Hans-Albrecht Schilling

Wenn der Farbgestalter Hans-Albrecht Schilling von seinem Arbeitsplatz aufblickt, wandert sein Auge durch eine Welt reiner Schönheit. Vom weißen Apple-Monitor geht es über den großzügigen weißen Schreibtisch zu den Bürofenstern mit ihren schneeweißen Vorhängen. Draußen zwitschern die Vögel im Grün mächtiger Baumkronen, bis zu den gepflegten Bremer Wallanlagen sind es nicht einmal zwei Fußminuten. Eine Büroseite besetzen cremeweiße Wandregale mit Aktenordnern, alle mit weißen Rücken versehen und sorgfältig sortiert. Abgesehen von ein paar Eames-Schreibtischstühlen und Mies van der Rohes schwarzledernem Barcelona-Chair wirkt Schillings Studio pur wie ein Hochplateau nach Neuschnee. Alles ist dezent, harmonisch, unaufgeregt und damit genau so, wie sich Hans-Albrecht Schilling die Welt da draußen wünschen würde.




Hans-Albrecht Schilling entwickelt Farbkonzepte, mit denen Gebäude und Großsiedlungen ansehnlicher werden. Seit rund sechs Jahrzehnten kämpft er dabei gegen eine Handvoll populärer Irrtümer.

Nur ist sie eben nicht so.

Schilling muss nur mit dem Fahrstuhl fünf Stockwerke hinabfahren und ein paar Hundert Meter zum Bremer Hauptbahnhof laufen, vorbei an schrillen Plakatwänden, abblätternden Fassaden und hysterischen Leuchtreklamen, und schon hat ihn die Realität wieder. Die Wirklichkeit ist knallbunt, laut und vor allem gedankenlos, sie kleidet sich schrill wie ein Hippie auf LSD, der laufend seine Lieblingsfarbe wechselt. Würde sich dieser ästhetische Amokläufer ausnahmsweise nüchtern betrachten, müsste er feststellen, dass ihm ziemlich viel recht hässlich geraten ist.

Nicht grau, nicht bunt, sondern farblich angenehm akzentuiert: ein Block in der Bremer Siedlung Neue Vahr.
Die Bremer Sidelung Neue Vahr: strahlend weiß – und erstaunlich idyllisch.

Farben sind mehr als nur Dekoration

Nicht selten ruft man genau deswegen Hans-Albrecht Schilling zu Hilfe. Seit fast sechs Jahrzehnten reist der Bremer Künstler als Spezialist für Farbe in der Architektur durchs Land, befreit Altbauten von misslungenen Anstrichen, repariert, was sich optisch irgendwie reparieren lässt, und versucht bei Neubauten die schlimmsten Geschmacklosigkeiten zu verhindern. Allein die Bremer Großsiedlung Neue Vahr, der Sven Regener in seinem Bestseller „Neue Vahr Süd“ ein wenig schmeichelhaftes Denkmal setzte, hat er im Laufe seiner Berufsjahrzehnte dreimal komplett überplant. „Bis heute haben wir wohl mehrere Zehntausend Fassaden gestaltet“, schätzt Schilling, wobei „wir“ ein Mini-Team meint, bestehend aus Schillings Ehefrau Doris, einer Zeichnerin und dem Designer selbst. Ohne dieses umtriebige Trio sähen heute unter anderem die Berliner Karl-Marx-Allee, die Magdeburger „Cracau“-Siedlung, das Zentrum von Köln-Chorweiler und das Bad Aiblinger „Parkhotel“ ganz anders aus.

Schilling ist kein großer Theoretiker, was die Wirkung von Farben betrifft, vertraut er lieber Auge und Bauch. Doch die Farbpsychologie gibt ihm recht: Es besteht in der Wissenschaft Einvernehmen, dass Farben die Menschen messbar beeinflussen – es ist nur sehr umstritten, wie sie das tun. Studien haben gezeigt, dass sich die Wirksamkeit von Placebos mit der Farbe ändern kann: Aufputschmittel wirken besser, wenn sie rot sind, Beruhigungsmittel, wenn sie blau sind. Eine andere Studie legt die Schlussfolgerung nahe, dass Sportler in roten Trikots häufiger gewinnen als die in blauen Trikots. Unumstritten ist auch, dass Farben die Wahrnehmung von Essen beeinflussen können, was im Marketing und im Restaurantdesign wichtig ist. Doch wie und warum das passiert, ob das generelle Effekte sind oder kulturspezifische, ob sie erlernt sind oder vererbt – keiner weiß es. Eines ist allerdings sicher: Es ist nicht egal, welche Farbe die Umgebung hat, in der wir leben.

