Ausnahmsweise?

Strenge Gesetze machen Medikamente wirksamer und sicherer. Doch Regeln sind immer nur so gut wie der Umgang mit den Ausnahmen. Patienten mit extrem seltenen Erkrankungen wissen das am besten.




Geduldig und ein wenig schüchtern sitzt Alina* auf dem weißen Tisch im kleinen Behandlungszimmer der Uniklinik Münster. „5,3 Kilo haben wir schon geschafft“, sagt der Vater stolz, obwohl das für ein zweijähriges, 67 Zentimeter großes Mädchen alles andere als ein gesundes Gewicht ist. Aber Alina ist nur auf dem Papier zwei Jahre alt. Sie ist ein Kleinkind mit dem Körper eines Greises. Rot und blau scheinen die Adern durch die dünne Haut des kahlen Schädels, die kleinen Finger sind wie nach langer Gicht gekrümmt, jeder Atemzug scheint ein Kraftakt für den zerbrechlich wirkenden Körper zu sein. Alina hat Progerie, eine Erbkrankheit, die Kinder so schnell altern lässt, dass sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bestenfalls das Teenager-Alter erreichen.
Weltweit leben nur rund 100 Kinder mit Progerie. Für eine so extrem seltene Krankheit stehen die Chancen auf Diagnose oder Heilung besonders schlecht. Weder Forschungsinstitutionen noch Pharmafirmen stecken nennenswerte Ressourcen in ihre Erforschung oder gar in die Entwicklung von Medikamenten. Und das nicht etwa wegen des zu kleinen Marktes: Es finden sich schlicht nicht genug Patienten für aussagekräftige Therapiestudien.
Zwar sind in Deutschland insgesamt etwa vier Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen, doch es sind schätzungsweise 7000 bis 8000 verschiedene, unter denen sie leiden – darunter solche, bei denen nur alle paar Jahre ein Fall diagnostiziert wird. Zu den bekanntesten „Orphan Diseases“, den Waisenkrankheiten, gehört etwa die Mukoviszidose, eine lebensbedrohliche Stoffwechselkrankheit. Obwohl sie mit etwa 8000 Fällen hierzulande deutlich häufiger vorkommt als eine „Ultra Orphan Disease“ wie Progerie, werden selbst diese Patienten mit ihren Leiden weitgehend allein gelassen: Ärzte kennen sich zu wenig aus, die Pharmaindustrie kennt kaum heilende Medikamente, die Krankenkassen übernehmen nicht alle Pflege- oder Therapiekosten. Und die Gesetze, die in Deutschland klinische Studien und den Einsatz von Arzneien definieren, machen kaum Ausnahmen vom strengen Regelwerk. Etwa für den Fall, dass Mediziner zur Behandlung Medikamente einsetzen wollen, die noch nicht zugelassen sind.

Eine unter vier Millionen

Dass irgendetwas nicht stimmt, ahnt Alinas Vater schon kurz nach ihrer Geburt. Die lederartige Haut am Bauch des Säuglings, die kleinen, dünnen Ohrmuscheln, das vogelartig spitze Gesicht mit großer Stirn, schmaler Nase und fliehendem Kinn. Und dann Alinas Mühe, auch nur ein paar Gramm zuzunehmen. Immer wieder muss das Mädchen ins Krankenhaus und per Magensonde ernährt werden. „Keiner konnte uns sagen, was mit ihr los ist“, sagt der Vater. Ratlos googelt er Hunderte von Krankheitsbildern, durchsucht das Netz nach irgendeiner hilfreichen Idee. Dort liest er auch das erste Mal von Progerie. Aber warum sollte ausgerechnet seine Tochter eine Krankheit haben, mit der nur eines von vier Millionen Kindern geboren wird?
Als die Ärzte nach sechs Monaten noch immer keine Diagnose stellen können, drängt der Vater zu einem Gentest auf Progerie. Er fällt negativ aus. Der Vater lässt nicht locker, zahlt 1400 Euro für einen zweiten, deutlich aufwendigeren und präziseren Test. Und tatsächlich: „Alina hat eine ungewöhnliche, besonders schwere Genmutation, wodurch die Progerie beschleunigt wird“, sagt Thorsten Marquardt, Spezialist für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Münster und seit der Diagnose Alinas Arzt. „Normalerweise wird Progerie so früh noch gar nicht diagnostiziert, aber Alina sah schon im ersten Lebensjahr aus wie andere Progerie- Kinder erst mit sechs Jahren.“

Für die meisten seltenen Krankheiten kennt die Wissenschaft die Ursachen noch nicht. Anders bei der Progerie, deren Auslöser vor gut zehn Jahren ein Team von Forschern herausfand, dem die Bostoner Biologin Leslie Gordon angehörte, selbst Mutter eines – jüngst verstorbenen – Progerie-Kindes: Ein Gendefekt lässt ein fehlerhaftes Protein entstehen, Progerin genannt, das den Zellkern brüchig macht, sodass die Zellen schneller sterben als neue nachwachsen können.

