Was ist fair?

Von ihren Produkten erwarten wir alles: Medikamente, die helfen, heilen, lindern und außerdem günstig sind. Von ihnen selbst halten wir wenig: Die Unternehmen, die Arzneimittel herstellen, genießen keinen guten Ruf. Ihr Geschäft ist die Gesundheit, oft geht es um Leben oder Tod. Aber auf dem Markt der Ängste und Hoffnungen geht es auch um Milliarden. Und damit automatisch um Moral.




Irgendwann musste es ja fallen, das böse Wort. Seit geraumer Zeit munkelte, raunte, säuselte es im Wahlkampf durch die Straßen und Säle: „Die grüne Spitzenkandidatin, das ist eine Pharmalobbyistin.“ Gemeint war Andrea Fischer, gut zwei Jahre Bundesgesundheitsministerin unter Gerhard Schröder. Im vergangenen Jahr versuchte sie ein kleines politisches Comeback. Sie wollte Bürgermeisterin im Berliner Bezirk Mitte werden. Ihre Chancen standen nicht schlecht. Aber dann passierte es.

Der SPD-Amtsinhaber zog die Pharma-Karte. „Der musste sich nur auf den Marktplatz stellen und sagen: ‚Die grüne Tusse arbeitet für die Pharmaindustrie‘“, erinnert sich Fischer. Der SPD-Mann sagte es wohl weniger grob, aber mit einem Unterton, der nahelegte, dass es sich dabei um etwas ganz und gar Ehrenrühriges handeln musste. Der Stachel saß, klein, spitz und giftig.

Parteifreunde sprachen die grüne Spitzenkandidatin besorgt an. „Lass dir ein paar kluge Sätze einfallen“, mahnte ein alter Kollege – wohl wissend, dass es gegen den Vorwurf der Kumpanei mit der Pharmabranche kein gutes Argument geben würde. „Ich hätte genauso gut für die Freigabe von Rüstungsexporten oder für die Renaissance der Kernenergie plädieren können“, sagt Fischer. „Das wäre auch nicht schlimmer gewesen.“

Was hatte sie falsch gemacht? Nach dem Verlust des Ministeramtes, in dem sie nach Meinung vieler Parteifreunde nicht entschieden genug gegen die Pharmalobby vorgegangen war, hatte sie bei einer Kommunikationsagentur den Bereich Healthcare übernommen und Pharmaunternehmen beraten. Und Dinge gesagt, die nicht ins vertraute Gut-Böse-Schema passten. Dass im Management der Pharmafirmen nicht nur Schurken am Werk sind, zum Beispiel. Das reichte.

Andrea Fischer wurde nicht Bezirksbürgermeisterin. Ihrer Partei fehlten am Ende fünf Prozent. Die einstige Ministerin müht sich jetzt als einfache Bezirksverordnete durch die Niederungen der Lokalpolitik. Ob sie ohne den Lobbyismus-Vorwurf Bürgermeisterin geworden wäre? Vielleicht war es der entscheidende Nackenschlag.

Nun könnte man sagen: klein-klein. Was hat das Polit-Kabarett von Berlin-Mitte mit der großen Bühne des Landes zu tun? Der Blick in die Zahlen belegt es: Die Pharmaindustrie hat ein enormes Image-Problem.

Ihr Ansehen, so wird es immer wieder kolportiert und von Pharmamanagern nicht selten mit einem Hauch Selbstmitleid wiederholt, rangiert nur knapp vor der Rüstungs- und Atomindustrie. Lediglich 56 Prozent der Bundesbürger haben eine gute oder sehr gute Meinung von den forschenden Pharmaherstellern, ergab eine Allensbach-Umfrage im Jahr 2010. Den Produzenten von Nachahmer-Präparaten vertrauen sogar nur 34 Prozent der Befragten. Demgegenüber erscheinen Ärzte und Apotheker mit Zustimmungswerten um die 90 Prozent fast über jeden Zweifel erhaben.

