China

Früher waren alle Chinesen arm, heute sind die Wohlstandsunterschiede gewaltig. Der Wandel hat auch das Gesundheitssystem erfasst: Aus sozialistischer Totalversorgung wurde marktgetriebene Vielklassenmedizin.




Herzrhythmusstörungen sind eine beängstigende Erfahrung. Herr Wu machte sie vor zwei Jahren. Der 38-jährige Pekinger hatte vorher nie gesundheitliche Probleme gehabt, als er eines Tages das Stottern in seiner Brust bemerkte. Im Krankenhaus erklärte ihm der Arzt, dass eine aufwendige Operation nötig sei. Nicht der einzige Schock: Die Behandlung würde teuer werden und Herrn Wu mehrere Monatsgehälter kosten.

Herr Wu gehört zur chinesischen Mittelschicht, jenen rund 300 Millionen Glücklichen, denen Chinas Wirtschafts-Boom Erfolg und Wohlstand beschert hat. Er hat einen festen Job bei einem Staatsbetrieb, wohnt mit Frau und Tochter in einer Eigentumswohnung, die er in Raten abbezahlt, und macht Urlaub im Ausland. Doch ein unregelmäßiger Herzschlag reichte aus, um die scheinbar gesicherte Existenz zu bedrohen.

Mindestens 50 000 Yuan (6000 Euro) würde die Operation kosten, überschlug der Arzt – das entsprach dem Einkommen von einem halben Jahr. „Allerdings riet er mir, importierte Medikamente und OP-Materialien zu benutzen, weil man der chinesischen Qualität nicht vertrauen könne“, erinnert sich Wu. „Die Kosten würden sich dadurch aber verdoppeln.“

Wu erkundigte sich bei der staatlichen Krankenkasse, in die er monatlich acht Prozent seines Bruttolohns einzahlt. Für eine Behandlung mit chinesischen Medikamenten könne er 80 Prozent der Kosten erstattet bekommen, bei Importpharmaka nur die Hälfte. Doch wer will schon bei einer lebensbedrohlichen Krankheit knausern? Herr Wu entschied sich, an seine Ersparnisse zu gehen. „Letztendlich hatte ich dann Glück im Unglück“, erzählt er. Als er ins Krankenhaus eincheckte, waren alle OP-Säle und Betten belegt. Nach einer Nacht auf einer Pritsche im Korridor wurde Wu am nächsten Tag von einer Ärztin untersucht, die ihm einen anderen Rat gab als ihr Kollege. Bevor er sich einer Operation unterziehe, solle er eine Therapie mit Stromschlägen versuchen. Diese war weniger riskant, kostete nur 6800 Yuan (820 Euro) – und funktionierte. „Womöglich wollte mich der erste Arzt nur operieren, weil er an den Kosten verdiente“, sagt Wu im Nachhinein. „Ich war der Ärztin so dankbar, dass ich ihr hinterher ein Geschenk geschickt habe.“

Wer in China zum Arzt geht, muss auf Überraschungen gefasst sein, und nur selten folgen den schlechten Nachrichten am Ende noch so gute wie im Fall von Herrn Wu. Gesundheitliche Sorgen werden oft zu finanziellen, und Patienten kämpfen nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit einem undurchsichtigen Gesundheitssystem aus Krankenhäuern, Versicherungen und Behörden. Die einzige Gewissheit: Kranksein ist in China teuer, und gesund wird nur, wer es sich leisten kann.

Medizin gegen Bares

Das widerspricht grundsätzlich der Idee eines sozialistischen Staates. Tatsächlich verfolgten Chinas Kommunisten ursprünglich andere Ideale. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 organisierten sie ihren Staat nach sowjetischem Vorbild: Die Menschen wurden Arbeitseinheiten zugewiesen, die alle Bereiche ihres Lebens regelten. Die sogenannte „eiserne Reisschüssel“ versprach ihnen Verpflegung, Arbeit und Ausbildung, eine Wohnung und Sozialleistungen. Kranke sollten in staatlichen Krankenhäusern kostenlos behandelt werden. Doch die Rundum-Versorgung blieb Theorie, für die Realisierung fehlten Ressourcen. Hospitäler mit qualifizierten Ärzten, modernen Geräten und Medikamenten gab es in der Mao-Zeit nur für die Partei-Elite.

