Das Geschenk der Selbstständigkeit

In Schwellenländern müssen Unternehmen oft die komplette Infrastruktur entwickeln. Für Siemens war das in Kolumbien nicht anders. Seit den achtziger Jahren fördern Konzern und Mitarbeiter dort wohltätige Projekte. Und eine Schule. Bald ist Schluss. Gut für die Kinder.




Die Reise hat ihn geschlaucht. Eine Woche lang ist Heinz Consul, 57, durch die Welt geflogen, von Bogotá nach Buenos Aires, weiter nach Auckland, zurück nach Buenos Aires, dann nach Paris, München, schließlich wieder nach Bogotá. 60 Stunden in der Luft, eine Gewalttour selbst für ihn, der für 6500 Mitarbeiter in neun südamerikanischen Ländern verantwortlich ist.

Eigentlich könnte der Mann sich jetzt zurücklehnen und von seinen Erfolgen erzählen, zum Beispiel davon, dass er vor fünf Jahren eine Siemens-Gruppe in Lateinamerika mit 400 Millionen Euro Umsatz übernommen und den Erlös inzwischen verdreifacht hat. Aber Chepe hat mal wieder gewütet. Kopfschüttelnd steht Heinz Consul an der Fensterfront seines Büros in der vierten Etage der Siemens-Zentrale und schaut auf die Fabrikhallen, wo 620 Arbeiter Motoren, Transformatoren, Schaltschränke und Medizintechnik produzieren. Dahinter klemmt die Stadt mit ihren rund sieben Millionen Einwohnern auf 2600 Meter Höhe zwischen den beiden Kordilleren-Bergen Guadalupe und Monserrate. Vor mehr als 50 Jahren, als sich Siemens im Industriegebiet der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ansiedelte, waren es nur 800 000 Einwohner, doch seitdem schiebt sich die Stadt die Berge hinauf. Heinz Consul rückt seine blaue Krawatte zurecht und strafft den Rücken. Draußen wartet das Fernsehteam eines lokalen Senders, das Statements zu einem Fabrikneubau erwartet. Heute ist Mittwoch. Am Samstag wird er rausfahren und sich um Chepe kümmern und um den Schaden, den er wieder angerichtet hat.

Consul selbst hat ihn vor drei Jahren angeschleppt. Damals ahnte er nicht, dass Chepe so viel Eigenwillen und Durchschlagskraft mitbringen würde. „Diesmal hat er das Tor zum Kuhstall zertrümmert!“, sagt Consul lächelnd. Er hat sich rückwärts in Stellung gebracht und mit den Hinterhufen dagegengedonnert.

Chepe ist ein fünf Jahre alter Esel und Liebling der Kinder, die eine Autostunde nördlich von Bogotá in der Kinderfarm „Granja Infantil del Padre Luna – Granja San Pedro“ untergekommen sind. Seit knapp drei Jahren unterhält Siemens dieses Anwesen mit Küche und Kantine, Schlafsaal und Bibliothek, Krankenstation und Gymnastikraum, ein Zuhause für 30 Kinder. Kinder, die sich sonst auf der Straße durchschlagen würden.

In Kolumbien herrscht mit kaum einer Unterbrechung seit 60 Jahren Bürgerkrieg. Armut und Hunger prägen den Alltag. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt am Existenzminimum, die Ärmsten der Armen können nicht mal mit einem Tageslohn von einem US-Dollar rechnen. Rund drei Millionen Kinder besuchen niemals eine Schule, stattdessen betteln sie, lassen sich von der Guerilla rekrutieren oder arbeiten in Kohleminen, als Straßenverkäufer oder als Tagelöhner auf Bauernhöfen.