Viele Wünsche, wenig Vertrauen

Es ist paradox. Die Unternehmen der Pharmaindustrie stellen Arzneimittel her, die Leben retten und Krankheiten heilen; sie treiben die Forschung voran, schaffen Wissen, stärken den Standort und bieten krisenfeste, gut bezahlte Arbeit für mehr als 100 000 Menschen in Deutschland – trotzdem wird jede Kampagne gegen die „Pharma-Multis“ mit öffentlichem Beifall bedacht. Für Politiker im Popularitätstief sind ein paar knackige Sätze gegen die Pharmalobby, am besten über die Bild-Zeitung herausposaunt, das beste Rezept für einen Beliebtheits-Schub. Alle Gesundheitsminister der vergangenen 20 Jahre, von Horst Seehofer bis Daniel Bahr, werden das bestätigen.

Gleichzeitig sind die Erwartungen der Bevölkerung hoch: Selbstverständlich wollen wir die besten Medikamente. Der neueste Stand der Forschung ist Pflicht, die Forderung nach Innovationen überdeutlich artikuliert. Laut einer Allensbach-Studie stehen Medikamente gegen Krebs für 95 Prozent der Befragten ganz oben auf der Wunschliste. 87 Prozent erwarten Durchbrüche bei der Behandlung von Alterskrankheiten, 79 Prozent bei der Bekämpfung von Aids.

Genauso einhellig ist allerdings auch das Urteil über das wirtschaftliche Gebaren der Hersteller. 88 Prozent der Deutschen finden, dass die Unternehmen für ihre Medikamente zu hohe Preise verlangen und die Hauptverantwortung für die Finanzmisere im Gesundheitswesen tragen. Aussagen wie „Nur am Gewinn orientiert“ und „Preistreiberei“ finden breite Zustimmung.

Dass von den 278 Milliarden Euro, die im Jahr 2009 in Deutschland für die Gesundheit der Bürger ausgegeben wurden, gerade einmal 16 Prozent auf Arzneimittel entfielen – wovon zirka zehn Prozent bei den Herstellern landen, der Rest bleibt im Handel –, und dass die Entwicklung neuer Medikamente regelmäßig Milliarden verschlingt, dringt offenbar ebenso wenig in die Öffentlichkeit wie die Tatsache, dass Pharma hierzulande kein Grüppchen von wenigen Giganten ist, sondern eine Menge höchst unterschiedlicher, vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen versammelt. Hersteller von homöopathischen Globuli-Kügelchen oder Naturheilpräparaten zählen ebenso dazu wie etablierte Generika-Fabrikanten, Diagnostikfirmen, Biotechnologie-Start-ups und Spezialisten für bestimmte Krankheiten wie Epilepsie oder Parkinson.

Aber so ist es nun einmal. Der Pharmamarkt ist eben kein Markt wie der für Autos, Digitalkameras oder Brausegetränke. Es geht nicht um „nice to have“, sondern um die Gesundheit, in vielen Fällen sogar um Leben oder Tod. Es geht um ein paar zusätzliche Jahre schmerzfreien Lebens bei schwersten chronischen Erkrankungen. Es geht um Hoffnung auf den Sieg über Krankheiten, die bislang als unheilbar galten. Um Hoffnung auf einen Etappensieg gegen den Tod durch Krebs, Aids, Multiple Sklerose, Knochenschwund.

Niemand bezweifelt, dass die Arzneimittelforschung Millionen kranker Menschen heute ein weitgehend schmerz-freies und normales Leben ermöglicht. Psychisch Kranken etwa, die früher in Zwangsjacken gesteckt und in Irrenanstalten an ihre Betten festgegurtet wurden wie gefährliche Tiere. Oder Menschen mit einer HIV-Infektion.

