Warum sind die meisten Arzneien, mit denen Kinder behandelt werden, gar nicht für sie zugelassen?

Kranke Kleinkinder bringen Ärzte häufig in eine Zwickmühle. Rund zwei Drittel aller Medikamente haben nämlich nur eine Zulassung für erwachsene Patienten. Doch ohne spezielle Arznei, deren Dosierung klinisch geprüft und die kindgerecht aufbereitet ist – etwa als Saft oder in Tropfen –, bleibt Medizinern nur eine Chance: improvisieren.




Die Ärzte müssen Kinder wie kleine Erwachsene behandeln, sie rechnen die Dosierung des Wirkstoffs auf Größe und Gewicht ihrer Patienten herunter und hoffen, dass es gut geht. Aber der Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der genehmigten Zulassung (Off-Label-Use) ist riskant. „Die Entwicklung der Kinder verläuft nicht linear“, warnt Hannsjörg Seyberth, der in der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin die Kommission für Arzneimittelsicherheit leitet. „Man kann die Dosis nicht einfach klein rechnen.“

Wie Erfahrungen zeigen, brauchen Neugeborene mal größere Wirkstoffmengen als Säuglinge, mal geringere. Manche Arzneimittel wirken bei Kleinkindern erst in der zweieinhalbfachen Erwachsenen-Dosis, andere wiederum sind von vornherein tabu.

Die Enzyme im Kinderkörper haben eine andere Aktivität als in Erwachsenen, sodass Wirkstoffe mitunter viel langsamer abgebaut werden – manche auch gar nicht. Ärzte müssen sich darauf einstellen, dass junge Nervenbahnen besonders empfindlich und die Organe von Kindern noch nicht ausgereift sind.

Das macht jede Behandlung zur Gratwanderung. Der Marburger Pädiater Seyberth beziffert den Anstieg der Komplikationsrate aus Erfahrung auf etwa 50 Prozent. Deswegen werde im ärztlichen Alltag auf solche Mittel möglichst verzichtet. Doch auf einer Intensivstation mit Kinderbetten und Brutkästen geht es oft gar nicht anders. Dort ist Off-Label-Use nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

„Bei Frühgeborenen liegt die Quote für Komplikationen meist über 90 Prozent“, sagt der Kinderarzt Wolfgang Rascher, pädiatrischer Intensivmediziner am Universitätsklinikum Erlangen und am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in einer Kommission für Kinder und Jugendliche zuständig. In den meisten Kinderkliniken werde etwa jedes zweite Medikament außerhalb der amtlichen Zulassung eingesetzt, in Kinderarztpraxen liege der Anteil bei zehn Prozent.

Mit einer EU-Verordnung aus dem Jahr 2006 wurden die Weichen gestellt, um dem Mangel an kindgerechten Medikamenten abzuhelfen. Arzneimittelhersteller müssen seitdem für neue Zulassungen generell auch Prüfkonzepte für Kinder ausarbeiten. Ausgenommen sind nur solche Krankheitsbilder, die bei Kindern nicht vorkommen, wie etwa Prostatakrebs oder Raucherlunge. Im Gegenzug wird der Patentschutz dann um sechs Monate verlängert.

Auch um für bereits auf dem Markt eingeführte Medikamente oder patentfreie Generika nachträglich die pädiatrische Zulassung zu erlangen, werden klinische Studien an Minderjährigen verlangt. Für diesen Aufwand wird Pharmaunternehmen ein zehnjähriger Unterlagenschutz gegenüber Wettbewerbern eingeräumt.

Doch die Resonanz zeigt: Neue Richtlinien allein bringen noch keine bessere Versorgung mit geeigneten Arzneien und wirken auch nicht im Handumdrehen. In den ersten drei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung stieg die Zahl der Anträge um 1,2 Prozent.

Insgesamt rund 800 Anträge zur Genehmigung eines pädiatrischen Prüfplans (PIP) gingen seit 2007 bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in London ein. Die meisten betreffen laut Pharma-Fachpresse neue, noch nicht zugelassene Wirkstoffe. Bis diese auch als kindgerechte Medikamente auf dem Markt sind und die Versorgungslage verbessern, vergehen Jahre. Was sich schon daraus ergibt, dass klinische Studien mit neu entwickelten Wirkstoffen zuerst an Erwachsenen erforderlich sind, bevor ihre Eignung – in angepasster Dosierung – überhaupt an Kindern erprobt werden darf.

Der Kinderarzt Hannsjörg Seyberth spricht dennoch von einer „Hinhaltetaktik“ seitens der Industrie. Die meisten Arzneimittel, mit denen Kinder im Krankenhaus behandelt würden, seien Generika. „Bei 80 Prozent der Präparate ist der Patentschutz bereits abgelaufen“, sagt er. Deshalb lassen sich nur wenige Hersteller nachträglich auf Studien für Wirkstoffe ein, die bereits auf dem Markt sind.

