Matteo Thun im Interview

Der italienische Stararchitekt und -designer Matteo Thun über Holz als das Material des Jahrhunderts und wieso die neue Avantgarde Normalität heißt.




Wer je in einem „Vapiano“-Restaurant gegessen, im Hamburger „Side“-Hotel übernachtet, seine Hände in einem „Duravit-Onto“-Becken gewaschen oder Espresso aus einer „Illy“-Tasse getrunken hat, hat automatisch die Bekanntschaft Matteo Thuns gemacht. Der Südtiroler Architekt gilt als einer der umtriebigsten Gestalter Europas. Umso überraschender wirkt die Serie von Holz-Reihenhäusern, die der 60-Jährige für das Parkgelände in Bad Aibling entworfen hat. Als erstes Beispiel eines Haus-Baukastensystems soll die „City of Wood“ vor allem eines sein: sensationell normal.

brand eins Wissen: Herr Thun, in Bad Aibling entstehen derzeit nach Ihren Plänen hölzerne Reihenhäuser, die laut Marketingprospekt konsequent der „Beauty of Economy“ huldigen. Was darf man sich darunter vorstellen?

Thun: Ganz einfach: die Ästhetik des Finanzierbaren. Selbst die ultimative Ästhetik nützt einem doch nichts, wenn man sie sich nicht leisten kann. Ich weiß das aus eigener Erfahrung: Mein persönlicher Kindheitstraum ist ein Agusta-Helikopter von zeitloser Schönheit. Den wollte ich schon immer haben. Leider verbraucht er so wahnsinnig viel Kerosin, dass er für mich selbst heute noch unerschwinglich ist. Die Beauty of Economy ist das genaue Gegenteil. Sie sagt: Ich kann mir das leisten. Käufer unseres modularen Haus-Systems zahlen nur 1200 bis 1600 Euro pro Quadratmeter und damit einen Bruchteil des sonst Üblichen.

An einer Kostenreduktion versuchen sich viele. Wie haben Sie’s hinbekommen?

Unser Leitmotiv lautete: „Reduce to the max.“ Alles, was kompliziert und teuer war, haben wir vereinfacht. Wir haben uns befreit von den DIN-Normen und Zwängen, die Architektur immer komplexer, teurer und hässlicher machen. Natürlich müssen auch wir die geforderten Werte respektieren, erreichen sie aber auf alternative Art und Weise. Wir versuchen, den DIN-Normen und der EnEV (Energieeinspar-Verordnung) weitestgehend zu entsprechen – aber es zählt die Gesamtbilanz. Bei dem Projekt in Bad Aibling haben wir eine Heizikone entworfen, die für die Nahwärmeversorgung sorgt. Das ist eine CO2-neutrale Heizung, die mit Holzabfällen betrieben wird. Hingegen verzichten wir auf aufwendige Technologien, die das Bauen nur unnötig verteuern, wie zum Beispiel auf eine kontrollierte Wohnraumlüftung.

Zur Erläuterung zeigt Thun auf die Fenster seines Studios. Die Räume der Firma Matteo Thun & Partners liegen über drei Etagen verteilt in einem Mailänder Hinterhof. Früher war hier, auf halbem Weg zwischen Hauptbahnhof und Dom, eine Großhandlung für Schrauben und Nägel zu Hause. Als Thun das Gebäude vor 30 Jahren zu seinem Atelier umbaute, ließ er großflächige Atelierfenster mit Einfachverglasung und zwei Zentimeter dünnen Sprossen einbauen. Diese energetisch nicht optimale Lösung koste ihn zwar rund 600 Euro zusätzliche Heizkosten pro Jahr, rechnet er vor. Sie sorge aber auch dafür, dass seine 50 Mitarbeiter Tag für Tag in einem lichten Ambiente arbeiten und sich wohlfühlen könnten. Und das zähle allemal mehr.

Darf ich Sie fragen, weshalb Sie bei Ihrem Hemd den obersten Knopf offen tragen?

Weil es für einen geschlossenen Hemdkragen an einem Tag wie diesem viel zu heiß wäre.

Sehen Sie? Das ist beim Wohnen nicht anders. Die deutschen Energiesparnormen aber führen dazu, dass moderne Passivhäuser heute sozusagen mit zugeknöpften Krägen ausgestattet werden müssen. Nichts geht hinaus, nichts kommt hinein. Und damit man in diesen Kisten nicht permanent ins Schwitzen gerät, werden sie mit komplexen Lüftungsanlagen aufgerüstet. Der Zuwachs an Energieeffizienz steht in keinem Verhältnis zum Verlust an Ästhetik und Lebensqualität. Zudem ist Hightech natürlich teurer als Lowtech.

Anstelle von Hightech setzen Sie bei Ihrem Haus-System auf eines der ältesten Baumaterialien: Holz. Warum?