1987 brachte die Pharmaindustrie das erste Medikament zur Behandlung auf den Markt; seit 1985 haben die Hersteller Präparate mit insgesamt 25 verschiedenen Wirkstoffen entwickelt – mehr als im selben Zeitraum gegen Diabetes. Dank der Arzneien bringen infizierte Mütter mittlerweile fast durchweg gesunde Kinder zur Welt. HIV-Kranke können ein fast normales Leben führen; ihre Lebenserwartung erreicht annähernd die von Gesunden.

Aber natürlich geht es auch um eine Menge Geld. Pharma ist Big Business. Im Jahr 2010 produzierte die Branche in Deutschland, dem drittgrößten Arzneimittelmarkt der Welt hinter den USA und Japan, Medikamente im Wert von 27 Milliarden Euro. Und das bei ziemlich auskömmlichen Gewinnspannen. Die Medikamente, die wir schlucken, bringen mehr Rendite als viele andere Industrieprodukte.

Immer wieder kursieren Berichte von traumhaften Umsatzrenditen. Bayer erreichte 2009 im Medikamentengeschäft 27 Prozent, Merck meldete im selben Jahr immerhin noch fast 20. Und auch wenn der Branchenschnitt wohl erheblich darunter rangiert, verdienen die Hersteller noch immer mehr als die zehn Prozent, die in anderen Wirtschaftszweigen als extrem guter Wert gelten. Damit reicht es auch für üppige Managergehälter. Bei Novartis beispielsweise strichen der Konzernchef und der Verwaltungsratspräsident im vergangenen Jahr ein Salär von zusammen mehr als 24 Millionen Euro ein.

Die Börse bestimmt die Regeln

Konzernhochzeiten und spektakuläre Übernahmen sollten die Renditen noch höher schrauben. In den vergangenen 15 Jahren zählten die Pharmafirmen zu den Lieblingskunden der Dealmaker aus den Fusions- und Übernahmesparten der Investmentbanken. 10, 20, 40, 70 Milliarden Dollar – irgendein Konzern hatte immer die Taschen voller Geld. In Deutschland führte das Fusionsfieber dazu, dass Traditionsunternehmen wie Hoechst oder Schering in größeren Konzernen auf- und schließlich untergingen. Angesichts der von den Kapitalmärkten getriebenen Mega-Deals keimt der Verdacht auf, dass die Unternehmen mehr am Wohl ihrer Aktionäre interessiert sind als am Wohl der Patienten, sich also verhalten wie Autohersteller oder Banken.

Oder sogar schlimmer. Denn es geht eben nicht nur um die Gewinne aus dem Verkauf von Autos oder Aktienfonds, sondern um einen Markt der Ängste und Hoffnungen – und damit um Moral in einem hochkomplexen Geflecht von Akteuren und Interessen.

Da sind die Patienten, die bestens versorgt werden wollen, mit ihrer Lebensweise oft genug aber nur wenig zur Gesundung beitragen, und denen der Preis eines Medikaments im Grunde egal ist – es sei denn, sie sollen zuzahlen oder höhere Krankenkassenbeiträge stemmen. Da sind die Ärzte, die sich ungern die Mühe machen, umfassende Informationen zu beschaffen, den Botschaften der Hersteller aber misstrauen und sich weder von der Industrie noch von den Kassen gern reinreden lassen, was sie verschreiben sollen.

Da sind die Krankenkassen, die sich bei ihren Mitgliedern profilieren und gleichzeitig an den Gewinnspeck der Vertragspartner wollen. Die Apotheker, die gern klagen, aber stets dafür sorgen, dass sie ein ordentliches Stück vom Kuchen abbekommen. Die Pharmafirmen, die in ihrer Preisgestaltung möglichst unbehelligt bleiben wollen, um in den ersten Jahren nach der Markteinführung eines Präparats einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften, bevor es für einen Bruchteil der Kosten von Generika-Herstellern abgekupfert werden kann.