Durchaus nachvollziehbar aus Sicht der Industrie. „Unsere Wirkstoffe werden vor allem Kindern verordnet – obwohl sie dafür keine Zulassung haben“, sagt beispielsweise Martin Zentgraf, Geschäftsführer der Desitin Arzneimittel GmbH in Hamburg. „Von den Krankenkassen bekommen wir in jedem Fall nur den Festbetrag, egal, ob wir ein etabliertes Präparat für Kinder in einer neuen Darreichungsform entwickeln oder nicht. Es gibt also keinen Anreiz, weil das Präparat ja bereits in seiner alten Form die Patienten erreicht.“

Die geänderten Zulassungsregeln können sogar Innovation verhindern, wenn das pädiatrische Komitee der EMA die Richtlinien eng auslegt und Kinderstudien fordert. So plant Zentgrafs Unternehmen etwa, ein neues Kombinationspräparat gegen Migräne aus alten Wirkstoffen herzustellen. „Wir wissen bereits, dass diese Wirkstoffe bei Erwachsenen gut, bei Kindern dagegen nicht oder kaum wirken.“ Die Entwicklung allein für Erwachsene würde sich zwar lohnen. „Wir müssen jedoch damit rechnen, dass die Kommission Kinderstudien verlangt, obwohl wir nicht mit einem positiven Ausgang rechnen. Dies wiederum beeinträchtigt die Gesamtrentabilität so sehr, dass wir das Produkt nicht entwickeln würden.“

Ein weiteres Problem für Arzneimittelhersteller: Bei der Planung klinischer Studien an Kindern oder Jugendlichen in Deutschland ist es schwierig, junge Probanden zu finden. „Für Studien mit bereits zugelassenen Arzneimitteln ist das noch relativ einfach“, sagt Zentgraf. „Da gehen fast alle Eltern mit.“ Völlig anders bei frisch entwickelten Wirkstoffen. In solchen Fällen sei es fast unmöglich, das Einverständnis der Eltern zu erhalten.

Diese Tests wandern deshalb oft ins Ausland. Zwar sind Eltern in den USA oder in Osteuropa nicht weniger um ihren Nachwuchs besorgt als die Deutschen, doch für die Erprobung neuer Therapien eher aufgeschlossen – vielleicht als Folge überwiegend privat finanzierter Gesundheitssysteme.

Im Alltag deutscher Kinderärzte und pädiatrischer Stationen wird sich therapeutisch wohl erst etwas ändern, wenn sich für die pharmazeutischen Unternehmen mehr Anreize ergeben. Bis dahin wird es bei der Behandlung von Kindern vielfach Experimente geben, bei denen die Ärzte auf sich allein gestellt sind.

Für viele Erkrankungen haben Fachgesellschaften zwar Richtlinien für den Einsatz von Medikamenten außerhalb der regulären Zulassung erarbeitet, die zumindest eine grobe Richtung vorgeben. Trotzdem kostet es noch immer viel Zeit, einen Therapieplan für kleine Patienten aufzustellen. Mit „zwei bis drei Stunden im Schnitt“ rechnet Stefan Bernitzki, Kinderarzt und Neonatologe vom Herzzentrum des Universitätsklinikums Köln. Darin enthalten seien Recherchen in der Fachliteratur, Besprechungen mit Kollegen und die Suche nach verbindlichen Leitlinien. „In der wissenschaftlichen und rechtlichen Grauzone, in der wir uns bewegen, müssen wir unsere Entscheidungen immer sehr gut begründen können“, sagt Bernitzki. Denn im Zweifel haftet der Arzt bei Komplikationen.

Martin Zentgraf würde den Medizinern gern helfen. Wie alle Pharmahersteller verfolgt auch sein Unternehmen Veröffentlichungen über den Off-LabelUse der eigenen Wirkstoffe sehr genau. „Doch wir dürfen das Wissen nicht teilen, weil uns das als Werbung für den Off-Label-Gebrauch ausgelegt werden könnte.“ Nur wenn ein Arzt mit exakt formulierten Fragen käme, dürfe man Studien herausgeben.

Um den Mangel zu überbrücken und Wissen zu bündeln, helfen sich die Ärzte deshalb inzwischen selbst. Beispielsweise auf der Web-Plattform Mydosis, die der Kinderarzt Bernitzki eingerichtet hat. Dort werden Dosierempfehlungen zum Off-Label-Use in der pädiatrischen Praxis ähnlich wie bei Wikipedia zusammengeführt. Irgendwann könnten Kinderärzte dort ein Netzwerk knüpfen und ihre Erfahrungen koordinieren, hofft der Initiator.

Das wäre ein guter Anfang. Doch wirkliche Sicherheit – für die kleinen Patienten und ihre Ärzte – können nur systematische Studien schaffen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.