Deswegen ist Schilling permanent auf Achse. Gerade kommt er mit seiner Frau und deren Kindern aus Norditalien zurück („Ich muss immer Neues sehen, sonst langweile ich mich“), demnächst geht’s nach Kassel zur documenta, von der er noch nie eine verpasst hat. Und was tut er sonst? „Eigentlich“, sagt Schilling nachdenklich, „arbeiten wir immer.“ Der gebürtige Bremer ist 83 Jahre alt, er spricht ein feines Hanseatisch, sagt „Hamburch“ und „Ich mach den“, wenn er ausdrücken will, dass ihm jemand gefällt. Doch mit seinen hellwachen Augen und dem wilden weißen Haarkranz wirkt er mindestens ein Dutzend Jahre jünger, und sein Arbeitseifer würde jedem 40-Jährigen zur Ehre gereichen.

Aktuell liegen auf seinem Schreibtisch die Pläne für den Wellnessbereich des Hotels in Bad Aibling und die Neugestaltung von Hamburg-Mümmelmannsberg, eine jener Mega-Siedlungen, denen seine Leidenschaft gehört. „Denn wenn ich etwas verbessere, wo viele Menschen leben, kann ich für viele Menschen etwas verbessern. Das könnte ich bei einem noch so schönen Einfamilienhaus nicht.“

Rund 240 Großwohnsiedlungen* gibt es in Deutschland, die meisten in den Nachkriegsjahrzehnten hochgezogen, um möglichst viele Menschen auf möglichst geringem Raum zu einem möglichst bescheidenen Budget unterzubringen. Allein die Bremer Wohnungsbaugesellschaft Gewoba, sagt Schilling, verwalte in der Hansestadt 32 000 Mietwohnungen mit rund 80 000 Bewohnern. Damit wohne also etwa jeder siebte Bremer in einer Gewoba-Großsiedlung. Während aber „in den Innenstädten jeder bauliche Furz reglementiert wird, überlässt man die Gestaltung der Vorstädte zumeist dem Geschmack irgendeines Sachbearbeiters“. Nicht selten, sagt Schilling, beschränke sich das Farbkonzept darauf, die Balkone des einen Blocks gelb, des zweiten grün und des dritten rot anzupinseln. „Damit glaubt man dann, Vielfalt erreicht zu haben. In Wirklichkeit erreicht man nur Buntheit, sonst gar nichts.“ Und die Architekten ließen sich ihre Farbkonzepte der Einfachheit halber häufig von der Farbindustrie anrühren. Dabei seien es doch gerade diese BetonTrabanten an den Stadträndern, die den Alltag von Millionen Menschen prägten.

Ganz persönlich kann er mit den Großsiedlungen überhaupt nichts anfangen. „Es ist doch ganz klar: Wenn ich einen Kilometer durch Venedig spaziere, ist das ein Genuss. Müsste ich hingegen einen Kilometer an der Autobahn entlangwandern, wäre das eine Katastrophe.“ Großwohnsiedlungen ähnelten in ihrer Wirkung schier endlosen Autobahn-Spaziergängen. Er selbst habe sich nie vorstellen können, in einem solchen „Hochregallager für Menschen“ zu leben, sagt der Designer, nicht einmal für kurze Zeit, um es auszuprobieren.

Aufgewachsen ist Hans-Albrecht Schilling im kleinbürgerlichen Bremer Fedelhören, keine hundert Meter von seinem heutigen Wohnort entfernt. Schon als Steppke habe er gewusst, dass er eines Tages an der benachbarten Contrescarpe mit ihren großzügigen Bürgervillen und Blick auf die Wallanlagen wohnen wollen würde – dort, wo auch sein Freund, der Arztsohn und spätere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht lebte. Sehr zum Unmut seines Vaters („Na gut, einen Künstler in der Familie können wir uns leisten“) schmiss Schilling in der zwölften Klasse das Gymnasium, um an der Bremer Staatlichen Kunstschule zu studieren. Über seinen ersten künstlerischen Auftrag, eine Eisenplastik für ein Bremer Jugendheim, kam er dann fast zwangsläufig ins Gespräch mit Bauplanern. „Was Farbe betrifft, sind Architekten häufig sehr unbeholfen“, lernte Schilling schnell. „Mitunter dauerte es zwei Tage, bis sie die richtige Fassadenfarbe gefunden hatten. Ich brauche dafür aber nur fünf Minuten.“