Landpartie: Heinz Consul (vorn),
Chef einer Siemens-Gruppe in Lateinamerika, fährt regelmäßig von Bogotá zur Kinderfarm „Granja San Pedro“ in die Berge. Er schaut nach dem Rechten und repariert auch schon mal eine Stalltür. Von einem Pater in den dreißiger Jahren gegründet, wird das Kinderheim heute von einer Stiftung der Siemens-Mitarbeiter finanzier

Siemens beschäftigt in Kolumbien 1500 Mitarbeiter. Seit 1954 ist das Unternehmen in Bogotá, dort sitzen die Verwaltung und Fabriken, Tochtergesellschaften sind in den Städten Medellín, Cali und Barranquilla angesiedelt. Überall fehlen Facharbeiter, vor allem Schweißer, Techniker, Elektroniker und Programmierer. Der Staat bildet nicht genügend junge Leute aus, die öffentliche Hand kann Kindern nicht einmal ein Dach über dem Kopf, Essen und medizinische Grundversorgung garantieren – typische Probleme von Entwicklungs- und Schwellenländern.

Ein Konzern wie Siemens hat in so einem Staat die Wahl: sich selbst um Infrastruktur und Bildung kümmern, oder sich aus dem Land zurückziehen. Siemens entschied sich fürs Bleiben. 1986 gründete das Unternehmen einen Mitarbeiterfonds, im Oktober 2006 eine Stiftung. Neben dem Kinderheim, das seinen 30 Bewohnern auch den Schulbesuch ermöglicht, baut Siemens vor Ort ein Technologie-Ausbildungszentrum. Uneigennützig ist das Engagement nicht: Nur mit gut ausgebildeten Leuten lässt sich arbeiten und Gewinn erwirtschaften. Die größten Gewinner aber sind die Kinder der Granja Infantil del Padre Luna.

Der 13-jährige Garcia etwa, der bei der Mutter und seinen Geschwistern am südlichen Stadtrand von Bogotá in einer Blechhütte lebte. Paramilitärs hatten die Familie von der kleinen Finca vertrieben. Kein ungewöhnliches Schicksal für ein Land, in dem bis zu drei Millionen Menschen auf der Flucht sind. Das Viertel, in dem Garcia lebte, wird von Bandenkriegen zwischen Drogen-Dealern beherrscht; vor zwei Jahren wurde sein großer Bruder erschlagen. Was war passiert? Garcia zuckt die Achseln. Vielleicht ging es um Drogen, vielleicht auch nur um eine Flasche Bier.

Der gleichaltrige James hat ähnliche Schrecken hinter sich. Seine Eltern wurden getötet, als sich Paramilitärs und Guerilla in seinem Heimatdorf bekriegten. Die Regierung bekommt den Bürgerkrieg nicht in den Griff, auch wenn Kolumbien, unterstützt von den USA, mehr Militärausgaben aufbietet als die meisten anderen süd- und mittelamerikanischen Staaten. James will Koch werden. Warum? „Weil ich gerne esse“, sagt er ernst.

Die andauernden Kriege säen Gewalt, auch innerhalb der Familien. Wenn der zehnjährige Dairo sein Hemd auszieht, sieht man lange Narben an Bauch, Armen und Rücken. Wie sie entstanden sind, will Dario nicht sagen, nur, dass der Vater ihn mit bloßen Händen verletzte, immer dann, wenn er getrunken hatte. Nachbarn brachten ihn ins Kinderheim.

Auch der 13-jährige Elkin wuchs in schwierigen Verhältnissen auf, mit zwei Brüdern und den Eltern in einer Hütte ohne Strom- und Wasseranschluss, auch er musste vor dem Vater fliehen. „Der mag mich nicht“, sagt Elkin, „deshalb bin ich hier zu Hause.“

Dass es dieses Haus gibt, in dem er unterschlüpfen konnte, ist ein paar Hundert Siemens-Mitarbeitern in der Hauptstadt zu verdanken. An den Wochenenden strichen sie Wände, pflanzten Bäume, legten Gemüsebeete an und hackten Holz. Zudem spenden rund 160 Mitarbeiter einen kleinen Teil ihres Gehaltes für die Kinderfarm, 1600 Euro kommen dadurch jeden Monat zusammen. Seit zwei Jahren ist die Farm sogar Teil des internen Fortbildungsprogramms – wer sich weiterqualifizieren und Projektarbeit lernen will, kann das beispielsweise tun, in dem er einen Perlhuhnstall oder einen Kuhstall baut. Im Gegenzug besuchen die Kinder regelmäßig den Siemens-Betrieb in Bogotá, besichtigen die Fabrik, essen im Kasino und singen Lieder für die Angestellten.