Weil viele gute Gründe für dieses Baumaterial des 21. Jahrhunderts sprechen. Zum Beispiel wird Holz im Gegensatz zu Beton und Zement mit dem Alter immer schöner. Eine Holzfassade ähnelt dem Gesicht einer alten Bergbäuerin, die jeden Tag auf die Alm geht und deren Haut von tiefen Furchen geprägt ist. Jeder wird sagen: was für eine schöne Frau. Den gleichen Effekt können Sie bei den uralten Heuschobern aus Lärchenholz beobachten, die Sie überall in den Alpen finden. Patina ist ein Qualitätsmerkmal, im menschlichen Gesicht genau wie in der Architektur.

Das sagen Sie. Alterung gilt gemeinhin nicht als erstrebenswert.

Je verunsicherter die Menschen sind, desto höher schätzen sie Patina. Patina symbolisiert Geschichte und Identität, sie verortet und verwurzelt. Und das ist im Zeitalter permanenter Unsicherheit ein unschätzbarer Wert.

Wie überzeugen Sie einen Pragmatiker, dem die Ästhetik eines Hauses weniger wichtig ist, vom Baustoff Holz?

Etwa mit dem Argument, dass auf dem eurasischen Kontinent derart viel Holz nachwächst, dass wir dreimal so viel abholzen könnten wie heute, ohne den Bestand anzutasten. Zudem können wir Holz meist aus der Region beziehen, in der wir bauen, es ist recyclingfähig und kohlenstoffneutral, verfügt über hervorragende statische Eigenschaften und ein breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten.
Wir haben hier also quasi einen Gratisrohstoff, der uns gleichzeitig ermöglicht, die Bauzeit eines Hauses von 20 auf zwei Monate zu reduzieren. In unserem modularen Haus-System, das wir für die City of Wood entworfen haben, sind Strom-, Heizungsund Wasserleitungen bereits in den Holzwänden integriert. Der Bauherr muss im Prinzip nur noch die entsprechenden Schalter und Geräte an die Wand bringen.

Das schreit geradezu nach Serienfertigung.

So ist es angelegt. Während das Gerüst unseres Hauses immer gleich bleibt, lassen sich Grundrisse und Fassadengestaltung den individuellen, kulturellen und ästhetischen Bedürfnissen des Bauherrn und des jeweiligen Standortes anpassen. „Keep the bones, change the dress“, lautet unser Konzept. In Bottrop wird unser Haus vermutlich ganz anders aussehen als in Berlin-Neukölln oder im Schwarzwald. Nur eines bleibt immer gleich: sein günstiger Preis.

Auf die konkrete Idee, erklärt Thun später, habe ihn eigentlich seine Arbeit für Swatch gebracht. Beim Schweizer Uhrenhersteller hatte er Anfang der Neunziger als Artdirektor das Produktportfolio nach Geschmacksrichtungen segmentiert. Während die wesentlichen Bauteile identisch blieben, fächerte Thun das Design in „classic“, „basic“ und „fashion“ auf. Daraufhin, so Thun, habe sich binnen 20 Monaten der Umsatz verdoppelt. Heute ist nach einer ähnlichen Logik auch sein Haus-System angelegt.

Wie viele Exemplare Ihres Systems wollen Sie in den nächsten zehn Jahren verkaufen?

Einige Tausend Wohneinheiten halte ich für realistisch. Das Planen und Bauen wird mit einem solchen System sehr viel simpler.

Dafür erhält ein Bauherr aber kein individuelles Zuhause, sondern eines von der Stange.

Was passiert denn üblicherweise, wenn Sie als Bauherr Ihr individuelles Eigenheim planen? Sie versuchen, Ihre ganz persönlichen Vorstellungen in einen Architekturentwurf zu übersetzen. Ihre Frau aber hat möglicherweise ganz andere Träume, und dann ist da noch der Architekt, der Ihnen erklärt, warum dieses und jenes sowieso nicht funktionieren kann. Der Bauträger wiederum muss Ihren „Traum-Prototypen“ in Losgröße null in ein funktionierendes Produkt übersetzen. Am Ende überschreiten Sie das Budget, und noch bevor Sie einziehen, ist Ihre Ehe in der Krise.

Beschreiben Sie doch mal Ihr Gegenmodell.

Unser Modulsystem mit individueller Fassade steht für den Respekt vor der Seele eines Ortes. Sie können es durchaus individualisieren, indem Sie beispielsweise seine Grundrisse verschieben oder sich statt einer Holzfür eine Putzfassade entscheiden. Aber der serielle Ansatz ist ein radikaler Gegenentwurf zum System der Stararchitekten.