Das änderte sich mit Beginn der Reformpolitik Anfang der Achtzigerjahre. Unter Deng Xiaoping tauschte die Partei ihre sozialistischen Wunschvorstellungen gegen marktwirtschaftlichen Pragmatismus ein. Das Totalversorgungsversprechen wurde aufgekündigt. Was an Ansprüchen übrig bleibt, hängt seitdem davon ab, zu welcher sozialen Gruppe man gehört und wie viel Geld man hat.

Staatsbedienstete und Stadtbewohner bekommen nach wie vor subventionierte Leistungen. Die armen Landbewohner und die vielen Wanderarbeiter sind davon ausgeschlossen. Gleichzeitig entstanden neue Krankenhäuser, die zwar nominell staatlich sind, aber wie profitorientierte Unternehmen operieren. Arztpraxen gibt es in China kaum. Wer sich mit modernen Geräten untersuchen oder von einem im Ausland oder an Chinas Top-Universitäten ausgebildeten Arzt behandeln lassen will, muss dafür einen Aufschlag bezahlen. Missbrauch sind dabei Tür und Tor geöffnet. Denn nicht nur die Krankenhausgesellschaften suchen ihren Profit, sondern oft auch jeder einzelne Arzt. Verschreibt er teure Behandlungen oder Medikamente, wird er an den Einnahmen beteiligt, sowohl von seinem Arbeitgeber als auch von den Pharmafirmen. Kontrollmechanismen, die derartigen Machenschaften einen Riegel vorschieben, sind schwach. Unabhängige Verbraucherschützer, Patientenvereinigungen oder Gerichte lässt das Ein-ParteiSystem nicht zu. Aus dem sozialistischen Gleichheitsgrundsatz wurde so in kürzester Zeit eine marktgetriebene Vielklassenmedizin.

In welche Klasse sie selbst gehören, erfahren Patienten in der Regel erst im Ernstfall. So wie Herr Zou, ein Rentner aus dem nordchinesischen Shenyang, bei dem kürzlich ein Tumor in der Schilddrüse entdeckt wurde.

Im örtlichen Krankenhaus war man nicht bereit, ihn zu operieren. Als ehemaliger Beamter hat er Anrecht auf eine Behandlung zu Tarifen, die von der staatlichen Versicherung festgelegt werden. „Man sagte mir, dass ich wahrscheinlich ein Verlustgeschäft sein werde und deshalb bitte ein anderes Krankenhaus aufsuchen möge“, erzählt er. Falls er doch auf einer Behandlung bestehe, solle er zustimmen, nach einer Woche das Spital zu verlassen und erst 15 Tage später wiederzukommen, dann könne man der Versicherung eine neue Behandlung in Rechnung stellen. Doch Zou wusste, dass es noch eine andere Möglichkeit geben würde, aufgenommen zu werden: Er drückte den Ärzten Geldumschläge in die Hand. „Erst haben sie sich geziert, aber dann haben sie es doch angenommen“, sagt er.

Für die Operation berechnete das Krankenhaus den subventionierten Preis von 9000 Yuan (1080 Euro), zwei Drittel davon bezahlte Zous Versicherung. Nach der OP musste er eine Woche bleiben. Die Familie zahlte den Aufpreis für ein Einzelzimmer, in dem auch seine Frau auf einem Klappbett übernachtete, um ihn versorgen zu können.

