Der Gesundheitsexperte

Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, vormals Fachbereichsleiter Gesundheit/Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)




„Politiker und Krankenkassen erwarten von Patienten, dass sie sich bei Arzneimitteln rational verhalten. Aber Patienten handeln nicht immer rational. Die Heilungs-, ja Heilserwartungen gegenüber Medikamenten sind nicht selten übertrieben, das Risikobewusstsein dagegen ist eher schwach ausgeprägt. Verbraucher spielen eine Doppelrolle im System – als Patienten und als Versicherte. Wenn sie krank sind, wollen sie die optimale Versorgung um jeden Preis. Als Versicherte aber wollen sie geringe Beiträge zahlen und fragen sich, warum das alles so teuer ist. Verbraucher im Gesundheitswesen verhalten sich also durchaus ambivalent.

Dass sie den komplexen Pharmamarkt verstehen, kann man kaum erwarten. Aber sie können ihrer Systemverantwortung gerecht werden. Etwa bei
Generika, wenn sie in der Apotheke aufgrund der Rabattverträge der Krankenkasse plötzlich ein anderes Medikament erhalten und sich an
eine neue Tablette gewöhnen
müssen. Systemverantwortung
heißt dann: die Umstellung mit-
zumachen, damit meine Kran
kenkasse die Vorteile des Ra
battvertrages nutzen kann. Umso besser, wenn die Patienten einen Anreiz zum Mitmachen haben, weil sie zum Beispiel auf diese Medikamente keine Zuzahlungen leisten müssen.

Anders verhält es sich bei lebensverlängernden Arzneien, etwa in der Krebstherapie. Wenn es um die letzten Lebensmonate geht, ist ein Patient mitunter abhängig von einem sehr teuren Medikament. Da trägt er vor allem Verantwortung für sich selbst, finde ich. Nur er kann entscheiden, ob er noch eine dritte oder gar vierte aufreibende Behandlung durchstehen will. Die Kosten der Behandlung dürfen bei dieser sehr individuellen Entscheidung keine Rolle spielen.

Die Verantwortungsübernahme der Patienten kann man nicht erzwingen, aber fördern. Mehr unabhängige Informationen wären hilfreich. Bislang gibt es sie nur in Ansätzen, etwa beim IQWiG, bei der Unabhängigen Patientenberatung, der Stiftung Warentest und der Verbraucherzentrale. Diese Institutionen bilden aber kaum ein Gegengewicht zum Marketing der Industrie, die sich über Broschüren und das Internet direkt an Patienten wendet – was kritisch zu sehen ist. Wo für verschreibungspflichtige Arzneimittel frei geworben werden darf – wie in den USA –, verursachen die meistbeworbenen Arzneimittel auch die höchsten Kosten.

Als organisierte Patientenschaft Einfluss zu nehmen ist nicht leicht. Patienten haben vor allem symbolische Macht, deshalb spannen Industrie und Politik sie auch gern für ihre jeweiligen Interessen ein. Unternehmen sponsern Selbsthilfegruppen, wenn sie in diesem Indikationsbereich Arzneien anbieten, andere gehen leer aus. Politiker argumentieren mit dem Patientenwohl, wenn sie konfliktträchtige Entscheidungen begründen. So kommt es zu punktuellen Bündnissen und internen Konflikten, weshalb der Anspruch, mit einer Stimme zu sprechen, nicht immer erfüllt werden kann.

Dabei wollen Patienten eigentlich alle dasselbe: gute, innovative Medikamente. Die Industrie legt auch keinen Wert auf therapeutische Flops, insofern gibt es durchaus gemeinsame Interessen. Allerdings haben die Bedingungen in Deutschland in der Vergangenheit auch solche Firmen belohnt, die in einen übersättigten Markt weitere patentgeschützte Präparate ohne nachweisbaren Mehrnutzen eingeschleust haben. Dafür konnten satte Preise erzielt werden, ohne dass damit ein therapeutischer Fortschritt verbunden gewesen wäre. Auf der anderen Seite ist Forschung teuer, Flops sind unausweichlich – um das aufzufangen, braucht die Industrie Kapitalgeber mit hoher Risikobereitschaft und entsprechend hoher Renditeerwartung.

Die HIV-Therapie ist einer der letzten großen Innovationssprünge in der Pharmakotherapie. Heute tröpfelt es eher aus den Pipelines der Arzneimittelforscher. Trotzdem muss man sich sehr genau überlegen, ob man Neuheiten noch strenger und früher auf ihren zusätzlichen Nutzen prüft und damit Zulassungen verzögert. Wäre das in den neunziger Jahren bei den Medikamenten gegen HIV so gewesen, wären deutlich mehr Menschen gestorben.


Ich halte das AMNOG daher für einen guten Kompromiss, weil es Innovationen schnell zugänglich macht, wenn auch mitunter zu niedrigeren Preisen, als sich die Industrie das wünscht. Was auf den Markt kommt, entscheiden die Hersteller, und über die Erstattung wird auf Basis einer unabhängigen Nutzenbewertung verhandelt. Die Patienten sind auf jeden Fall mit Medikamenten versorgt. Außerdem lehren uns die Pharma-Skandale der Vergangenheit, dass das allerneueste Präparat nicht immer gleich das beste sein muss. Das zu akzeptieren ist auch ein Stück Systemverantwortung.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.