Und da ist nicht zuletzt die Politik, die dafür sorgen muss, dass die Gesundheit auf Kassenrezept bezahlbar bleibt. Die rüden Eingriffe in die Preisbildung, derer sie sich regelmäßig bedient, würden auf jedem anderen Markt als Rückfall in die Planwirtschaft verteufelt.

In der Öffentlichkeit dominiert das Bild der Pharmaindustrie als monolithischer Block weniger börsennotierter Großkonzerne. Kein Wunder, schließlich waren sie es, die in der Vergangenheit immer wieder für Diskussionen und öffentliche Empörung sorgten. Wenn Berichte über schwere Nebenwirkungen auftauchten, wie beim Blutfettsenker Lipobay. Wenn ein Medikament weniger wirksam war als angepriesen, wie jüngst beim Grippemittel Tamiflu. Oder wenn ein Hersteller beim Preis besonders drastisch zulangte wie Novartis bei seinem Lucentis, das 30-mal so viel kosten sollte wie das nahezu wirkstoffgleiche Avastin.

Was den Kleinen umbrächte ...

Tatsächlich trifft das Bild vom fröhlichen Oligopol weniger Konzerne nicht ansatzweise die Realität. Anders als etwa in den USA ist die Branche in Deutschland überwiegend mittelstän disch geprägt. Nur gut fünf Prozent der 900 pharmazeutischen Unternehmen hierzulande beschäftigen mehr als 500 Mitarbeiter. Knapp 80 Prozent haben weniger als 100 Beschäftigte, fast zwei Drittel sind eigentümergeführt.

Unter den zehn größten Pharmafirmen der Welt findet sich kein deutsches Unternehmen. Boehringer Ingelheim und Bayer rangieren erst auf den Plätzen 12 und 13. Die einst so ruhmreichen deutschen Arzneimittelmarken sind heute weitgehend, die Generika-Hersteller nahezu komplett in ausländischer Hand. Hexal, Schwarz-Pharma, Merck Dura, Altana-Pharma und Ratiopharm gingen in den vergangenen Jahren an ausländische Wettbewerber oder Finanzinvestoren.
DIE Pharmaindustrie? Branchenriesen und Kleinproduzenten, Forschungshochburgen und Nachahmer, Etablierte und Start-ups verfolgen höchst unterschiedliche Interessen. Dass beispielsweise die Hersteller neuer, patentgeschützter Medikamente bis vor Kurzem ihre Preise nach Belieben festsetzen konnten, ließ bei den Generika-Herstellern schlechte Stimmung aufkommen. Je höher die Forschenden kalkulierten, desto mehr sah sich die Politik gefordert, den Nachahmern Zwangsrabatte abzutrotzen, um die Gesamtausgaben für Arzneimittel zu deckeln.

Für einen Weltkonzern wie Pfizer geht es nicht gleich an die Existenz, wenn er auf dem deutschen Markt bei einem Präparat vorübergehend Marktanteile verliert. Wie im Fall des Cholesterinsenkers Sortis, bei dem sich Pfizer der vom deutschen Gesundheitsministerium angeordneten Preissenkung verweigerte. Weil die Mehrzahl der Patienten nicht zu einer Zuzahlung bereit war und sich stattdessen preisgünstigere Präparate verschreiben ließ, brachen binnen weniger Monate 85 Prozent des deutschen Sortis-Umsatzes weg.

Das sitzt der Hersteller aus – seit mittlerweile sieben Jahren. Ein Mittelständler, der nahezu seinen gesamten Umsatz in Deutschland erwirtschaftet, hätte das nicht überlebt.

Auch im Zusammenhang mit neu entdeckten Wirkstoffen fallen seit Jahren fast nur noch die Namen der Branchenriesen. Denn vor allem sie verfügen über das Finanzpolster, das teure Medikamentenentwicklung hierzulande erst möglich macht.