Mithilfe dieses Wissens fand Gordon ein Präparat, das die Entstehung des Progerins in Tierversuchen hemmen konnte: Lonafarnib. Merck & Co., in Deutschland MSD Sharp & Dohme, hatte den Wirkstoff in den Neunzigerjahren erfolglos gegen Krebs getestet und eigentlich schon eingemottet. Unterstützt von einer Stiftung, der Progeria Research Foundation, und großem Medienrummel sammelte Gordon einige Millionen Dollar für einen Test des Medikaments an immerhin 25 Progerie-Kindern. Seit Ende 2012 steht fest: Lonafarnib kann die Entstehung von Progerin drosseln und die Krankheitssymptome zumindest lindern.

Patienten mit seltenen Erkrankungen werden ganz klar benachteiligt.
Thorsten Marquardt, Uniklinik Münster

Thorsten Marquardt wollte seiner kleinen Patientin das Medikament so schnell wie möglich verabreichen: „Die Krankheit schreitet so schnell voran, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.“ Aber Lonafarnib hat keine Zulassung, weder in den USA noch in Deutschland. Darf also MSD die Substanz überhaupt an Marquardt herausgeben? Oder muss Alina warten, bis die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen so gründlich untersucht sind, wie es das Arzneimittelgesetz vorschreibt, damit die Behörden grünes Licht geben können?

Keine Lösung ohne Problem

Um unvorhergesehene Nebenwirkungen zu verhindern, dürfen in Deutschland Arzneimittel nur verschrieben werden, wenn sie nach einem strengen Prüfverfahren vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen wurden. Eine sinnvolle Praxis und bittere Lehre unter anderem aus den schweren Missbildungen Neugeborener aufgrund – nach heutigem Stand der Wissenschaft – ungenügender Tests des Contergan-Medikaments Thalidomid.

Das weiß auch Thorsten Marquardt, aber er weiß ebenso: „Patienten mit seltenen Erkrankungen werden von diesem Verfahren ganz klar benachteiligt.“ Sie bewegen sich in einem Vakuum. Meist gibt es für sie kein Medikament, weil die Entwicklung angesichts der geringen Fallzahlen viel zu teuer und langwierig wäre. Und wo eine existierende Arznei eventuell Linderung verschaffen könnte, ist sie im Zweifel nicht zugelassen, weil für die angestrebte Anwendung die nötigen klinischen Tests fehlen.

Der Gesetzgeber quält sich mit dem Abwägen von Gesamtsicherheit und extremem Einzelschicksal.
Robert Gastpar, MSD

Eine Ausnahmeregelung im Arzneimittelrecht soll Patienten wie Alina den Zugang zu solchen Medikamenten ermöglichen. Entschließt sich ein Arzt, einen individuellen Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament durchzuführen, kann er sich beim Hersteller um eine Ausnahmeregelung, den „compassionate use“ (also eine Anwendung aus Mitgefühl) bemühen, vorausgesetzt, es handelt sich um eine lebensbedrohliche oder zu einer schweren Behinderung führende Erkrankung.

Anfang Januar 2013 wendet sich Thorsten Marquardt an MSD Deutschland, schildert Alinas Fall und bittet um die Bereitstellung von Lonafarnib. Für die Firma ist das eine ungewöhnliche, recht komplizierte Situation, da die Substanz in keinem Land der Welt zugelassen und damit „nicht verkehrsfähig“ ist. Während die Abgabe von Arzneimitteln durch Gesetze bis ins Detail geregelt ist, sei die Freigabe von Lonafarnib nicht ohne Weiteres möglich, sagt Robert Gastpar, Clinical Research Manager bei MSD.