Einer dieser Architekten war der einflussreiche Stadtplaner Ernst May, damals Planungschef bei der Hamburger Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat. Als May Mitte der Fünfzigerjahre mit seinen Entwürfen für die Gartenstadt Vahr begann, buchte er den jungen Bremer Künstler als Farbberater. Es war der Einstieg ins Zeitalter der „Kunst am Bau“, die Stadt Bremen zweigte damals bei staatlichen Hochbauten grundsätzlich zwei Prozent der Bausumme für künstlerische Arbeiten ab – Gelder, die sie unter anderem für die Fassaden verwenden ließ. Ein Zeitungsausschnitt aus den »Bremer Nachrichten« von damals zeigt den 27-jährigen Schilling mit ernstem Blick und noch vollem Haar über ein Modell des riesigen Neubauviertels gebeugt wie ein Modelleisenbahner über seine Märklin-Landschaft. „Der Maler Hans-Albrecht Schilling ist momentan damit beschäftigt, an einem Modell von der Gartenstadt Vahr den besten farblichen Zusammenklang der Außenanstriche herauszufinden“, heißt es unter dem Foto. „Seine Lösung soll eindrucksvoll davon überzeugen, welche architektonischen Effekte man allein mit der Farbe erzeugen kann.“

Schillings Lösungen waren so überzeugend, dass er fortan immer häufiger als Berater bei Großprojekten hinzugezogen wurde. Bereits 1963 konnte er in jene Wohnung umziehen, in der er bis heute lebt und arbeitet. Damals legte er sich auch seine erste Limousine zu, einen schwarzen Jaguar mit schwarzen Ledersitzen – ein Nachfolgemodell in derselben Ausstattung parkt noch heute in seiner Tiefgarage. Bevor seine künstlerische Karriere richtig begonnen hatte, wurde aus dem Maler HansAlbrecht Schilling der gefragte Farbdesigner. „Mit seiner Arbeit“, schreibt das »Kunstforum«, „trug Schilling wesentlich dazu bei, dass die Farbgestaltung innerhalb des Architekturbereichs inzwischen als selbstständige Disziplin anerkannt worden ist.“

Die wichtigste Aufgabe des Farbdesigners jedoch bestand darin, fortwährend Irrtümer zu korrigieren.

Mehr als 800 exklusive Farbtöne hat Hans-Albrecht Schilling selbst entwickelt. Die bringen auch etwas Farbe in sein puristisches Büro.
Ein Blick in Schillings Farbarchiv und auf einen Plan seines aktuellen Projektes im Hamburger Mümmelmannsberg.

Irrtum Nr. 1: Viel hilft viel

Schilling wird es schnell zu bunt. „Ich mag alle Farben, solange sie weiß sind“, sagt er nur halb ironisch. Er ärgert sich über Kollegen, die Häuser als „architektonische Anziehpuppen“ missbräuchten.

Ein schillerndes Beispiel ist die Großwohnsiedlung Ratingen-West bei Düsseldorf, deren Hochhäuser in den Siebzigerjahren in damals modischen Farben angepinselt wurden und dafür den Spitznamen „Papageienhäuser“ erhielten. Dabei, sagt Schilling, hätten die Architekten die drei 15-stöckigen Wohnscheiben mit vielen Brüstungen, Balkonen, Vor- und Rücksprüngen ausgestattet. „Das bedeutet: Sie waren und sind auch ohne Farbe interessant genug.“ Zudem habe die üppige Kolorierung weder Vandalismus noch Verwahrlosung verhindern können.