Von 5000 bis 10 000 getesteten Substanzen schafft nach rund zwölf bis fünfzehn Jahren Forschungs- und Entwicklungszeit im Schnitt lediglich ein einziger Wirkstoff den Zugang zum Markt. Einschließlich der zahllosen Fehlschläge verschlingt die Entwicklung eines neuen Präparats durchschnittlich eine halbe Milliarde Euro, in Einzelfällen auch mehr als das Doppelte. Und damit ist noch nicht gesagt, dass sich das Medikament tatsächlich zm Blockbuster mit einem weltweiten Umsatz von mindestens einer Milliarde Dollar jährlich entwickelt.

Das sind schwierige Bedingungen – und sie verschlechtern sich kontinuierlich. Eine Vielzahl auslaufender Patente, die stetig rigidere Zulassungspraxis mit dem für die Erstattung geforderten Nachweis eines therapeutischen Zusatznutzens sowie das dichte Netz von Eingriffen der Gesundheitspolitik haben die Forschung unter zunehmenden Druck gesetzt.

Gemeinsam schlauer

Deshalb setzen viele Unternehmen mittlerweile auf Kooperation. Manchmal finden Große zueinander, beispielsweise GlaxoSmithKline und Pfizer bei ihrem Joint Venture in der Aids-Forschung oder der US-Konzern Merck und sein britisch-schwedischer Konkurrent AstraZeneca beim Test für neue Krebsmedikamente.

Anderswo kooperieren Blockbuster-Hersteller mit Biotech-Start-ups in der Hoffnung, mithilfe der kleinen Kreativen ihre leeren Produkt-Pipelines schneller aufzufüllen. Auf der Suche nach den Arzneimitteln der Zukunft verschmelzen Know-how-Welten, die vor wenigen Jahren noch streng voneinander abgeschottet waren. So arbeiten Pharmakonzerne und Diagnostika-Hersteller symbiotisch an Medikamenten, die viel präziser als ihre Vorgänger auf die einzelnen Patienten zugeschnitten sind und das Risiko erfolgloser Therapien mindern.

Im Fokus dieser Bündnisse stehen beispielsweise Chemotherapien, die besser und schneller anschlagen und weniger Nebenwirkungen mit sich bringen sollen als die bisherigen Präparate. In Deutschland besteht nach Angaben des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller in diesem Jahr Aussicht auf mehr als 20 Medikamente mit neuem Wirkstoff, insbesondere gegen Krebs und Infektionskrankheiten.

Dahinter stecken Millionen von Tests und Versuchsreihen, denn auch wenn der Glanz der Industrie hierzulande verblasst: Die Pharmaindustrie zählt noch immer zu den am stärksten wissensgetriebenen Wirtschaftszweigen. 16 Prozent ihrer Beschäftigten arbeiten in Forschung und Entwicklung – andere Branchen der Spitzentechnologie bringen es im Schnitt auf gut 13 Prozent. Auch beim Anteil des Forschungsbudgets am Branchenumsatz liegt Pharma mit 14,4 Prozent deutlich vor Elektronik/Messtechnik/Optik (12 Prozent), Automobil- (9,9 Prozent) oder Maschinenbau (6,3 Prozent). Gegen die fünf Milliarden Euro, die allein der US-Konzern Pfizer in diesem Jahr in die Suche nach neuen Wirkstoffen steckt, nehmen sich die Forschungsausgaben der gesamten deutschen Pharmaindustrie in Höhe von 5,5 Milliarden Euro allerdings vergleichsweise bescheiden aus.

Dafür kommen die Pharmahersteller – im Unterschied zur Autoindustrie, in deren üppig dimensionierten Fabriken gut 700 000 Mitarbeiter etwa fünfeinhalb Millionen Fahrzeuge bauen – mit relativ wenig Beschäftigten aus. 103 000 Mitarbeiter stehen aktuell auf den Gehaltslisten der Arzneimittelunternehmen, ihr Einkommen liegt etwa drei Prozent über den Gehältern in anderen Spitzentechnologiebranchen.