Tatsächlich existieren in Deutschland erst seit dem 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz aus dem Jahr 2009 und der Arzneimittelhärtefallverordnung von 2010 Vorschriften, wie sich die Hersteller von Medikamenten in solchen Fällen verhalten sollen. Das zeige, dass sich auch der Gesetzgeber sehr schwer damit tue, Ausnahmen zu definieren, sagt Gastpar. „Er quält sich mit dem Abwägen von Gesamtsicherheit und extremem Einzelschicksal.“

Dass Alinas Fall die Grundvoraussetzung für ein „compassionate use“-Programm erfüllt, ist schnell klar. Aber Gastpar muss prüfen und dokumentieren, ob ein Einsatz dieses Medikaments bei dem Mädchen wirklich sinnvoll ist. „Und die Datenlage ist ziemlich dürftig.“ Zwar sei die Bostoner Studie mit Lonafarnib positiv verlaufen. Aber die Krankheitsbilder der dort behandelten Patienten seien sehr unterschiedlich gewesen, sodass die Ergebnisse bestenfalls als Hinweis zu verstehen seien, dass Lonafarnib funktionieren könnte. Daneben ist der Wirkstoff bisher vor allem an erwachsenen Krebspatienten getestet worden. „Deshalb ist es unsere Pflicht zu fragen, ob wir dem Kind tatsächlich etwas Gutes tun, wenn wir ihm dieses Medikament zur Verfügung stellen“, sagt der Forscher.

Nicht nur bei MSD, auch bei anderen Herstellern landen immer wieder Anfragen nach Medikamenten, von denen sich verzweifelte Patienten Heilung versprechen. Nicht selten geht es um Arzneien, für die es keine Hinweise gibt, dass sie ein Leiden lindern könnten, sondern, ganz im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass es zu gefährlichen Nebenwirkungen kommt. „Die Regularien sollen Patienten davor schützen, dass sie aus falscher Hoffnung oder aufgrund falscher Versprechen Medikamente bekommen, die ihnen mehr schaden als nützen“, sagt Gastpar.

Nach Rücksprache mit den Entwicklern des Medikaments und gründlicher Sichtung aller zur Verfügung stehender Daten entscheidet sich MSD, Lonafarnib für Marquardts Patientin aus den USA nach Deutschland zu schicken. Auch der Transport ist mühsam und dauert. Bis die Einfuhr der fremden chemischen Substanz beim Zoll geregelt ist, vergehen Wochen. Dann endlich, im September 2013, wird in der Uniklinik Münster ein umzugskartongroßes Paket mit zwölf Flaschen à 30 Kapseln Lonafarnib angeliefert – neun Monate nach Thorsten Marquardts erster Anfrage.

Sträflich lange für ein Kind, das ungeheuer schnell altert und eine Lebenserwartung von 14 Jahren hat? So lange, wie es eben dauert, nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen und abzuwägen? „Ob Arzt, Ethikkommission des Krankenhauses, Pharmafirma oder Zoll: Alle brauchen Zeit, um den Einzelfall zu prüfen“, sagt Gastpar. Denn was passiert, wenn die riskante Behandlung nicht anschlägt oder gar schadet? „Dann ist man ganz schnell in der Defensive und muss seine Entscheidung gut dokumentieren und begründen können.“

Die Rollen sind klar verteilt

In welche Situation ein Unternehmen geraten kann, das sich gegen die Herausgabe eines noch experimentellen Medikaments entscheidet, zeigt ein ak- tueller Fall aus den USA: „Firma verweigert sterbendem Kind Medikament“ titelt CNN. „Firma weigert sich, siebenjährigem Jungen lebensrettende Arznei zu geben“, heißt es bei FoxNews. Dutzende andere titelten ähnlich.

Der Hintergrund: Die Biotech-Firma Chimerix aus North Carolina entwickelt ein Medikament namens Brincidofovir, das sich gerade in der letzten, dritten Phase der klinischen Prüfung befindet. Die zuständige US-Behörde hat den Wirkstoff noch nicht zugelassen, obwohl die bisherigen Studienergebnisse eine gute Verträglichkeit und eine Wirkung gegen Virusinfektionen nahelegen.

Der siebenjährige Josh Hardy aus Virginia leidet an einer schweren Virusinfektion, weil sein Immunsystem aufgrund einer Knochenmarktransplantation und Chemotherapie gegen eine Krebserkrankung geschwächt ist. Die verzweifelten Eltern hoffen seitdem auf Chimerix’ Brincidofovir – und haben die Medien mobilisiert. Die Firma soll das Medikament unter „compassionate use“ herausgeben, auch wenn es noch nicht zugelassen ist. Das lehnt CEO Kenneth Moch ab, mit ausdrücklichem Bedauern, nur spielt das in der öffentlichen Aufregung keine Rolle, schließlich lässt sich in diesem Drama allzu deutlich Gut und Böse imaginieren.