Das Geschenk: ein Aktienfonds,
 aus dem sozialer Wohlstand erwächst

Nächstenliebe im Dienst des Profits? Viel schlichter. Manager Consul, seit nahezu 40 Jahren bei Siemens, lebte und arbeitete bereits in Tansania, Kenia, Algerien, Argentinien und in verschiedenen Ländern Asiens, „immer in Bananenrepubliken“. In diesen Ländern ging es jedes Mal darum, zunächst einmal Strukturen zu schaffen, mit denen später Gewinne zu erzielen waren. In Deutschland oder in den USA funktioniert der Arbeitsmarkt, weil es Ausbildungssysteme gibt. „In Kolumbien muss ich die Infrastruktur erst schaffen. Wenn ich einen guten Schweißer haben will, muss ich ihn ausbilden. Und damit sind wir beim Thema Siemens-Stiftung.“

Siemnes in Kolumbien: In Bogotá befinden sich die Verwaltung und Fabriken für Transformatoren, Elektromotoren und Schaltanlagen. Tochtergesellschaften gibt es in Medellín, Cali und Barranquilla.

Die Kooperation begann vor 22 Jahren, als der Siemens-Konzern beschloss, Mitarbeiter am Aktienkapital zu beteiligen, um sie langfristig ans Unternehmen zu binden. In Deutschland konnten sich die Angestellten damals Aktienkäufe leisten, in armen Ländern wie Kolumbien nicht, weil sie dort weniger verdienen. „Also hat das Unternehmen der Belegschaft die Aktien quasi geschenkt, als Grundstock für einen Investmentfonds“, erklärt Consul. Für diesen Fondo de Empleados de Siemens en Colombia (Fonds der Siemens-Mitarbeiter in Kolumbien), kurz Fesicol, regelt ein Vertrag, dass mit der Dividende nur „sozial geprägte Aktivitäten“ finanziert werden dürfen.

Die erste Aktion in der Nachbarschaft galt der Pacht und Umwandlung einer Fabrik zu einem Club mit Tanzsaal, Restaurant und Turnhalle. Anschließend ermöglichte Fesicol regelmäßige Besuche von Allgemeinärzten, Gynäkologen und Zahnärzten im Werk, die Mitarbeiter und ihre Familien untersuchten und behandelten. „Wir haben mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, sagt Consul: „Die Mitarbeiter sind Kapitalisten geworden, der Zusammenhalt wurde verbessert, weil sie gemeinsam in einem Investmentclub sind, und es entstanden soziale Aktivitäten.“

Über die Jahre wuchs das Unternehmen in Lateinamerika – und mit ihm wuchs der Gewinn. Irgendwann war über die Dividendenzahlung so viel Geld zusammengekommen, dass die Belegschaft nicht mehr wusste, wohin damit. Die Verwendungsmöglichkeiten waren ja im Vertrag festgehalten. „Und ein Besuch im Casino von Monte Carlo gehörte nicht dazu“, sagt Heinz Consul.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erfuhr der Firmenchef, dass es in Guasca, ein paar Kilometer hinter dem Golfclub Pradera, ein Kinderheim gab, das Hilfe benötigte. Den Golfclub kannte er, wie es dahinter aussah, wusste Consul nicht. Also fuhr er mit seiner Ehefrau Waltraud und dem damals elfjährigen Sohn Patrick hin – und war entsetzt. „Die kleinen Häuser waren verkommen, die 70 Kinder verdreckt und unterernährt.“ Die Heimleiterin und ihre Helferinnen hatten offensichtlich das meiste Geld für sich abgezweigt und die Lebensmittel, die für die Kinder bestimmt waren, im Dorf verkauft.