Zudem genießen sie bislang den Vorzug eines relativ krisensicheren Jobs. Weil Konjunkturschwankungen kaum auf die Industrie durchschlagen, gab es auch in Rezessionszeiten keine großen Entlassungswellen. Die Menschen benötigen Medikamente – egal, ob die Wirtschaft boomt oder kränkelt. An den letzten großen Streik kann sich kaum noch jemand erinnern. Und von der Stetigkeit der Branche profitierten nicht zuletzt auch die Anleger. Während sich die Dax-Kurse seit Mitte der Neunzigerjahre im Schnitt knapp verdreifachten, stieg der Wert der Pharma-Aktien um das Siebenfache. Im vergangenen Jahr, als der wichtigste deutsche Börsenindex um knapp 15 Prozent einbrach, verzeichneten die Aktien im deutschen Segment Pharma & Healthcare immer noch ein Plus von gut acht Prozent.

Entsprechend beliebt sind die Besten der Branche als Investition für Anleger – aber auch als Arbeitgeber, vor allem bei Hochschulabsolventen aus den Naturwissenschaften. Für junge Chemiker ist ein Job in der forschungsintensiven Pharmaindustrie so begehrt wie für Ingenieure eine Anstellung bei Audi, BMW oder Siemens. Im Wirtschaftswoche-Ranking der Wunsch-Arbeitgeber von Naturwissenschaftlern landete Bayer voriges Jahr gleich hinter der Max-Planck- und der Fraunhofer-Gesellschaft auf Platz 3, Roche belegte Platz 5, Novartis Platz 6. Auch Merck und Boehringer Ingelheim schafften es unter die Top 10.

Aller Konjunkturfestigkeit zum Trotz hat die Branche in den vergangenen Jahren jedoch auch 14 000 Arbeitsplätze verloren. 2010 wurden vier Prozent der Stellen gestrichen, im Jahr zuvor sogar acht Prozent. Der Abbau traf vor allem die Generika-Hersteller. Nach der Gesundheitsreform von 2007 sahen sich viele Unternehmen gezwungen, ihren Außendienst drastisch zu verkleinern. Etliche tausend Pharmavertreter wurden arbeitslos.

Die Zeiten schier unendlichen Wachstums sind für die Industrie vorbei. Neue Erkenntnisse, Durchbrüche und Fortschrittsgewinne wie in den Anfängen der medizinischen Forschung sind heute nur noch schwer zu erzielen. In den Geburtsjahren der deutschen Pharmaindustrie ging es um den Kampf gegen Fieber, Wundbrand, Schmerzen, Diphterie. Am 10. August 1897 gelang es Felix Hoffmann bei Bayer, den Wirkstoff Acetylsalicylsäure in reiner und stabiler Form herzustellen. Das Unternehmen gab dem Produkt den Namen „Aspirin“. Es wurde zum Symbol für den weltweiten Erfolg der deutschen Chemieindustrie, für ihren bemerkenswerten Aufstieg zur „Apotheke der Welt“ – und den Deutschlands zur zweitgrößten Handelsnation.

Die junge Pharmaindustrie zählte neben der Chemie, dem Maschinenbau und der Elektrotechnik zur New Economy des Kaiserreichs, zu den neuen Leitbranchen, die den Nachzügler Deutschland in ein Hightech-Aufsteigerland verwandelten. Hoechst, Bayer, Schering und Merck wurden Global Player des „ersten deutschen Wirtschaftswunders“, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler die Epoche des fast grenzenlosen Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus vor dem Ersten Weltkrieg nennt. Binnen weniger Jahre wurden damals aus Werkstätten Weltkonzerne. Die Bewunderung schien grenzenlos.

