Palliativmedizin

Der Tod ist schrecklich. Das Sterben muss es nicht sein.
Die Palliativmedizin hilft in den letzten Tagen.




Der Tod eilt den Gästen entgegen. Niemand weiß, wann er kommt, aber er kommt bald, das ist gewiss. Die Menschen, die in dem pastellgelben Gebäude in der Tannhäuserstraße im nordrhein-westfälischen Wiehl wohnen, gelten als austherapiert, ihre Lebenserwartung ist gering. Einigen bleiben einige Wochen in diesem Hospiz, anderen nur wenige Tage oder Stunden, die meisten sterben in der ersten Woche ihres Aufenthalts. Doch heute brennt die rote Trauerkerze am Eingang des Johannes-Hospiz Oberberg nicht, die aufgeschlagene Seite im Erinnerungsbuch, in das Angehörige Fotos der Verstorbenen einkleben und ihnen letzte Wünsche mit auf die Reise geben, ist leer. Noch.

Es gibt keine international einheitliche Definition, wann das Sterben beginnt. Aus klinischer Sicht werden in der Literatur die letzten drei bis sieben Lebenstage als Sterbephase definiert. Häufig kündigt sich der Tod an: Die Kranken werden schwach, die Mobilität und geistige Leistungsfähigkeit nimmt ab, sie essen und trinken kaum noch, die Augen wirken eingefallen, die Atmung verändert sich. Oft ist ein Rasseln zu hören, das Geräusch des herannahenden Todes. Erst wenn die koordinierende Tätigkeit der lebenswichtigen Organe zusammenbricht und das Gehirn nicht mehr mit Zucker und Sauerstoff versorgt wird, erlischt die Herz- und Atemtätigkeit. Den Todespunkt vorauszusagen ist selbst für erfahrene Mediziner unmöglich. Es gibt Menschen, die zu warten scheinen, bis Verwandte von weither angereist sind, andere sterben, sobald die Angehörigen aus dem Zimmer gehen, als wollten sie im Moment des Todes lieber allein sein.

Geburt, Leben, Sterben – die Natur macht keine Ausnahmen. Der Wunsch, im eigenen Bett zu sterben, den fast alle Menschen hegen, wird nicht einmal einem Drittel der Bevölkerung erfüllt. Mehr als 40 Prozent der Menschen sterben in Krankenhäusern, fast ein Viertel in Pflegeheimen. Ein Tabu ist der Tod nicht mehr: In Deutschland engagieren sich rund 80 000 Ehrenamtliche in der Hospizbewegung, die Debatte über die Sterbehilfe füllt seit Monaten Gazetten und Talkshows. Die Angst vor einem qualvollen Tod, vor Leid und Kontrollverlust treibt die Menschen um. Lebensqualität oder Lebensverlängerung? Bleiben oder gehen dürfen? In der Theorie darüber zu reden ist eine Sache – den Tod zu erleben eine andere. „Auch Pflegende, Mediziner und Seelsorger gehen immer als Lebende vom Bett weg“, sagt Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), „sie überleben den Tod.“ Besser die anderen sterben als man selbst oder die engsten Angehörigen. Der Gedanke, so wenig empathisch er klingen mag, ist ein Schutzschild, der die eigene Angst auf Abstand hält. Zu endgültig ist die Auslöschung des eigenen Ichs. Zu groß der Schrecken vor dem, was mit dem Sterbeprozess einhergehen kann: Angst, Schmerzen, Atemnot, Übelkeit. Es gibt keinen Tod erster Klasse.

Die Palliativmedizin, die sich in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren aus den Defiziten in der Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden entwickelte, kann in den letzten Lebenswochen viele Symptome lindern, wenn auch nicht immer nehmen. Die Weltgesundheitsorganisation definiert sie als „aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten, mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung der Schmerzen, anderer Krankheitsbeschwerden, psychologischer, sozialer und spiritueller Pro­bleme höchste Priorität besitzt“. In den Achtzigerjahren haben viele die Palliativmedizin kritisch beäugt, das hat sich geändert, „obwohl es immer noch Ärzte gibt, die sie als Pille-Palle-Medizin abtun“, sagt Heiner Melching. „Ein bisschen Neid ist auch dabei: Die Personallage und die Ausstattung in diesem Bereich sind oft gut, viele Stationen werden von starken Fördervereinen unterstützt.“ Meist sind es kleine Einheiten und Häuser, im Schnitt haben sie sieben bis neun Betten.