Die Grenzen verschwimmen

Den Schwarzen Peter hat das Unternehmen, doch wenn Chimerix für Josh eine Ausnahme macht, gibt es Hunderte weiterer Patienten mit ähnlichem Schicksal, die der Hersteller ebenfalls versorgen müsste. Auf eigene Kosten. Aber hier handelt es sich nicht um einen milliardenschweren Konzern, sondern um ein junges Unternehmen mit gut 50 Angestellten, das seit seiner Existenz noch keinen Cent Gewinn gemacht hat. Und abgesehen davon, geht es auch CEO Moch um den Schutz eines Menschenlebens.

Natürlich mag niemand von Geld oder Regeln reden, wenn er ein sterbendes Kind vor Augen hat. Dass verzweifelte Patienten und Angehörige nach jedem Strohhalm greifen, ist ebenso verständlich. Gerade deshalb existieren die Regeln für das Testen und Zulassen von Medikamenten. Denn der todkranke Patient würde auch die Arznei wollen, die nur im Tierversuch getestet wurde. Oder von der sich Grundlagenforscher nach Laborexperimenten viel versprechen. Wo es um derart komplizierte Entscheidungen geht, verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse.

Auch Thorsten Marquardts Anfragen nach eventuell lebensrettenden, noch nicht zugelassenen Medikamenten werden gelegentlich abgelehnt. Der Mediziner hat dennoch Verständnis für das Dilemma der Pharmaunternehmen. „Wenn überall auf der Welt Ärzte mit unterschiedlicher Expertise Patienten mit Medikamenten aus dem Teststadium behandeln, kann das dazu führen, dass Nebenwirkungen auftreten, die dann die Zulassung des Medikaments gefährden oder schwieriger machen.“ Was natürlich auch nicht im Interesse des Gros der Patienten wäre. Ganz abgesehen davon, dass die Folgen für den Einzelnen nicht abzusehen wären.

Wie viele Ausnahmen also kann sich das System leisten? Wie weit darf ein Arzt gehen im Versuch, ein Patientenleben zu retten? Schwierige Frage, findet Marquardt und erzählt von einer seltenen Krankheit, die Kinder fast vollständig lähmt und ans Bett fesselt: Multipler Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel. In Deutschland werde alle zwei Jahre ein Kind mit dieser Erkrankung geboren. Keine Chance also, jemals „ordentliche“ Medikamentenstudien durchzuführen.

Deshalb entschieden sich vor einigen Jahren die besten Stoffwechselmediziner Europas zu einem höchst ungewöhnlichen Schritt: Sie kauften die Chemikalie BetaHydroxybuttersäure und verabreichten sie den Kindern. Nach einer Woche, erzählt Marquardt, der die Geschichte nur aus der Fachliteratur kennt, konnten die kleinen Patienten die Finger bewegen, dann den Arm, bald sind sie Dreirad gefahren und gelaufen.

Das Dilemma zwischen Individuum und Allgemeinwohl lässt sich nicht auflösen. Nicht von Forschern, nicht von Ethikern, nicht von Herstellern, nicht von Gesetzgebern und nicht von Ärzten.

„Das war gegen alle Regeln, es war keine kontrollierte Studie und hätte auch schiefgehen können“, sagt der Mediziner. Als er die Geschichte bei einer Veranstaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe erzählte, empörten sich die Zuhörer. Wie könne man nur? Marquardt hielt dagegen. Soll er wirklich ein Kind sterben lassen, ohne eine risikoreiche Behandlung zu versuchen?

Das Dilemma zwischen Individuum und Allgemeinwohl lässt sich nicht auflösen. Nicht von Forschern, nicht von Ethikern, nicht von Herstellern, nicht von Gesetzgebern und nicht von Ärzten. Auch die besten Experten können ohne klinische Studien nicht voraussehen, ob ein Medikament wirklich helfen kann und welche Risiken mit seiner Einnahme verbunden sind. Ob Josh Hardy, der auf Brincidofovir hofft, oder Krebskranke, die sich Rettung von neuen Wirkstoffen in den Pipelines der Pharmafirmen versprechen – das System nimmt in Kauf, dass sie sterben, bevor der Prüfprozess abgeschlossen ist. Damit Tausende Patienten nach ihnen geprüfte und hoffentlich sichere Medikamente bekommen. Was das im Einzelfall bedeutet, wird erst durch Schicksale wie Joshs deutlich – der das Medikament am Ende übrigens doch noch von Chimerix bekommen hat. Ob es hilft oder schadet, wird sich zeigen.