Vor einigen Jahren wurde Schilling von der nordrhein-westfälischen LEG beauftragt, die Häuser zu überplanen. Schilling ließ die Eingänge zu schönen, hotellobbyähnlichen Eingangshallen vergrößern und konzentrierte sich für die Fassaden auf zwei Farben: ein akzentuierendes Rot für einige Fensterlaibungen und ein pures Weiß für den Rest. „Plastische Formen, das weiß man aus der Bildhauerei, wirken am stärksten mit einer weißen Oberfläche, weil da Licht und Schatten am besten zur Geltung kommen.“ Architekturpreise werden seine „Himmelshäuser“, wie sie jetzt heißen, wohl immer noch nicht gewinnen – aber sie wirken edler, als man es von Hochhäusern gewohnt ist.

Wenn Schilling so einen Auftrag bekommt, verbringt er wie ein guter Psychotherapeut erst einmal möglichst viel Zeit mit seinen Patienten: Er fotografiert sie aus allen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Tageszeiten. In seinem Studio breitet er dann Fotos und Pläne aus und komponiert eine Palette passender Farben. Sofern nötig, lässt er neben Malern auch Maurer und Elektriker anrücken. Grundregel: „Je desolater das Gebäude, desto grundlegender der Eingriff.“

Der Zustand der tristen braun-grauen Kasernenbauten in Bad Aibling war ziemlich desolat, bevor Schilling zur Tat schritt. Er versah die Gebäude des Parkhotels mit neuen, großzügigen Fenstern, lockerte einen besonders langen Bau durch einen Durchbruch auf und ließ Teile des ersten Stocks mit einer grau gebeizten Holzvertäfelung ausstatten – eine Hommage an die Holzfassaden bayerischer Landhäuser. Heute strahlt das Tagungshotel in einer edlen, aber unaufdringlichen Schlichtheit.

Irrtum Nr. 2: blau ist blau und rot ist rot

Welche Farbe der Farbgestalter einem Gebäude verpasst, hängt von einer Vielzahl von Parametern ab. Ein wichtiger ist das Fassadenmaterial. Ein und dieselbe Farbe, erklärt Schilling, wirke auf einer stumpfen Oberfläche viel gesättigter als auf einer glänzenden, vor einer hellen Umgebung mute sie deutlich kräftiger an als vor einer dunklen. Auch die enorme Dimension, die ein großflächiger Fassadenanstrich nun einmal hat, berührt die Farbgebung. Was in der Daumennagelgröße der Farbmuster noch moderat wirke, verwandle sich im gebauten Großformat nicht selten in eine knallige Katastrophe. „Da tränen einem manchmal wirklich die Augen. Aber es ist nun mal so, dass die Abstraktionsleistung von der Farbkarte zur Wirklichkeit eine gewisse Erfahrung erfordert. Und die hat nicht jeder.“

Weil ihm die Industrie die gedeckten Farbtöne, die er sich wünscht, nur selten liefert, mischt Schilling sie seit Jahren in seinem Studio selbst. Eines seiner weißen Regale birgt eine Kartei mit mehr als 800 exklusiven, exakt definierten Schillingschen Farbkompositionen, darunter allein 20 Nuancen seines Lieblingsfarbtons Weiß. Wann immer er eine dieser Farben einsetzen will, gibt Schilling sie ins Labor eines Farbenherstellers, der die Farbmischung chemisch analysiert und exakt nachbaut. Auf diese Weise verwandelt sich das Bauchgefühl des Designers in einen industriellen Fassadenanstrich.

Irrtum Nr. 3: Farben sind objektiv

Nicht nur Jahreszeit und Witterung, sondern auch Lichteinfall und Umgebung verändern die Wirkung einer Farbe. Selbst die persönliche Geschichte eines Betrachters beeinflusst sein Farbempfinden, wie der Designer Konstantin Grcic einmal bemerkt hat. „Wer mit dem Licht und der Architektur eines mediterranen Landes aufwächst, hat ganz andere Farben vor Augen als jemand, der im Norden oder in Deutschland aufwächst“, so Grcic, der im grauen Wuppertal groß wurde und heute Grautöne als seine Lieblingsfarben bezeichnet. „Nicht ohne Grund sind mattschwarze Braun-Geräte in Deutschland und die rote ValentineSchreibmaschine in Italien entworfen worden.“

Während andere nur noch am Computer arbeiten, vertraut der Altmeister dem Handwerk. So entstanden seinen persönlichen Farbkarten.

