Indien

Im Land der Extreme gibt es alles und nichts: modernste Medizintechnik für wenige, schlimmste hygienische Zustände für die meisten. Und
 80 Prozent aller Inder sind gar nicht krankenversichert.




„Upper Middle Working Class“, sagt er, so würde er sich einstufen. Oberer Durchschnitt. Parvish Pandya ist 53, Doktor der Biologie, geschieden, zwei Kinder. Er unterrichtet Zoologie am Bhavans College in Mumbai, Stadtteil Andheri, wo er auch wohnt, in seinem einstöckigen Haus, drei Zimmer, Küche, Bad. In seiner Freizeit widmet er sich der Ornithologie und Naturexpeditionen, oft mit ehemaligen Schülern; sie stellen das Gros seiner 2098 Freunde auf Facebook.

Wenn man ihn fragt, was er für seine Gesundheit tut, sagt Pandya: „Strikte Diät.“ Häufig Fisch, Reis, viel Gemüse und Obst, selten Fleisch, wenn möglich wenig Fett und Brot, kaum Alkohol. „Auch deswegen hatte ich zum Glück noch nie eine größere Operation oder war lange im Krankenhaus.“ Dennoch hat Pandya zwei Krankenversicherungen: Eine von New India Assurance unter dem Label „Mediclaim“; der Beitrag von 7400 Rupien (112 Euro) im Jahr deckt 30 Krankenhaustage à 600 Rupien (9 Euro), dazu die Behandlung davor und danach. Die andere ist von ICICI Lombard, kostet 5763 Rupien (88 Euro) im Jahr und garantiert die Übernahme von Behandlungskosten bis 800 000 Rupien (12 200 Euro). Zusätzlich genießt Pandya noch Versicherungsschutz durch seinen Arbeitgeber.

Die Ausgaben für die beiden Versicherungen, sagt Pandya, würden ihn finanziell nicht sehr belasten, er leiste sich dazu einen wöchentlichen Besuch bei einer Homöopathin. Kosten: 150 Rupien (2,30 Euro). Überhaupt keine Probleme? „Den richtigen Arzt zu finden ist wichtig“, so Pandya. „Aber da meine Ex-Frau Ärztin ist, kenne ich Leute.“ Und sonst? „Meine letzte Erfahrung mit Krankenhäusern war 1996, als mir ein Backenzahn entfernt wurde und ich eine Nacht stationär lag.“ Die Kosten von 6000 Rupien (92 Euro) wurden von der Versicherung anstandslos bezahlt.

Anderswo auf der Welt wäre Dr. Parvish Pandya ein aussagekräftiges Beispiel stellvertretend für das Gesundheitssystem seines Landes. Einer von Millionen, statistisch irgendwo in der Mitte. Doch in Indien ist der Durchschnitt meist nicht mehr als ein statistisches Vehikel zwischen Gegensätzen und Extremen – und damit im Zweifel die Ausnahme.

Die Gegensätze: siebtgrößtes Land der Erde, im Norden der Himalaya, im Süden Tropen, dazwischen Regenwald, Gebirge, gemäßigte Zonen, Steppen, Wüsten. 1,2 Milliarden Einwohner, 23 offizielle Sprachen, vier Weltreligionen. Ein soziales Panoptikum. Mehrere Dutzend politische Parteien. 300 Arten, eine Kartoffel zuzubereiten. Kaum gemeinsame Nenner. Das Leben der Menschen unterscheidet sich dramatisch nach Ethnie, Religions- und Kastenzugehörigkeit, im gesellschaftlichen Status und in den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Und nicht zuletzt darin, ob jemand in der Stadt lebt oder auf dem Land, wie etwa zwei Drittel aller Inder.

Weniger als 1,25 $ zum Leben

Die Extreme: Indiens Wirtschaft wächst seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich, gehört zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt. Aber: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug im Jahr 2010 lediglich 1475 US-Dollar, damit belegt Indien nur einen Platz im unteren Drittel der von der Weltbank mit diesem Indikator bewerteten Länder, hinter Nachbar Bhutan, und nicht weit vor Krisenländern wie Jemen oder Sudan.

Von den rund 460 Millionen Erwerbsfähigen des Landes sind nur knapp die Hälfte überhaupt erwerbstätig, von denen wiederum nur ein kleiner Teil im formellen Sektor. Das Gros verteilt sich auf Selbstständige, Lohnund Wanderarbeiter, Tagelöhner. Während es in Mumbai, der wirtschaftlichen Metropole des Landes, rund 70 000 Dollarmillionäre geben soll, leben etwa ein Viertel aller Inder von weniger als 1,25 Dollar am Tag.

Seit 1950 garantiert die Verfassung allen Indern sozialen Schutz, darunter die kostenlose Gesundheitsversorgung. Die Umsetzung dessen obliegt Regierung, Bundesstaaten und Kommunen gemeinsam. Zunächst verfolgte Indien dabei ein staatliches System. Seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes 1991 haben sich die öffentlichen Ausgaben aber zunehmend in den privaten Bereich verlagert.

