England

Trotz aller Mängel lieben die Briten ihren NHS,
 das staatliche Gesundheitssystem. Das spürt jetzt die Politik: Sie wagt sich an Reformen und stößt auf Widerstand von allen Seiten.




Thorsten Ruffle-Brandt, 44, hat einen neuen Arbeitgeber. Gut zehn Jahre lang war der deutsche Arzt einer von 1,7 Millionen Angestellten des National Health Service (NHS) in Großbritannien – eine Institution, die auf der Insel so viel Ansehen genießt wie höchstens noch die Queen. Seit Ende 2011 erhält der erfahrene Stationsarzt aus Plymouth sein Gehalt von einem neu gegründeten örtlichen Gesundheitsverbund. „Sonst hat sich bisher nichts geändert.“

Bisher. Wie der deutsche Einwanderer ist die große Mehrheit der (früheren) NHS-Angestellten voller Misstrauen gegenüber einer milliardenteuren Umstrukturierung, von der sich die konservativ-liberale Regierung in London mehr Dezentralisierung und Effizienz erhofft. Kritiker hingegen befürchten die Kommerzialisierung des bisher überwiegend steuerfinanzierten Systems, vor allem eine Aufweichung des ehernen Prinzips der Kostenfreiheit. Genau dies aber schätzen die Briten über alles, berichtet Ruffle-Brandt: „Wer immer man ist, was auch immer man verdient: Die Behandlung ist kostenlos.“

Service mit Mängeln

In Großbritannien gibt es keine Krankenversicherungspflicht, und das NHS ist auch keine Krankenkasse, keine Versicherung. Niemand zahlt Beiträge, und man ist auch nicht Mitglied. Jeder, der krank oder verletzt ist, wird grundsätzlich gemäß der medizinischen Notwendigkeit behandelt und nicht nach seinem Geldbeutel. Damit ist das NHS der Prototyp einer staatlichen Gesundheitsversorgung. Die Kosten werden zu 87 Prozent aus dem Steueraufkommen finanziert, der Rest stammt aus privaten Quellen. Das Gesundheitsministerium erhält sein Budget direkt vom Finanzministerium und verteilt es auf die regionalen Verwaltungen.

Rund 15 Prozent der Briten zahlen in private Versicherungen ein und sichern sich damit freie Arztwahl und Zusatzleistungen. Die Normalbürger sind hingegen auf ihrem Hausarzt, den sogenannten Generalpraktiker (GP), angewiesen. Ihn kann man innerhalb eines größeren Wohnbezirks frei wählen und bei Problemen auch wechseln. GPs fungieren als Zugangsschleuse zum NHS, nur durch sie erhalten Patienten eine Überweisung zum Facharzt, zur Krankengymnastik oder zu Routine-Eingriffen im Krankenhaus.

In den vergangenen Jahren hat es im Gesundheitsbereich Rekord-Investitionen gegeben: Davon zeugen allerorten neue Krankenhäuser. Dennoch weist der Service für die Bürger erhebliche Mängel auf. Noch immer warten Kranke wochen- und monatelang auf Termine bei Spezialisten.

Profit, Auslastung, Effizienz

Im vergangenen Jahrzehnt, unter Labour, wurde an vielen Stellen Wettbewerb ermöglicht. Das habe in den Spitälern zu einer „spürbaren Entsolidarisierung“ geführt, lautet die Beobachtung eines Internisten, der an mehreren Krankenhäusern tätig ist. „In den Besprechungen geht es meist nur noch um Profit, Auslastung, Effizienz.“

Für notwendige Eingriffe können Patienten unter vier Krankenhäusern wählen, von denen eines privat geführt sein darf. Tatsächlich bleibt es aber meist bei der Auswahl durch den Hausarzt. Einer Publikation der Gesundheits-Consultancy Laing & Buisson zufolge entschieden sich im vergangenen Jahr nur 4,8 Prozent der Patienten für eine Privatklinik.