Expatriaten wie Heinz Consul haben Erfahrung darin, wie sich Armut in fremder Umgebung ignorieren lässt, sonst könnten sie ihren Job gar nicht machen. „Aber meine Frau ließ mir keine Ruhe. Zusammen mit Doris De Lombana, deren Mann Chef der Abteilung Medizintechnik ist, fuhr sie bald beinahe täglich raus.“ Er habe sie oft am Wochenende begleitet und bei der Buchhaltung beraten. Das Kinderheim wurde über eine eigene Stiftung mehr schlecht als recht verwaltet, im Stiftungsrat saßen ehemalige Heimbewohner und Nachkommen des Heimgründers Luna. „Wir entwickelten einen Plan, wie man die Probleme angehen könnte“, sagt Consul.

Wie die Sache praktisch anzupacken war, wussten die beiden resoluten Frauen genau: Sie entließen das korrupte Personal und stellten neues ein, eine Köchin, eine Putzfrau und Gärtner, dazu eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin. Die Unterstellung, ein so ernstes Thema als willkommenen Zeitvertreib zu betrachten – Kinder retten statt Golf spielen – prallt bis heute an den Managergattinnen ab: „Wir spielen immer noch Golf“, sagt Doris De Lombana. „Aber nicht mehr so oft.“

Alltag auf der Farm: Morgens ist Schule und Sport, nach den Hausaufgaben müssen die Kinder die Tiere auf dem Hof versorgen und im Garten mithelfen. Erst danach ist Zeit zum Spielen.

Jeden Monat bat Heinz Consul seine Mitarbeiter zu sogenannten Townhall-Meetings. Dort berichtete er auch von der Kinderfarm. Als er einmal fragte, wer am Wochenende mithelfen wolle, einen Basketballplatz zu betonieren, meldeten sich mehr als hundert Freiwillige – „wir fuhren mit drei Omnibussen raus und betonierten den Platz an einem Tag.“ Das war im Sommer 2006. Ein paar Wochen später strichen sie die Gebäude an und pflanzten Mango- und Apfelsinenbäume. Consul entlockte seinem Arbeitgeber außerdem eine 100 000-Dollar-Spende, mit der er die Farmgebäude sanieren ließ. Damit waren die Auflagen erfüllt, die der Staat an ein professionelles Kinderheim stellt. Zwei Jahre später wird das Heim erstmals öffentliche Zuschüsse erhalten und bis zu 70 Kinder aufnehmen können.

Die Stiftung: ein Instrument, das Hilfe professionalisieren soll

Mit ihrem Engagement für das Kinderheim hatten die Mitarbeiter ihren Hilfsradius einfach, aber wirkungsvoll erweitert. Das muss der Moment gewesen sein, in dem die Idee aufkam, sich als Helfer zu professionalisieren. Die Belegschaft beschloss, den Investmentfonds aufzulösen und ihre Aktien an Siemens zu verkaufen. Alle Erlöse, auch die aus dem Aktienverkauf, gingen als Gründungskapital in einer Stiftung auf, der Fundación Siemens Andina (Siemens Stiftung für die Andenregion) – allein aus dem Mitarbeiterfonds Fesicol flossen 3,3 Millionen Euro in den neuen Topf. Siemens wird jedes Jahr eine zusätzliche Summe an die Stiftung überweisen, das haben Konzern und Aktienverkäufer fest vereinbart. Der Betrag allerdings ist variabel, „er hängt davon ab, wie es der Firma geht“, sagt Consul.