Pflege und Essen sind in chinesischen Kliniken nicht inbegriffen. Wer keine Familienmitglieder hat, die sich kümmern, muss auf eigene Kosten eine Pflegeschwester anheuern. Mit der Behandlung ist Herr Zou trotz der Anfangsschwierigkeiten hoch zufrieden. „Die Ärzte waren von einer angesehenen Universität, und die Klinik war gut ausgestattet“, sagt er. „Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte man von einer solchen medizinischen Versorgung nur träumen können.“

Verzweifelte Patienten

Für die Mehrheit der Chinesen ist es bisher allerdings beim Träumen geblieben. Denn wer nicht wie Herr Zou oder Herr Wu über das nötige Geld verfügt, ist vom Fortschritt ausgeschlossen oder muss sich für seine Gesundheit in Schulden stürzen.

In der Öffentlichkeit ist diese Ungleichheit ein viel diskutiertes Thema. Immer wieder berichten Medien von den Tragödien derer, die an die Grenzen des Systems stoßen. So machte der Fall der Bäuerin Zhang Yan aus der Provinz Anhui Schlagzeilen, die sich in einer Krankenhaustoilette mit dem Kabel ihres Handyaufladegeräts erhängt hatte. 2007 waren bei Yan Nierenprobleme aufgetreten, die regelmäßige Dialyse erforderten. Das Geld dafür lieh sie sich von Verwandten und Freunden. In vier Jahren häufte sie Schulden von 300 000 Yuan (36 200 Euro) an. Auf dem Land entspricht das dem mehr als 50-fachen eines durchschnittlichen jährlichen Einkommens. Eine Versicherung hatte Yan nicht. „Sie hatte zwar längst verstanden, dass ein schwerkranker Landbewohner eigentlich nur auf seinen Tod warten kann“, schrieb die Zeitung Nanfang Zhoumo. „Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.“ Am Ende waren es die Schulden, die sie in den Tod trieben, nicht ihre Krankheit. Ihr Bruder hingegen, der an der gleichen Nierenstörung litt, entschied sich von vornherein, seiner Familie nicht zur Last zu fallen und auf eine Behandlung zu verzichten. Vier Monate später war er tot.

Für Aufsehen sorgte auch der Fall des Arztes Luo Jun aus dem südchinesischen Shenzhen, der im November 2011 von einem Vater zusammengeschlagen worden war. Die Frau des Angreifers hatte kurz zuvor ein Baby zur Welt gebracht, das unter schwerem Sauerstoffmangel litt. Aus Angst vor hohen Behandlungskosten und möglichen Folgebehinderungen hatte der Vater von dem Arzt verlangt, das Baby sterben zu lassen. Doch der Mediziner rettete das Kind. „Was ist China für ein Land, in dem Väter ihre Kinder töten wollen, aus Angst, dass sie die Familie ruinieren“, sinnierte ein Blogger im Internet. „Bis unser Volk in Wohlstand lebt, ist es noch ein langer Weg.“
Weil die Ungleichheit sozialen Sprengstoff birgt, baut die Kommunistische Partei neuerdings ein Versicherungssystem auf, das auch den Landbewohnern und den mehr als 200 Millionen Wanderarbeitern, die zusammen etwa zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung ausmachen, eine gewisse Absicherung gibt. Seit 2010 werden Bauern angehalten, für eine kleine Summe eine staatliche Police zu kaufen. Viele Leistungen werden dafür zwar nicht geboten, die Aktion hat bisher eher pädagogischen Charakter und soll den Bauern das Konzept der Versicherung nahebringen und sie anregen, bei privaten Anbietern weitere Abdeckung zu kaufen. Laut offiziellen Angaben sind auf diese Weise mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Teil des staatlichen Gesundheitssystems.