Landesweit beschäftige das NHS, so lautet ein gängiger Stoßseufzer, so viele Menschen wie sonst nur noch die chinesische Volksarmee und sei deshalb auch entsprechend bürokratisch. Die Klagen von Bediensteten – neben Ärzten, Pflegern und Schwestern auch Zehntausende von Verwaltern – und Patienten über Papierkrieg, Personalmangel und marode Gebäude sind sprichwörtlich. Doch bei aller Kritik: Die Reform von Gesundheitsminister Andrew Lansley sehen die Briten mit Argwohn. Zäh halten sie an dem System fest, das die Labour-Regierung 1948 einführte, um endlich die medizinische Versorgung für die ganze Bevölkerung sicherzustellen.

Zu den jungen Wissenschaftlern, die damals mit großem Idealismus ans Werk gingen, gehörte auch Lansleys Vater. „Schon deshalb“, beteuert der 55jährige Konservative, „betrachte ich das NHS als meine Mission und würde es niemals schädigen.“

Daran zweifeln selbst seine Parteifreunde. Der mächtige, konservativ dominierte Gesundheitsausschuss des Unterhauses schlug Lansley die geplante Reform im Januar um die Ohren. Ärztliche Dienste, häusliche Pflege, Krankengymnastik und ähnliche Leistungen würden „in einer Art Salamitaktik“ immer stärker beschnitten, um sowohl den Sparvorgaben als auch der Reform des Ministers Rechnung zu tragen. Anfang Februar gab Lansley an einer wichtigen Stelle nach: Auch in Zukunft bleibt der Gesundheitsminister persönlich für die Gleichbehandlung aller Patienten in England verantwortlich. So stand es bisher im Gesetz, und so wird es bleiben.

Das Zugeständnis wird aber nichts daran ändern, dass es wie schon bisher regionale Unterschiede gibt. Die ärztliche Versorgung von Schotten, Walisern und Nordiren steht in der Verantwortung der jeweiligen Regionalregierung, auch in den englischen Regionen entscheiden die örtlichen Verwaltungen unterschiedlich.

Beispielsweise genießt auf dem Papier jeder Bürger denselben Anspruch auf Pflege im Alter wie auf Gesundheitsversorgung im NHS, eine eigene Pflegeversicherung gibt es nicht. Aber nur die Regionalregierung von Schottland ist der Empfehlung einer Königlichen Untersuchungskommission gefolgt und bezahlt komplett die Pflege alter Menschen sowohl in Heimen als auch in den eigenen vier Wänden. In England und Wales müssen die Betroffenen eine Einkommenserklärung abgeben. Wer mehr als 28 000 Euro besitzt, zahlt selbst. Weil viele alte Menschen nur ein geringes Einkommen und wenig Ersparnisse haben, aber Wohnungen und Häuser besitzen, die zuletzt stark im Wert gestiegen sind, mussten Zehntausende ihre Immobilien verkaufen und in Pflegeheime umziehen.

Für Verbitterung unter den Betroffenen sorgt auch die Gesundheitsversorgung von Pflegebedürftigen. Das NHS verweigerte der steigenden Zahl von Demenzkranken lange Zeit aus Kostengründen bestimmte Medikamente, die im Frühstadium noch hätten helfen können. Pharmafirmen und die Alzheimer-Gesellschaft riefen deshalb sogar das Höchste Gericht an.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht immer wieder das „Nationale Institut für Gesundheit und klinische Exzellenz“, abgekürzt Nice. Es entstand bereits 1999 als Antwort auf anhaltende Klagen über die „Postleitzahl-Lotterie“: Bis dahin entschied die örtlich zuständige NHS-Behörde darüber, welche Behandlung bezahlt wurde. Stattdessen erlässt nun Nice landesweit geltende Regeln, an denen sich die regionalen Behörden im Normalfall orientieren.

Undurchsichtige Bewertungen

Die Nice-Entscheidungen haben jedoch Wirkungskraft weit über die Insel hinaus. Als weltweit erste Behörde unternahm das Institut den Versuch, den Wert einer medikamentösen Behandlung nicht nur an der rein biologischen Überlebenszeit zu messen, sondern auch an der Lebensqualität. Resultat ist der sogenannte Qaly-Index. Mit ihm wird eine komplizierte Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Je nach Ergebnis hebt oder senkt sich der Daumen der mächtigen Arzneimittel-Bewerter.