Ein paar Tage nach der Entdeckung des Aspirins schufen die Bayer-Forscher im Labor eine weitere Substanz, die sich zu einem echten Blockbuster jener Jahre entwickelte und in den folgenden Jahrzehnten weltweit als Hustenlöser und Schmerzmittel äußerst erfolgreich verkauft wurde. Bayer startete einen noch nie da gewesenen Werbefeldzug und verschickte Tausende von Gratisproben an Ärzte. „Die Nachbestellungen“, hieß es später, „übertrafen alle Erwartungen.“

Dass Ärzte bereits kurz nach der Markteinführung auf das Suchtpotenzial des Wundermedikaments hingewiesen hatten, interessierte den Hersteller wenig. Aber mit dem Namen des Präparats – Heroin – begann die Debatte um die Janusköpfigkeit pharmazeutischer Innovationen.

Contergan: Skandal mit Folgen

Sechs Jahrzehnte nach der erfolgreichen Heroin-Synthese verlor die Industrie endgültig ihre Unschuld. Der größte deutsche Arzneimittelskandal aller Zeiten ist seither untrennbar mit einem Namen verbunden: Contergan.

Das, wie damals üblich, an Nagetieren, nicht aber an mit Menschen näher verwandten Säugern geschweige denn an Menschen selbst getestete Schlafmittel mit dem Wirkstoff Thalidomid des Aachener Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal war ab 1957 in den Apotheken rezeptfrei erhältlich. Bereits ein Jahr später registrierte man eine Zunahme von Fehlbildungen bei Neugeborenen, vor allem verkümmerte Arme und Beine. Obwohl spätestens 1961 der Zusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan während der Schwangerschaft und den Missbildungen evident war, reagierte der Hersteller zunächst nicht. Grünenthal vertrieb das Medikament weiter und drohte für den Fall eines Verbots mit Regressansprüchen. Insgesamt kamen damals allein in Deutschland etwa 5000 contergangeschädigte Kinder zur Welt.

Die Tragödie hatte weitreichende Folgen: ungeheures Leid für Tausende Menschen und ihre Familien; einen Prozess, in dem sich der Eigentümer des Unternehmens und leitende Mitarbeiter verantworten mussten; einen Vergleich mit einer Entschädigungszahlung in Höhe von 100 Millionen Mark. Und eine 1978 in Kraft getretene, tiefgreifende Reform des Arzneimittelgesetzes mit den heute gültigen strengen Zulassungsverfahren, vor allem dem verpflichtenden Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.

Als 1968 der Contergan-Prozess begann, startete eine junge Frau aus Aachen ihr Lehramtsstudium. Die Contergan-Kinder, erinnert sie sich, gehörten damals zum Stadtbild. In Aachen, dem Firmensitz des Herstellers, war das Schlafmittel besonders häufig verkauft worden. Ulla Schmidt ahnte nicht, dass sie es als Gesundheitsministerin einmal mit der Zulassung neuer Arzneimittel zu tun haben würde oder mit der Frage, ob der Profit Vorrang vor dem Wohl des Patienten hat.

Acht Jahre lang, von 2001 bis 2009, hatte die Sozialdemokratin das Ministeramt inne. Es gibt kaum einen Pharmamanager oder Verbandsvertreter, mit dem sie nicht über Preise und Zulassungsverfahren verhandelt hätte, über Zwangsrabatte und Kosten-Nutzen-Bewertungen. „Im Gesundheitswesen geht es meist nicht um Rationalität“, sagt sie im Rückblick. „Es geht um Emotionen, um Ängste und Hoffnungen. Die eigentliche Macht der Pharmakonzerne besteht darin, dass sie mit diesen Gefühlen der Menschen spielen können.“

Wie will man einem Patienten in Todesangst auch mit vernünftigen Argumenten begegnen? Transplantationspatienten etwa sind auch nach einer geglückten Organspende für den Rest ihres Lebens auf Medikamente angewiesen, damit das neue Organ nicht vom Immunsystem abgestoßen wird. „Geht jetzt meine neue Leber kaputt?“, fragen sie besorgt, wenn der Arzt ihnen nicht mehr das gewohnte Medikament verschreibt, sondern ein preiswertes Nachahmerpräparat. Rationale Erklärungen?