Besser, aber nicht gut genug

„Wenn es in einer Klinik mit 800 Betten acht Plätze in der Palliativstation gibt, sind das schon Leuchttürme“, sagt Melching. „Wir müssen dringend mehr Menschen erreichen.“ Von den rund 2000 bundesweiten Krankenhäusern haben etwa 15 Prozent Palliativstationen, Tendenz steigend. Diese Stationen sind keine Hospize, sie helfen in akuten Krisensituationen. Der Patient soll möglichst zeitnah mit einem guten Versorgungskonzept verlegt werden – nach Hause oder in ein Hospiz. Die regional variierenden Kosten von durchschnittlich 271 Euro pro Bett und Tag übernehmen zu 90 Prozent die Kranken- und Pflegekassen, den Rest müssen die Hospize aus Spenden selbst aufbringen.

Bei der Versorgung von Palliativpatienten kommt es laut DGP zu erheblichen Unterschieden, sowohl zwischen den Bundesländern als auch zwischen ländlichen und städtischen Regionen. „Die Versorgung in den Städten ist gut, aber im ambulanten Bereich muss vor allem auf dem Land noch viel passieren, auch wenn sich die Zahl der ambulanten Hospiz- und Palliativdienste seit 1996 verdreifacht hat“, sagt Melching. Grundsätzlich hat jeder gesetzlich Versicherte Anspruch auf Hospizleistungen. Die Gesundheitsreform von 2007 ermöglicht ihm zudem eine spezialisierte ambulante Palliativver­sorgung (SAPV) – also palliative Pflege zu Hause. Sogenannte SAPV-Teams, die Hausärzte bei der häuslichen Betreuung unterstützen, setzen sich aus Ärzten, Krankenschwestern und Koordinationskräften zusammen. Anspruch darauf hat, wie es in den Richtlinien heißt, wer an einer nicht heilbaren, fortschreitenden und so weit fortgeschrittenen Erkrankung leidet, dass dadurch die Lebenserwartung begrenzt wird, und überdies eine besonders aufwendige Versorgung benötigt. Wer krank genug ist, entscheiden zunächst der Arzt und dann die Kassen. Aber nicht immer sind sie sich einig. Außerdem gibt es weiße Flecken auf der Landkarte – die SAPV ist noch nicht flächendeckend.

Auch die psychosoziale Versorgung der Patienten und ihrer Angehörigen sollte laut DGP weiter ausgebaut werden, denn vor allem die Psyche macht den Betroffenen am Lebensende zu schaffen. Besonders die Furcht vor dem Ersticken und Verdursten ist groß. „Diese Ängste sind auch bei Ärzten und Pflegepersonal vorhanden“, schreibt Gian Domenico ­Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München, in seinem Buch „Über das Sterben“. Das sei fatal, denn „die wohlmeinenden Maßnahmen zur Vermeidung von Verdursten und Ersticken in der Sterbephase bringen genau jene qualvollen Symptome erst richtig hervor.“ Oft würden Ärzte durch die Gabe von Sauerstoff über eine Nasenbrille versuchen, die Atmung zu erleichtern. Eine Maßnahme, die helfen soll, tatsächlich trockne dadurch die Mundschleimhaut aus und lasse so erst das qualvolle Durstgefühl entstehen. Zudem bringe die Sauerstoffgabe bei Sterbenden wenig: Die Verflachung der Atmung sei ein Zeichen des Sterbens, nicht der Atemnot.