Auch der alte Fonds existiert weiter – als Mitarbeitervereinigung: Fesicol ist nun eine Mischung aus Knappschaft und Verband, über die Immobilienkredite, Fortbildungen und Versicherungen eingekauft und günstig an die Siemens-Arbeiter weitergegeben werden. Gleichzeitig beaufsichtigt und entscheidet der Führungsrat von Fesicol – paritätisch mit Siemens – was mit dem Geld der Stiftung passieren soll. Einmal jährlich treffen sich die Sprecher der Fesicol-Mitarbeitervereinigung mit den Stiftungsräten, zu denen auch Heinz Consul und seine Frau zählen, und beschließen das Programm.

Dieses Jahr zum Beispiel werden 300 000 Euro ausgeschüttet. Für Gesundheits-Checks der Mitarbeiter, Katastrophenhilfe wie bei der Überschwemmung in Ecuador oder dem Vulkanausbruch in Kolumbien oder auch für Anlagen, die im Notfall Wasser aufbereiten. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt bei Bildung und Ausbildung, so werden beispielsweise Discovery-Boxen, eine Art Physikkasten, mit dem Kinder experimentieren können, finanziert und zu Hunderten an den Schulen verteilt. Das Kinderheim soll bald auf eigenen Beinen stehen. Hilfe zur Selbstständigkeit ein wesentliches Ziel. Der Weg dorthin ist allerdings steiniger als gedacht.

Die Schotterstraße zur Kinderfarm nach Guasca schlängelt sich durch die Berge hinauf, durch Viertel, in denen Familien in Bretterverschlägen hausen. Vertrieben von einem Bürgerkrieg, der nicht enden will, der ein undurchdringliches Geflecht an Armeen und Guerillas hervorgebracht hat und der jedes Jahr Tausende Menschenleben fordert. Staatspräsident Alvaro Uribe Vélez hat seit seinem Amtsantritt im Jahr 2002 die Streitkräfte deutlich erhöht. Die Regierung schätzt die Guerilleros auf 8000 Krieger, für die Paramilitärs kämpfen weitere 4000 Mann. Die Guerilla trat in den sechziger Jahren an, um eine gerechtere Landreform zu erzwingen. An ihrer Seite kämpfen die FARC („Bewaffnete revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“) und die ELN („Nationale Befreiungsarmee“). Im Gegenzug finanzierten die Großgrundbesitzer die Paramilitärs, die sich Autodefensas (Selbstverteidiger) nennen.

Heute sind die einstigen Bürgerwehren Todesschwadronen, wie die Guerilla finanzieren sie sich aus Drogenhandel, Schutzgeldern und Entführungen. Die FARC hat schätzungsweise 2000 Menschen im Urwald in ihrer Gewalt, die Prominenteste unter ihnen war bis zu ihrer Befreiung die ehemalige kolumbianische Präsidentschaftskandidatin und grüne Politikerin Ingrid Betancourt. Die ideologischen Bekenntnisse der Gruppen sind nur noch Maskerade. Es geht allein um Macht und Geld.

Eine hoffnungslose Lage. Heinz Consul gerät dennoch ins Schwärmen, als sein Chauffeur den schweren Geländewagen aus Bogotás Elendsgürtel heraus über eine Serpentine auf die 3000 Meter hohe Kordillere lenkt und hinter der nächsten Kehre der stahlblaue Stausee San Rafael auftaucht: „Kolumbien ist ein wunderschönes Land mit liebenswerten Menschen, voller Lebensfreude. Trotz Armut und Krieg.“

