanzierung zu sorgen.
Welche Auswirkung hat die Entwicklung Ihrer Ansicht nach auf die Therapien und den medizinischen Erkenntnisgewinn?
Ich fürchte, das alles wird uns zurückwerfen. Das gesamte System ist fürchterlich schwerfällig geworden. Und wir sehen die Folgen ja jetzt schon: In bestimmten Situationen, in denen es um Fragen geht, die vielleicht als nicht so vordringlich erachtet werden, führt man heute hauptsächlich ein sogenanntes Register anstelle einer Therapieoptimierungsstudie.
Was ist der Unterschied?
Eine Studie verfolgt eine ganz spezifische Fragestellung, ist breit angelegt, sehr aufwendig und vom Erkenntnisgewinn der Wissenschaft zum Wohle der Patienten getrieben. Regis- terstudien dienen eigentlich nur noch dem Sammeln von Pa- tientendaten, eine zentrale Kontrolle findet nicht mehr statt. Auch Referenzuntersuchungen und Konsile, also Fremdgutachten, sind nicht finanziert. Also fließen die Daten auch nicht mehr in die individuelle Behandlung des Patienten zurück.
Es kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu. Wenn Patientendaten lediglich in einem Register gesammelt werden, sagen einige Kliniken: „Uns ist der Meldeaufwand für all die komplizierten Einzelfälle viel zu hoch.“ Schließlich erhalten die Häuser für die Meldungen auch keine Vergütung, so wie es im Rahmen der Teilnahme an einer klinischen Studie üblich ist. Insofern ist zu befürchten, dass mit dem Rückgang der Zahl klinischer Studien das in Deutschland bewährte Prinzip einer flächendeckenden Behandlung entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht aufrechtzuerhalten ist. Und dass damit auch die Behandlungsqualität sinkt.
Aber die gesetzliche Regulierung ist doch keine Schikane. Sie soll helfen, ethische Probleme zu vermeiden. Wo führt die Beteiligung von Kindern an Therapieoptimierungsstudien aus Ihrer Sicht auf fragwürdiges Terrain?
Eine typische und schwierige Situation, mit der wir es in Kliniken zu tun haben, sind Placebo-Studien. Bei klinischen Studien mit Erwachsenen ist es durchaus üblich, die Wirksam- keit von Therapien oder Medikamenten auszutesten, indem man den Behandlungserfolg einer Maßnahme mit dem Erfolg der Verabreichung eines Placebos vergleicht. Wenn Kinder beteiligt sind, ist das kein gangbarer Weg, insbesondere wenn die Placebo-Behandlung mit einer körperlichen Belastung verbunden ist – zum Beispiel mit einer Spritze. Einem Kind im Rahmen einer Studie ein Placebo mit einer Spritze zu ge- ben ist verboten – die damit verbundene physische und psychische Belastung ist ihm nicht zumutbar.
Ein im Grunde noch viel größeres Problem ist jedoch die Verwendung von nicht zugelassenen Medikamenten. Das ist ein echtes Dilemma. Wenn wir unsere Patienten behandeln wollen, müssen wir Medikamente einsetzen, die für diesen Einsatz nicht wirklich sorgfältig geprüft wurden. Immerhin soll sich das jetzt ändern. Vom Gesetzgeber wird ausdrück- lich gefordert, dass Kinder nur noch mit Medikamenten behandelt werden, die für Kinder und die entsprechende Indikation auch geprüft und zugelassen sind. Das setzt allerdings voraus, dass die Medikamente in Zulassungsstudien geprüft werden ...
... und schafft im Zweifel neue Dilemmata. Randomisierte Studien zum Beispiel – also Studien, bei denen Patienten unter Verwendung eines Zufallsmechanismus entweder einer Experimental- oder einer Kontrollgruppe zugeordnet werden – sind vermutlich nicht unproblematisch. Wer will angesichts der ohnehin dürftigen Datenlage schon riskieren, dass kranke Kinder nicht die bestmögliche Therapie erhalten?
Ethische Probleme bestünden jedenfalls dann, wenn sich schon früh herausstellte, dass eine der beiden Gruppen deutlich bessere Ergebnisse erzielt als die andere. Dann müsste die Studie natürlich sofort abgebrochen und allen Beteiligten die bessere Therapie zur Verfügung gestellt werden. Eine ganze Reihe von Kollegen verzichtet deshalb gleich ganz auf randomisierte Studien. Das ist nachvollziehbar, aber auch nicht unproblematisch. Schließlich dienen Studien ja auch dazu, herauszufinden, ob die Verabreichung eines Medikaments im Rahmen der Therapie überhaupt sinnvoll ist – oder überflüssig. Es kann sein, dass einzelne Patienten auf die Arznei gar nicht ansprechen. Wenn wir nun ohne Studie, quasi aus Grün- den der Vorsorge, allen die Behandlung zukommen lassen, richten wir damit möglicherweise auch großen Schaden an.
Dann verabreichen wir heute also auch Medikamente, die im Zweifel eher schaden als nützen, weil sie – über welche Studiendesigns auch immer – in Therapiepläne eingegangen sind?
Dazu kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Wir haben 1990 eine Studie mit leukämiekranken Kindern in Russland begonnen. Damals herrschten dort noch Zustände, in denen ich nicht guten Gewissens intensive und schwer beherrschbare Therapiemaßnahmen empfehlen konnte, wie wir sie in Deutschland seinerzeit praktizierten. Also kombinierten wir weniger riskante Elemente aus Therapieprotokollen, die wir schon aus Publikationen kannten, einfach neu.Wir verzichteten auf einige der uns bekannten Wirkstoffe in hohen Dosen. Und weil die Möglichkeiten für eine gut kontrollierte Strahlentherapie fehlten, haben wir bei der Mehrzahl der Patienten auch keine Bestrahlung des Zentralnervensystems durchgeführt.
Inzwischen haben wir in Russland in fast 50 teilnehmenden Kliniken mehr als 5000 Kinder behandelt – mit fantastischem Ergebnis: Wir haben Überlebensraten von etwa 80 Prozent erzielt! Wenn man die Infrastruktur berücksichtigt, die langen Transportwege und die viel schlechtere medizinische Versorgung auf dem Land, dann ist das ein unglaubli- ches Ergebnis. Praktisch genauso gut wie bei uns. Heißt das, wir hätten uns alle unsere Studien sparen können? Natürlich nicht! Nur weil wir deren Ergebnisse kannten, konnten wir uns dafür entscheiden, auf einzelne etablierte Maßnahmen zu verzichten.
Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.