Wirkungsvoll, aber nicht ausreichend bekannt

Dass sich die Experten über den richtigen Weg am Lebensende nicht immer einig sind, verunsichert die Betroffenen und ihre Angehörigen. Welche Behandlung ist sinnvoll, welches Schmerzmittel empfehlenswert? Morphin – ja oder nein? Das Opiat, das die Schmerzen lindert, steht immer wieder im ­Fokus von Debatten. Dabei sind laut Borasio die Befürchtungen, die Gabe von Morphin könne bei Schwerstkranken eine Sucht auslösen oder deren Tod beschleunigen, längst widerlegt. „Sie dürfen heute kein Grund mehr sein, Patienten eine wirkungsvolle Therapie vorzuenthalten.“

Doch selbst die beste palliativmedizinische Versorgung kann nicht jedem einen leichten Tod ermöglichen. „Es gibt Menschen, die fürchterliche Tode oder in Angst sterben“, sagt Anke Bidner, Leiterin des Malteser Hospizdienstes in Wiehl/Nümbrecht, der im Johannes-Hospiz Oberberg die ­ehrenamtlichen Hospizhelfer stellt. „Die Schmerzen einer jungen Mutter, die ihre kleinen Kinder zurücklassen muss, können Schmerzmittel nicht nehmen.“ Im Hospiz in Wiehl werden Menschen ab dem 21. Lebensjahr aufgenommen. Im Durchschnitt sind sie 63 Jahre alt, 96 Prozent haben Tumor­erkrankungen. „Tod und Schmerz sind Teil unseres Lebens. Ich akzeptiere das, auch wenn es Tage gibt, wo es mir leichter fällt als an anderen“, sagt Bidner, die zuvor 15 Jahre auf einer Intensivstation gearbeitet hat.

Im Hospiz arbeiten zehn Mitarbeiter in der Pflege, vier qualifizierte Palliativärzte stehen im Bedarfsfall bereit, hinzu kommen mehr als 50 ehrenamtliche Helfer der Malteser, Mitarbeiter in Küche und Verwaltung, ein Pfarrer, eine Seelsorgerin, ein Hausmeister. Sie begleiten jedes Jahr etwa 150 Menschen auf der letzten Strecke ihres Lebensweges. „Wir sind ein Team“, sagt Bidner. „Keiner muss alleiniger Ansprechpartner sein. Wir tauschen uns aus und erhalten Supervision.“ Das gibt Kraft. Aber Bidner sagt auch: „Die Gäste kommen nicht zum Sterben in unser Haus, sondern um zu leben.“

Im geräumigen Wohnzimmer, dem Herzen des Hospizes, sitzt auf einem roten Sofa Jürgen Klimesch *, 56 Jahre alt, Schauspieler, verheiratet, zwei Kinder. Seit neun Tagen lebt er hier. Die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Neben ihm steht eine Infusionsspritzenpumpe, die lautlos Morphin in seinen ausgemergelten Körper pumpt. Auf der anderen Seite sitzt seine Frau. Ihre Knie berühren sich, ihre Hände umschließen sich sanft. „Ich habe mich bewusst dazu entschlossen, in ein Hospiz zu gehen“, sagt Klimesch. „Unser Zuhause soll für die Kinder von Tod und Krankheit unbelastet bleiben.“

Wie so viele schwerkranke Menschen hat auch er eine Odyssee hinter sich. „Ich war in der Klinik gefangen“, sagt er und blickt mit tränennassen Augen durch seine randlose Brille. „Ich kannte nur noch Steigerungen von Leid und Schmerz.“ Nun sei er „am richtigen Ort“ angekommen und seit einigen Tagen „endlich schmerzfrei“. Er spricht offen über den Tod, auch mit seiner Frau. Doch die Tränen zurückzudrängen kostet Kraft. Immer wieder unterbricht er seine Sätze, schluchzt, holt neuen Atem, spannt den Körper an, spricht weiter. „Am Ende wird alles so unwichtig. Meine Frau, mein Bruder, mein bester Freund – diese drei Menschen sind mir genug.“