Der Wald öffnet sich, ein Dutzend Kühe weidet am Weg, auf der anderen Seite taucht hinter rot blühendem Bougainvillea die Kinderfarm San Pedro auf. Auch Joaquín Luna ist heute da, Arzt, 80 Jahre alt und Neffe des Kinderheimgründers. Bei einem Kaffee erzählt er von den Anfängen der Kinderfarmen in den dreißiger Jahren. Wie sein Onkel als aufmüpfiger junger Priester nach Bogotá versetzt wurde und begann, abends Gamines von der Straße zu lesen, Straßenkinder, die er in der Kirche übernachten ließ. „Morgens musste er sie wieder rausschicken, obwohl er wusste, dass sie betteln und stehlen würden, um zu überleben.“ Also bettelte auch Onkel Luna: bei der Kirche, bei staatlichen Behörden, bei Firmen. Und kaufte schließlich die Finca auf dem Land, westlich von Bogotá. Dorthin brachte er die ersten Kinder. „Er war hartnäckig und hatte Charisma“, sagt Neffe Joaquín, der sich Anfang der achtziger Jahre um den Onkel kümmerte, als der alt und krank wurde, „er konnte den Leuten richtig auf die Nerven gehen.“ Und er hatte damit Erfolg. Im Lauf der Jahre gründete der Priester 17 Kinderfarmen, in denen seither 45 000 Straßenkinder unterkamen, und die Stiftung „Granjas Infantiles del Padre Luna, Granja San Pedro“.

Einer seiner Schützlinge war Luis Domingo, heute 34 Jahre alt. Seine Geschichte beginnt wie die der meisten Heimkinder. Der Stiefvater vertrank das wenige Geld, für Luis und seine sechs Geschwister setzte es regelmäßig Prügel. „Am Wochenende, wenn er nicht arbeitete, sondern nur noch soff, füllte er einen Sack mit schweren Steinen, steckte mich hinein und setzte mich in den Brunnen, so dass nur noch der Kopf aus dem Wasser schaute. Oft, nicht nur einmal.“ Als Luis elf war, lief er davon, wurde ins Kinderheim gebracht und konnte später dank eines Stipendiums Jura studieren. Heute arbeitet er im Umweltministerium als rechte Hand des Ministers.

Der Plan: Rückzug der Helfer.
 Jetzt heißt es, Verantwortung zu übernehmen

Die Erfolgsgeschichte der Granjas endete 1985 mit dem Tod des Paters. Die Kirche verkaufte die Kinderfarmen – San Pedro in Guasca ist die einzige Einrichtung, die dem ursprünglichen Zweck noch dient. Auch der Tagesablauf ist geblieben: vormittags Schule, anschließend Mittagessen, nach den Hausaufgaben werden die Tiere gefüttert, Ställe und Käfige gesäubert, es wird Unkraut gejätet und Gemüse geerntet. Genau wie früher wachsen im Garten Bohnen, Tomaten, Gurken und Salat.

Neu sind eine Bibliothek mit Büchern aus der Siemens-Firmenzentrale, ein Computerraum mit ausgedienten Geräten des Unternehmens, eine kleine Kapelle, ein Sanitätsraum, Bäder, saubere, weiß getünchte Schlafsäle. Und 20 Hektar Land mit Maracuja- und Eukalyptusbäumen. Im Stall, den angehende Siemens-Führungskräfte gezimmert haben, stehen heute zwei Kühe und Chepe, der widerspenstige Esel. Ein Teich mit einer Schar Enten und Gänse gehört dazu, drei Truthähne und 400 Perlhühner, deren kleine Eier an die Siemens-Mitarbeiter verkauft werden. Das klingt nach einem florierenden kleinen Betrieb, aber der Schein trügt. „Wir sind pleite“, behauptet Heinz Consul, „wir hangeln uns nur noch von Monat zu Monat durch.“

Momentan leben 30 Kinder im Heim, mehr können aus finanziellen Gründen nicht aufgenommen werden. Selbst ein neuer Hühnerstall bleibt halb fertig stehen. „Anfang des Jahres mussten wir sogar unseren Lehrer entlassen und die Schule schließen“, sagt Doris De Lombana. Seitdem gehen die Kinder im Dorf zur Schule, wo sie „ausgegrenzt werden und überfordert sind“.

Neue Heimat: Vor allem Kinder aus schwierigen Verhältnissen finden auf der „Granja San Pedro“ ein Zuhause.