Diese Schieflage spiegelt sich in der Krankenversicherung wider. Das staatliche Modell wird finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern (1,75 Prozent vom Arbeitslohn), Arbeitgebern (4,75 Prozent vom Arbeitslohn) und durch staatliche Zuschüsse (12,5 Prozent der anfallenden medizinischen Kosten). Erhältlich ist es jedoch nur für Beamte und die schon genannten acht Prozent Arbeitnehmer im formellen Arbeitsmarkt. Und das auch nur, wenn sie weniger als 15 000 Rupien (225 Euro) monatlich verdienen.

Zusammen mit dem Teil der Bevölkerung, der privat versichert ist, bedeutet das: Nur 20 Prozent sind überhaupt versichert, vier von fünf Indern sind gar nicht gegen Krankheit oder Unfall abgesichert. Hinzu kommt: Weder die staatliche noch die private Versicherung deckt in aller Regel die Kosten für die ambulante Behandlung bei niedergelassenen Ärzten, auch der Service in Krankenhäusern muss vorab bezahlt werden. Zwar wären sie per Gesetz verpflichtet, Patienten aus unterprivilegierten Schichten kostenlos zu behandeln. Doch in der Praxis werden vor allem Mitglieder der 635 Unterkasten (Unberührbare) und Stammesangehörige aus Prinzip abgewiesen.

Es gibt in Indien geschätzt 22 000 staatliche Primary Healthcare Centers (Primärstationen, die der Grundversorgung dienen) und 137 000 Unterzentren, dazu 12 000 sekundäre (Fachkliniken) und tertiäre (Spezialkliniken) Krankenhäuser, 3000 kommunale Gesundheitszentren und 3500 Familienbetreuungszentren. Einige der großen staatlichen Krankenhäuser – wie das AIIMS in Delhi, das KEM in Mumbai oder PGIMER in Chandigarh – haben in Indien einen passablen Ruf. Dem westlichen Betrachter mag das nicht einleuchten. Wer einmal im KEM in Mumbai war, sieht Menschen, die neben Tieren auf dem Flur schlafen; Säle mit bis zu 300 Betten, die Patienten liegen mitunter zwischen den Betten auf dem Boden. Vor Visiten schicken die Patienten ihre Angehörigen zur Apotheke, um Spritzen und Gummihandschuhe für die Blutabnahme zu kaufen. Liegen diese nicht am Bett, wenn der Arzt kommt, wird kein Blut abgenommen.

Geradezu desaströs ist die Lage auf dem Land, wo Primärstationen häufig weit entfernt von Dörfern liegen, schwer zu erreichen sind und nicht einmal über rudimentäre Technik verfügen. Erhältlich sind oft nur gängige Schmerztabletten wie Paracetamol. Auch in sekundären oder tertiären Krankenhäusern ist die Versorgung unzureichend. Was auch daran liegt, dass 75 Prozent des Budgets für Personal ausgegeben wird. Und das, obwohl die Ärzte und Pfleger schlecht ausgebildet sind und sich noch Geld im besser bezahlten privaten Sektor dazuverdienen, wo 80 Prozent aller ärztlichen Dienstleistungen stattfinden. Im Schnitt sind die Ärzte bei staatlichen Einrichtungen in der Hälfte der Arbeitszeit gar nicht anwesend. Hinzu kommen Probleme wie Korruption und Missbrauch bei Medikamentenund Arztrechnungen. Stundenlange, manchmal tagelange Wartezeiten. Veraltete Medizintechnik. Mangelnde Hygiene. Nicht sterile Instrumente. Betten ohne Laken. Gestank. Ungeziefer. Dr. Abhishek Bhargav, Allgemeinarzt in Mumbai, sagt: „Es ist ein Albtraum.“

Völlig anders die Situation im privaten Sektor. In Indien sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Krankenhausketten entstanden, die gefördert werden mit staatlichen Zuschüssen, Steuervorteilen, kostenlosem Bauland. Wer sich die Behandlung in Einrichtungen der Unternehmen Apollo, Fortis, Wockhardt, Hiranandani oder Lilavati leisten kann, trifft auf westlichen Standard und modernste Technik. Man muss sie sich vorstellen wie Polikliniken mit Spezialisten aller medizinischen Fachbereiche, mit eigenen Labors, Apotheken. Die Behandlung erfolgt prompt, das Personal ist kompetent. Indiens führende Universitäten, die zu den besten der Welt zählen, bilden hervorragende Mediziner aus. Und die lassen den Medizintourismus seit Jahren boomen: Für eine Herzoperation, die in den USA mehr als 300 000 Dollar kosten kann, fallen in einem der besten indischen Krankenhäuser etwa 8000 Dollar an. Neben im Ausland lebenden Indern kommen vor allem Amerikaner, Europäer und wohlhabende Afrikaner. Offeriert werden inzwischen Pauschalreisen inklusive Erholungsurlaub. Und nicht nur hier boomt es: Auf dem Schwarzmarkt gibt es einen schwunghaften Handel mit Organen, hauptsächlich Nieren. Gängiger Preis pro Niere: 1000 Dollar.