Irrtum Nr. 4: Farben sind ewig

Noch komplizierter wird das Ganze, weil sich ein Farbton im Laufe der Jahre verändert. Dieser Umstand hat Schilling schon viel Kopfzerbrechen bereitet. Bei der Restaurierung der Berliner Wohnstadt Carl Legien zum Beispiel hatte das örtliche Denkmalschutzamt Proben des ursprünglichen Anstrichs sichern lassen. In genau diesen Farbtönen sollte das Haus jetzt angestrichen werden, forderten die Denkmalschützer, schließlich sei die Wohnstadt Carl Legien ein Konzept des Farbvirtuosen Bruno Taut. Dass eine Farbprobe nach 70 Jahren Vergilbens und Ausbleichens jedoch ganz anders aussieht als der Original-Farbton aus den Zwanzigerjahren, konnte Schilling den Offiziellen leider nicht ausreichend klarmachen.

Doch nicht nur der Anstrich, auch das Bauwerk selbst wandelt sich im Laufe der Zeit. Die Bremer Gartenstadt Vahr etwa, die man in den Fünfzigern als schnörkellose Wohnriegel auf eine nackte Vorstadtwiese gepflanzt hatte, wurde bereits in den Siebzigern von einem beachtlichen Grüngürtel umrahmt. Heute, sagt Schilling, „ist das ein Riesenpark mit mehr Bäumen als im Bremer Bürgerpark und viel weniger Durchblicken. Damit aber ist die Aufgabe für mich eine ganz andere. Man braucht bei Weitem nicht mehr so viel Farbe, sondern muss eigentlich nur noch Akzente setzen.“

Irrtum Nr. 5: Farbe kann jeder beurteilen

Welcher Akzent aber ist angemessen? Das ist bei nahezu jedem Bauprojekt umstritten, denn bei der Farbgestaltung gilt dieselbe Regel wie beim Fußball: Jeder meint, mitreden zu können. Zum Arbeitsalltag eines Farbdesigners gehören daher auch ermüdende Diskussionen mit Architekten, Bauherren, Investoren und Mieterbeiräten. Einmal, am Ende einer schier endlosen Sitzung mit Mietern des Berliner Märkischen Viertels platzte Schilling der Kragen: „Wenn ich einen Pullover wie Sie tragen würde“, herrschte er eine Mieterin an, „würde ich mich jeder Wortmeldung in puncto Geschmack enthalten.“ Danach erhielt er Hausverbot.

Dabei ist dem Farbdesigner durchaus bewusst, dass auch er nicht im Besitz der allein seligmachenden Weisheit ist. Manchmal täusche ihn sein Bauch, sagt er, manchmal irritiere ihn auch der „Beifall von der falschen Seite“. Als er beispielsweise in den Achtzigerjahren das Gesicht der Neuen Vahr das erste Mal überplanen sollte, habe er sich zu farbigen Schmuckbändern um Fenster und Türen – sogenannten Faschen – überreden lassen. „Da bin ich leider dekorativ gewesen“, räumt Schilling ein, und „dekorativ“ ist für einen Minimalisten wie ihn so ziemlich die größtmögliche Beleidigung. Schilling sieht sich in der Tradition des Bauhauses: Weniger ist für ihn im Zweifel mehr, Farbe immer nur eine Dienerin der Architektur – und nicht etwa umgekehrt. Das denkbar größte Kompliment ist es, wenn über sein Konzept gar nicht gesprochen werde, sondern es einfach heiße: „Was für ein schönes Haus.“

Dass er Zeit seines Lebens nie selbst eines gebaut, sondern immer nur korrigiert, addiert und repariert hat, was andere entwarfen, wurmt ihn angeblich nicht. „Ich bin kein Architekt, ich könnte das gar nicht“, meint Schilling nüchtern. Im nächsten Leben aber, da wäre er gern ein Stadtbaurat. Also einer, der dafür sorgen könnte, dass hierzulande weniger Autobahnen gebaut würden. Und stattdessen mehr Venedigs.

*Als Großwohnsiedlungen werden Siedlungen mit mehr als 2500 Wohneinheiten bezeichnet. Von den rund 240 deutschen Großwohnsiedlungen befinden sich 95 in den alten und 144 in den neuen Bundesländern. Das bedeutet: In Ostdeutschland lebt fast jeder Vierte in einer Großwohnsiedlung, in Westdeutschland etwa jeder Sechzigste.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.