Der Monatsetat beträgt 6000 Euro und demnächst schießt doch auch der Staat Geld zu. Warum also springen Firma oder Stiftung nicht zumindest für die Übergangszeit ein? „Weil soziale Verantwortung nicht bedeutet, Geschenke zu verteilen“, sagt Consul. „Ich will niemandem einen Fisch schenken, sondern ihm beibringen, wie man angelt. Ein Industriekonzern muss den Menschen zeigen, wie ein Wirtschaftsunternehmen funktioniert. Sie müssen lernen, für ihre Interessen zu kämpfen.“

Aber wer soll hier kämpfen? Die Köchin? Die Sozialarbeiterin? Der Bauer, der nach den Viechern schaut?

„Wir suchen einen Heimleiter, der sich um die Finanzen, die Angestellten, die Kinder und um ein pädagogisches Konzept kümmert“, lenkt Consul ein. Sobald das Geld vom Staat da ist, wird der Lehrer wieder eingestellt, und die Schule geht weiter. Auch das Kinderheim muss sich professionalisieren. „Irgendwann sind wir nicht mehr da, dann müssen andere Verantwortung übernehmen.“ Ende des Jahres soll es so weit sein, meint Consul.

Und was wird aus den Kindern, wenn sie mit 15 von der Schule gehen und die Farm verlassen müssen? Heinz Consul hat auf diese Frage gewartet. „Wir bauen ein Ausbildungszentrum“, sagt er und weiß auch schon, wo es entstehen wird. Siemens platzt aus allen Nähten und wird seinen Standort in Richtung Tenjo verlagern – ein kleines Dorf 25 Kilometer nordwestlich der Stadtgrenze, wo derzeit ein großer Industriepark entsteht. „Wir bebauen 40 000 Quadratmeter, Ende des Jahres ist Einweihung. Wir nehmen unsere Mitarbeiter von hier mit, aber wir wachsen und brauchen weitere Facharbeiter. Wir werden in Tenjo einen Arbeitsmarkt entwickeln.“ Gemeinsam mit 70 Firmen, die sich ebenfalls dort ansiedeln.

Mit den Firmenchefs hat Consul schon gesprochen, auch mit dem Bürgermeister von Tenjo, der Universität in Bogotá und dem Bildungsministerium – alle sind begeistert von der Idee einer Ausbildungsstätte. Sie soll künftig eine wichtige Lücke schließen, denn dem kolumbianischen Arbeitsmarkt fehlt vor allem der qualifizierte Mittelbau. Vor Ort finden sich hervorragend ausgebildete Fachkräfte – und schlecht ausgebildete Arbeiter. Deshalb spreize sich auch die Einkommensschere im Land so weit: „Hoch bezahlte Leute verdienen hier mehr als in einem Industrieland, und die armen Kerle am Band arbeiten für Löhne, wie sie in China bezahlt werden.“ Heinz Consuls Entschluss steht fest: Sobald die Kinder die Farm verlassen, können sie nach Tenjo kommen, um dort ausgebildet zu werden. Das Farmprojekt wird sich bis dahin selbst tragen.

Bleibt das Problem mit Chepe. „Den hat die Polizei einer Bande von Drogenschmugglern abgeknöpft, die hatten ihn als Lasttier genutzt und wahrscheinlich schlecht behandelt. Ohne Zwang tut der jetzt nichts mehr.“ Zwei Kinder streifen dem Esel Stricke über den Kopf, die als Zaumzeug dienen sollen. Elkin zerrt einen Karren heran, auf dem ein paar Bretter liegen. Chepe starrt ein paar Sekunden aus den Augenwinkeln auf den Wagen, dann neigt er den struppigen grauen Kopf zur Seite und legt sich auf den Boden.

Heinz Consul nickt, grinst und schweigt, schnappt sich die Bretter vom Karren, nimmt Hammer und Nägel und macht sich auf den Weg zum kaputten Stalltor.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.