0,6 Ärzte und 0,9 Betten pro 1000 Einwohner

Dr. Amit Mukherjee steht im Tinplate Hospital, Jamshedpur, Bundesstaat Jharkhand. „Der Staat“, sagt Mukherjee, „hat sein Versprechen auf eine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nie eingelöst.“ Ein vornehmer älterer Herr, dunkles Haar, Schnurrbart. Er fragt, wie ein Volk adäquat versorgt werden soll bei statistisch 0,6 Ärzten und 0,9 Krankenbetten pro 1000 Einwohnern? Indiens Gesundheitswesen sei zu einem Abbild des Wirtschaftswunderlandes geworden, sagt er.

Erste Welt, Hightech und internationaler Standard für wenige, der riesige Rest dagegen Entwicklungsland, Not und Elend. Zwar ist die Lebenserwartung zuletzt auf 65 Jahre gestiegen, doch Indien hat weiter eine sehr hohe Säuglingssterblichkeit. Unter der armen Bevölkerung grassieren Tuberkulose, Malaria, Typhus, Lepra und Aids. Fünf Prozent der Kinder sterben, bevor sie ein Jahr alt sind – häufig an Masern, Durchfall, Wurmerkrankungen. Jeder achte Inder hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mukherjee: „Und wir sind nicht in der Lage, den zunehmenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Asthma, Osteoporose zu begegnen. Diabetes könnte sich schon bald zu einer Epidemie entwickeln.“

Viele Lücken im staatlichen System

Er hat in Deutschland gearbeitet, Klinikum Steglitz. Das war Ende der Siebzigerjahre, als sein Vater in Berlin Generalkonsul war. Mukherjee wäre gern geblieben, doch seine Mutter erinnerte ihn daran, dass seine Landsleute ihn dringend brauchten. Er ging nach Hazirabagh in Jharkhand, einen der ärmsten Bundesstaaten Indiens, wo er als Allgemeinarzt 22 Dörfer betreute. Nun arbeitet er für Tata Steel, das in Jamshedpur Stahl produziert und mit dem Tinplate Hospital insgesamt drei Krankenhäuser betreibt.

Tata ist einer der ältesten und größten indischen Mischkonzerne, dessen Gründer für seine philanthropische Gesinnung legendär war. Gerade hat Mukherjee einen Patienten mit gebrochenem Schienbein operiert, gleich wird er rausfahren zum Parkplatz der Lkw-Fahrer, um sie über Aids aufzuklären, später in einem von 22 Familienzentren, die Tata unterhält, bei der Sterilisation von Männern assistieren.

Unternehmen wie Tata schließen zusammen mit Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls Krankenstationen betreiben und Versicherungen anbieten, zumindest einen Teil der Versorgungslücken, die das staatliche indische System hinterlässt. Mukherjee sagt: „Unser System funktioniert nicht, weil Geld in Indien sakrosankt geworden ist und die menschlichen Werte vergessen werden. Wir verkaufen unsere Kultur.“

Was also bleibt Abermillionen mittellosen Indern, die krank oder invalide werden, sich aber eine professionelle Behandlung nicht leisten können?

Wenn sie sich nicht verschulden – jeder fünfte Krankenhauspatient fällt durch die Behandlungskosten in Armut –, greifen sie zu traditionellen Hausmitteln. Kräuterpasten, Kräutertees, traditionellen Tinkturen. Sie setzen auf die Heilkraft von Gewürzen und Wurzeln. Oder suchen sogenannte „Quack Doctors“ auf, die in Slums am Straßenrand praktizieren, mit archaischen Instrumenten Zähne ziehen, direkt neben Kloaken. Etwa 1,5 Millionen „Heiler“ praktizieren in Indien. Dazu zählen auch mindestens 120 000 Ayurveda-Ärzte. Doch auch bei Ayurveda (wörtlich: das Wissen vom Leben), das landesweit in mehr als 100 Schulen gelehrt wird, wie auch bei den traditionellen Praktiken Unani und Siddha oder der in Städten zunehmend populären Homöopathie, hängt die Qualität der Leistung entscheidend vom Preis ab.

Heilungschancen wie beim Lotto

Der Markt der Heiler gleicht für westliche Betrachter – wie ganz Indien – einem heillosen Durcheinander ohne nachvollziehbare Strukturen und Regeln. Lizenzen, Registrierung, Kontrollen – all das gibt es nicht. Nicht einmal in großen Teilen des staatlichen und privaten Gesundheitsund Apothekensystems. Allerdings sind die meisten Medikamente, auch verschreibungspflichtige, in Shops erhältlich, die sich „Medical Store“, „Chemists & Druggists“ oder „Pharmacy“ nennen.

Aber auf sachgemäße Behandlung oder gar Heilung hat man ähnlich hohe Chancen wie auf den Jackpot beim Lotto. Dr. Amit Mukherjee sagt: „Die meisten Inder kennen nur eine Perspektive: Man lebt mit seinen Leiden, bis man stirbt.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.