Wichtig, aber nicht wirtschaftlich

Es gibt keinen festen Tagesablauf im Hospiz, keine Weckzeiten, keine Essenzeiten, keine Besuchszeiten. „Der Wunsch nach Alltag ist groß“, sagt Anke Bidner. Die Gäste bestimmen selbst. Sie können in ihrem Zimmer rauchen und Alkohol trinken, Haustiere mitbringen, laut Musik hören oder mit Käsehäppchen und einem Glas Rotwein in die Badewanne steigen. Lebensqualität bewahren. „Ein Gast hatte Heißhunger auf Pflaumenkuchen mit Sahne, konnte aber nicht mehr schlucken“, erinnert die kräftig gebaute Frau mit dem roten Haar. „Wir haben ihm den Pflaumenkuchen letztlich über die Ernährungssonde zugeführt. Und er war glücklich.“ Ein Gast nahm sein geliebtes Motorrad mit in sein Zimmer, ein anderer fuhr noch einmal an die See, ein Paar schlief unter dem Sternenhimmel, ein anderes heiratete im Hospiz. „Man darf Sterbende nicht auf ihr Sterben reduzieren“, sagt Anke Bidner. Jeder Glücksmoment zählt.

Tatsächlich wird im Haus ebenso viel gelacht wie geweint. Humor nimmt der Situation ihren Schrecken. Und er lockert auf. Denn nur den wenigsten fällt es leicht, über den eigenen Tod zu sprechen oder letzte Wünsche zu äußern. Auch die Angehörigen müssen im Blick behalten werden, ihre Betreuung gehört ebenfalls zu den Aufgaben des Hospizteams. „Etwa 50 Prozent der Arbeitszeit investieren wir in die Angehörigen. Sie haben oft einen Pflegemarathon hinter sich, benötigen Entlastung und brauchen Menschen, mit denen sie reden können.“

Ohne Gespräche kann Trauer krank machen. Aber sehr viele Menschen schweigen am Ende. Aus Rücksicht. Sie meinen es gut, wollen dem anderen nicht noch mehr zumuten, einander schützen. So bleibt vieles unausgesprochen.

Für Trost bleibt im medizinischen Alltag wenig Zeit, das gilt für Stationen ebenso wie für Heime oder die ambulante Pflege. „Solange für den Hausbesuch eines Allgemeinmediziners im Schnitt nur rund 18 Euro vergütet werden, muss man sich nicht wundern, wenn nur äußerst engagierte und idealistische Ärzte bereit sind, die physischen, emotionalen und ­logistischen Strapazen einer guten häuslichen Sterbebegleitung auf sich zu nehmen“, schreibt Borasio. In Kliniken ist die Lage noch schwieriger, vor allem wenn sie privatisiert wurden und Gewinn erwirtschaften sollen. „Für Krankenhäuser sind Palliativstationen wirtschaftlich nicht interessant, sie helfen lediglich dem Image“, erklärt Heiner Melching. „Nur teure Patienten generieren Einnahmen. Ein Onkologe bekommt kein Geld fürs Reden – dabei sind Zeit, Zuspruch und Für­sorge im letzten Lebensabschnitt so wichtig.“

In Wiehl ist der Betreuungsschlüssel eins zu eins. Die Angestellten tragen Alltagskleidung, die Küche sieht aus wie in einem Landhaus-Katalog, im Wohnzimmer knistert an kalten Tagen das Kaminfeuer. Die Einrichtung wird dem Begriff Hospiz gerecht, der vom lateinischen „hospitium“ abstammt: die Herberge.

Ein Gästezimmer wird derzeit renoviert, noch hängt kalter Rauchgeruch in der Luft. Der Zigarettenqualm der letzten Bewohnerin hat sich über Wochen in die Wände gefressen. Sie blieb lange im Hospiz, länger als viele andere Bewohner. „Unsere Gäste kommen immer später zu uns“, sagt Anke Bidner, „leider.“ Manchmal bleibe kaum noch die Zeit, eine Bindung aufzubauen. Die Menschen hoffen, schieben Arztbesuche auf, warten lange, bevor sie sich für den Einzug ins Hospiz entschließen. Dort sterben schließlich die anderen, nicht sie selbst.

* Name von der Redaktion geändert

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.