Die unvermeidlichen Kontroversen rund um Nice-Entscheidungen drehten sich in den vergangenen Jahren besonders um Patienten, die an selteneren Karzinomen leiden. Das Institut arbeite zu langsam, sei teuer und bürokratisch, urteilen führende Krebsmediziner. „Die unwissenschaftlichen und subjektiven Beurteilungen durch Nice treiben Patienten und Kliniker zur Verzweiflung“, sagt Jonathan Waxman, Professor für Onkologie am weltberühmten Londoner Imperial College.

Betroffen vom Nice-Bannstrahl waren im Laufe der Jahre alle großen Pharma-Konzerne, binnen eines Jahres (2009) traf es Pfizer (Medikament: Sutent), Roche (Avastin) und GlaxoSmithKline (Tyverb). Alle wurden abgelehnt. Um Tyverb dennoch am Markt durchzusetzen, bot der britische Konzern dem NHS Sonderkonditionen an. Auch andere Firmen haben daraufhin ihre Preise gesenkt, um den Einwänden von Nice entgegenzukommen.

Alleingelassene Patienten

Damit hat die Behörde einen wichtigen Zweck schon erfüllt, schließlich machen sich Gesundheitspolitiker allerorten Gedanken darüber, wie sich die Kosten im Gesundheitswesen dämpfen lassen. Nice gehe dabei „transparenter vor, als das in Deutschland bisher der Fall war“, urteilt der Tübinger Medizinethiker Dietrich Rössler.

Trotz des vergleichsweise offenen Umgangs mit den Themen Lebensverlängerung und Lebensqualität liegt bei der Palliativmedizin einiges im Argen, dabei stellt gerade sie für viele deutsche Ärzte ein Vorbild dar. Immer noch sterben viel zu viele im Krankenhaus statt zu Hause, wie von ihnen gewünscht. Eine Experten-Studie im Regierungsauftrag fand „erstaunliche Ungerechtigkeiten“ in der landesweiten Palliativ-Versorgung der rund 500 000 Sterbenden pro Jahr. In manchen Bezirken budgetiert die lokale Verwaltung pro Sterbenskrankem umgerechnet 222 Euro, in anderen 7409 Euro. „Am Ende ihres Lebens werden viele Patienten wie ein Jo-Jo behandelt, also ständig ins Krankenhaus eingeliefert und bald wieder entlassen“, analysiert Thomas Hughes-Hallett von der Krebshilfe Marie Curie.

Diese unwürdigen Zustände kennt Gesundheitsminister Lansley aus erster Hand, zählte doch sein Vater 2010 zu den Opfern unzulänglicher Palliativmedizin. Als Thomas Lansley, 89, in den Monaten vor seinem Tod mehrfach ins Spital eingeliefert wurde, geschah einmal so lange nichts, bis sich der erfahrene Wissenschaftler kurzerhand selbst entließ. An einem Sonntag musste der Minister anderthalb Stunden telefonieren, bis er herausgefunden hatte, wohin der Krankenwagen seinen alten Vater gebracht hatte. Der alte Herr musste mehrere Tage zur Beobachtung in der Notaufnahme verbringen, weil kein reguläres Krankenhausbett frei war. Die letzten sechs Monate vor dem Tod des Vaters „waren sehr schwierig“, berichtete Lansley im vergangenen Jahr auf einer Tagung zur Palliativmedizin.

Dabei rühmt sich Großbritannien gern eines vergleichsweise unverkrampften Umgangs mit dem Tod. Bei der Pflege von schwerstkranken und sterbenden Menschen wird schon seit Längerem „auch auf die Kosten geachtet“, hat ein deutscher Arzt in britischen Hospitälern beobachtet. Seit Jahren veröffentlicht das Ministerium regelmäßig die Fortschreibung einer „Strategie für die Betreuung am Lebensende“; außerdem wird gern behauptet, die Insel sei als Ausgangspunkt der modernen Hospizbewegung „weltweit führend“ in der Palliativmedizin. Wer Angehörige in den Acht-Bett-Zimmern britischer Hospize hat sterben sehen, wird sich dieser Bewertung nicht unbedingt anschließen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.