Aus Sorgen wird Munition

Wer ein Auto kauft und sich keinen Mercedes leisten kann, wählt vielleicht einen VW. Wem auch der VW zu teuer ist, wird fündig beim Dacia-Händler. Dort kostet ein neues Auto 7000 Euro. „Aber der Patient gibt sich eben nicht mit dem Dacia zufrieden“, sagt Ulla Schmidt. „Er will immer und auf jeden Fall den Mercedes. Wer krank ist, möchte auf der Höhe des medizinischen Fortschritts behandelt werden.“

Als sie noch oberste Gesundheitspolitikerin war, demonstrierten die Eltern zuckerkranker Kinder vor ihrem Ministerium. Es ging um die Erstattung eines vergleichsweise teuren speziellen Diabetesmittels durch die Krankenkassen. Die vom Hersteller des Präparats mit Argumenten munitionierten Eltern fürchteten, dass ihre Kinder ohne das Medikament früher sterben müssten. Schmidt gab nach und widersprach dem Beschluss des G-BA.

In anderen Fällen blieb sie eisern. „Sie werden hier in Deutschland nicht diese Preise verlangen!“, rief sie den Managern ausländischer Pharmakonzerne einmal zu. Allerdings schlägt sie sich auch nicht auf die Seite der Krankenkassen. „Die würden die Preise am liebsten immer weiter drücken, und bald hätten wir keine Pharmaforschung mehr. Wenn jemand forscht, muss es sich auch rentieren. Es geht um faire Preise.“

Doch was ist das, ein fairer Preis? Ist es der, den die Hersteller festlegen, wie früher? Ist es ein Preis mit diktierten Rabatten? Einer, bei dem die Politik einfach einen Prozentsatz abzieht? Sind sechs Prozent Abzug dann fair, 16 aber nicht mehr? Ist es fair, wenn zwei Oligopolisten, der Produzent und die gesetzliche Krankenversicherung, den Preis unter sich aushandeln? Wie tief müssen, wie tief dürfen Schnitte ins Fleisch der Pharmahersteller sein? Wer definiert die Grenzen? Und für wen? Darf die Behandlung einer seltenen Krankheit mehr kosten als die Versorgung mit Mitteln, die das Gros der Bevölkerung braucht? Wie viel Wert hat ein Leben, wie viel die Verlängerung eines Lebens um wenige Monate?

Ulla Schmidts Amtsvorgängerin Andrea Fischer erinnert sich an ihre erste Preissenkungsrunde. Kurz nachdem sie Ministerin geworden war, saß sie Vertretern der Pharmaindustrie gegenüber. Noch ein paar Wochen zuvor hätte sie mit keinem der Namen etwas anfangen können, sie hatte sich nie mit Gesundheitspolitik befasst. Um wie viele Milliarden Euro es an diesem Tag ging, weiß sie heute nicht mehr. An die Reaktion von Bürgern und Parteifreunden hingegen erinnert sie sich gut. „Die einen sagten: ‚Also Andrea, ich finde, du müsstest viel entschiedener gegen die Pharmaindustrie vorgehen.‘“ Und die anderen? „Die klopften mir auf die Schulter und sagten: ‚Ich bewundere Sie dafür, dass Sie es mit der Pharmaindustrie aufgenommen haben.‘“

Vierzehn Jahre ist das jetzt her. Seitdem ist viel passiert. Deutschland hat medizinische Fortschritte errungen, über Kosten diskutiert, drei weitere Gesundheitsminister und fünf Gesundheitsreformen erlebt. Doch die jüngsten Erfahrungen Andrea Fischers belegen: Das alte Schwarz-Weiß-Schema ist geblieben. Pharma ist böse. Es wäre an der Zeit für ein paar Grautöne.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.