Die Regel ist verbesserbar

Der Fall von Alina ist anders, denn sie leidet an Progerie – und fällt als Patientin mit einer so seltenen Krankheit von Anfang an aus dem System. Es gibt kaum Studien, an denen sie teilnehmen könnte, es werden kaum Forschungsprogramme initiiert. Und es ist zynisch, wenn der Gesetzgeber diesen Patienten ein Medikament verweigert, weil es seine Unbedenklichkeit und Wirksamkeit noch nicht in Tests bewiesen hat – Tests, die niemand durchführen wird, schon weil es viel zu wenige Patienten zum Testen gibt.

Die „compassionate use“-Regelung löst den ethischen Konflikt nicht auf. Im Gegenteil, der Gesetzgeber lässt die Betroffenen weitgehend allein. Er stellt den Chef einer Biotech-Firma vor die Wahl, entweder ein Kind sterben zu lassen oder sein Unternehmen zu riskieren – und damit die Entwicklung von Medikamenten zu gefährden, die kranken Kindern helfen sollen. Einem Arzt wie Thorsten Marquardt bürdet er alles Risiko auf, das mit dem notgedrungen unkonventionellen Einsatz experimenteller Medikamente einhergeht. Und den Patienten überlässt er mehr oder weniger zufälligen Entscheidungen von Firmen, Ärzten und Krankenkassen. Es ist der Umgang mit den Ausnahmen, der zeigt, wie gut eine Regel ist.

Alina hatte Glück. Sie hat das Medikament bekommen, und es scheint zu wirken. „Sie ist deutlich aktiver geworden“, sagt der Vater. Sie hat angefangen zu krabbeln und kann sich länger auf den Füßen halten. Ein Jahr lang war ihr Gewicht unverändert – seit Therapiebeginn hat sie gut 500 Gramm zugenommen.

*Name von der Redaktion geändert

Seltene Waisen

Wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen eine Krankheit haben, gilt sie als selten. Nach dieser Berechnung leiden allein in Deutschland vier Millionen Menschen an einer der etwa 7000 bis 8000 seltenen Erkrankungen, die in der Regel schwer bis lebensbedrohlich sind.

Auf den ersten Blick wird einiges für Patienten mit seltenen Erkrankungen getan. Ende August 2013 hat zum Beispiel das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter Einbindung des Bundes- forschungsministerium (BMBF) einen nationalen Aktionsplan für Menschen mit Orphan Diseases verabschiedet. Darin werden Maßnahmen zu einer besseren und schnelleren Diagnose versprochen und bis 2018 bis zu 27 Millionen Euro für Forschung bereitgestellt. Zum Vergleich: Für die Erforschung der Zuckerkrankheit Diabetes hat das BMBF einem einzigen Münchener Institut bis 2018 fast 400 Millionen Euro an Forschungsmitteln zur Verfügung gestellt.

Aber selbst wenn Forscher Geld bekommen, um nach den Ursachen einer seltenen Krankheit zu suchen, ist damit noch keine Therapie auf den Weg gebracht. Deshalb hat der Gesetzgeber in der EU im Jahr 2000 (in den USA schon 1983) die sogenannte Orphan-Drug-Regelung geschaffen: Mit ihr werden Arzneimittelherstellern ein erleichtertes und je nach Unternehmensgröße gebührenreduziertes oder -freies Zulassungsverfahren und exklusive Vermarktungsrechte für das ausgewiesene therapeutische Anwendungsgebiet für zehn Jahre in Aussicht gestellt. Seit Inkrafttreten sind in der EU rund 69 (Stand November 2013) Orphan Drugs zugelassen worden.

So extrem seltene Krankheiten wie Progerie, Ultra-Orphan-Diseases, bei denen es mitunter nur eine Handvoll Patienten pro eine Million Einwohner gibt, werden mit diesem Programm jedoch nicht erreicht – schon weil aus Mangel an Patienten und Forschungsdaten keine statistisch aussagekräftigen Studien aufgesetzt werden können, die über Einzelfallstudien hinausgehen und eine reguläre Zulassung ermöglichen würden.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.