Nutzlose Versicherungen

Erfahrungen mit dieser Minimalversicherung machte Sun Defang. Die 40jährige stammt aus einem Dorf in der Provinz Anhui. Als junge Frau ging sie nach Schanghai, um in einer Textilfabrik Geld zu verdienen. Vor neun Jahren zog sie nach Peking, wo sie als Haushälterin arbeitet. Obwohl sie seit fast zwanzig Jahren in der Stadt lebt und nur zum Neujahrsfest für zwei Wochen in ihre Heimat zurückfährt, gilt sie nach dem chinesischen Meldesystem noch immer als Landbewohnerin. Rund 3000 Yuan (360 Euro) verdient sie im Monat, bar auf die Hand, ohne Steuern oder Sozialabgaben. Allerdings schloss auch sie die Bauernversicherung ab, für die der Dorfbürgermeister einmal im Jahr die Gebühren einsammelt.

Als sie kurz darauf schwanger wurde, zog sie in die Heimat zurück. „Das Kind in Peking zu bekommen wäre wahnsinnig teuer gewesen“, erzählt sie. Im Landkrankenhaus sollte die Entbindung dagegen nur 2000 Yuan (240 Euro) kosten, 70 Prozent davon würde die Versicherung übernehmen. Doch nach Voruntersuchungen befand ihr Arzt, dass es bei der Geburt Komplikationen geben könnte und lehnte die Behandlung ab. Sun ging daraufhin in eine besser ausgestattete Stadtklinik. Dort kostete die Entbindung das Doppelte, 4000 Yuan (480 Euro), ihre Versicherung übernahm aber nur 30 Prozent. 2800 Yuan (338 Euro), rund einen Monatslohn, musste Sun selbst aufbringen. „Diese Versicherung ist keine große Hilfe“, sagt Sun. „Sie reduziert die Kosten nur wenig, das meiste muss man selbst tragen.“ Einfache Behandlungen übernimmt die Versicherung ohnehin nicht.

Allerdings hat die pädagogische Absicht des Staates bei Sun Wirkung gezeigt. Für ihre Tochter hat sie eine kommerzielle Versicherung gekauft. Fünf Jahre lang muss sie jährlich 3800 Yuan (458 Euro) bezahlen, dann soll ihr Kind bis zum 18. Lebensjahr abgesichert sein, lautet das Versprechen.

Welche Leistungen das umfasst, weiß sie allerdings nicht. „Die Verträge verstehe ich nicht, aber Freunde haben mir gesagt, das sei eine gute Sache“, sagt Sun. „Ich will mir doch um mein Baby keine Sorgen machen müssen.“

Gesundheit in Zahlen

LandAnteil am BIP für Aufwendungen für das Gesundheitswesen, in Prozent Aufwendungen für das Gesundheitswesen, in Milliarden DollarAufwend.für das Gesundheitswesen pro Kopf, in Internationalen Dollar*Durchschnittliche Lebenserwartung in Jahren
Deutschland11,6374,0412980
China5,1278,430974
Großbritannien9,8217,3339980
Indien4,252,613265
USA17,42441,0741079
Schweden10,047,1369081

Wie beurteilen die Deutschen ... ?

... die Qualität der Gesundheitsversorgung insgesamt :gut/sehr gut: 87 Prozent
... die Qualität der medizinischen Versorgung durch praktische Ärzte:eher gut/gut: 92 Prozent
... die Qualität der medizinischen Versorgung durch Fachärzte:eher gut/gut: 90 Prozent
... die Qualität der medizinischen Versorgung durch Krankenhäuser:eher gut/gut: 87 Prozent
... die Nähe zu praktischen Ärzten:eher gut/gut: 94 Prozent
... die Nähe zu Krankenhäusern:eher gut/gut: 90 Prozent
... die Nähe zu Fachärzten:eher gut/gut: 84 Prozent
... die Wartezeit bei praktischen Ärzten:eher gut/gut: 67 Prozent
... die Wartezeit in Krankenhäusern:eher gut/gut: 62 Prozent
... die Wartezeit bei Fachärzten:eher gut/gut: 55 Prozent

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.