Was Thun verschweigt: In die Riege der Letztgenannten gehört er selbst auch. Nachdem er bei Oskar Kokoschka studiert und in den Achtzigern gemeinsam mit Ettore Sottsass die Memphis-Gruppe mitbegründet hatte, macht er inzwischen fast alles: Hotels, Restaurants, Spas und Shops. Äußerst begabt ist Thun auch in der Anwendung griffiger Formeln für seine Arbeit. „High Touch statt Hightech“ lautet eine, eine andere: „Öko statt Ego“.
Schön schlicht: Für die moderne Heizikone in Bad Aibling stand eine italienische Kapelle aus dem Jahr 1335 Pate. Die nahezu komplett geschlossene Fassade aus dicht angeordneten Lärchenholzschindeln lässt das Hightech-Innenleben kaum erahnen.

Was an den Reihenhäusern Ihrer City of Wood auffällt: Sie fallen nicht auf.

Stimmt, wir haben in Bad Aibling einen internationalen Wettbewerb gewonnen, indem wir Normalität gestaltet haben. Auf diese Errungenschaft sind wir in der Tat sehr stolz.

Was ist denn für Sie normal?

Normal ist für mich beispielsweise ein Benetton-T-Shirt oder jene Illy-Espressotasse, die da vor Ihnen auf dem Tisch steht. Nachdem ich diese Tasse 1991 gezeichnet hatte, ist sie zigtausendfach und von allen möglichen Porzellanherstellern kopiert worden. Wieso? Weil sie unheimlich normal ist. Sie sieht ziemlich genau so aus, wie ein fünfjähriges Kind eine Tasse zeichnen würde. In den USA ist „The new normality“ schon heute ein stehender Begriff für moderne Ästhetik. Nur wir Europäer haben noch ein bisschen Schwierigkeiten, ihn uns zu eigen zu machen.

Verständlich ist das schon. Wer alle Ersparnisse zusammenkratzt, um sich einmal im Leben ein eigenes Haus zu bauen, erwartet zu Recht, dass dieses Bauwerk seine Einzigartigkeit zum Ausdruck bringt. So würde es zumindest mir gehen.

Ohne Sie näher zu kennen, würde ich Ihnen unterstellen, dass Sie anders ticken. Denn Sie werden auch Ihren Erben eine Chance geben wollen, Ihr Haus zu mögen. Und je normaler und zurückgenommener die Ästhetik eines Hauses ausfällt, desto größer ist die Chance, dass es auch Ihren Kindern gefällt, die es eines Tages erben werden. Normalität bedeutet, die ästhetische Verfallszeit eines Hauses nach hinten zu verschieben. Das ist für mich echte Nachhaltigkeit.

Schön, dass Sie dieses überstrapazierte Wort erwähnen. „Der Begriff der Nachhaltigkeit“, ätzte neulich ein Architekturkritiker, „verkommt zum PR-Placebo. Seine Bedeutung löst sich auf wie eine Brausetablette im Wasserglas.“

So ist es. Leider. Die Amerikaner sprechen von „Greenwashing“, und das ist momentan ein riesiges Problem in der Bauwirtschaft. Um etwas Transparenz in das Dickicht der Nachhaltigkeitssiegel und -zertifikate zu bringen, haben wir mit den „drei Zeros“ ein eigenes und, wie ich finde, sehr ehrliches Konzept entwickelt.

Was bedeutet das?

Die drei Zeros stehen für „Zero CO2“ durch CO2-neutrale Bauweise und Energiegewinnung, „Zero Waste“ dank Recyclingfähigkeit der verwendeten Materialien und „Zero Kilometer“, also reduzierte Transportwege, durch Vorfertigung und lokale Materialien. In Bad Aibling kommt dieses Konzept voll zum Tragen.

Wie, bitte schön, wollen Sie eine ganze Siedlung ohne Abfall-, Kohlendioxid- und Transportaufkommen bauen?

„Null“ kann natürlich immer nur ein Zielwert sein, dem wir uns weitestmöglich anzunähern versuchen. Auch wenn das Holz für Bad Aibling aus der Region kommt, wird bei seinem Transport zur Baustelle CO2 freigesetzt. Unsere Obergrenze sind per Definition jene CO2-Emissionen, die ein Lkw pro Tag emittiert. Auch Zero Waste heißt nicht, dass das Gebäude keinen Abfall hinterlässt. Doch wir haben es so konstruiert, dass es sich eines Tages einfach auseinandernehmen, zum Bau eines neuen Hauses oder schlechtestenfalls zum Heizen verwenden lässt. Das ist etwas ganz anderes als ein Stahlbetonbau, den man mit hohem Energieaufwand abtragen oder sogar sprengen muss.

Thun lebt sein Credo der Einfachheit auch persönlich. Seinen Porsche habe er bereits vor Jahren verkauft, erklärt der einstige Sportflieger und Bergrennfahrer. Zur Arbeit radle er mit einem Bixs-Rad, das sich zusammenklappen und mit ins Büro nehmen lässt („In Mailand sollte man kein Fahrrad auf der Straße lassen“). Als Terminkalender dient ihm eine auberginefarbene Lederkladde, in der er handschriftlich sämtliche Termine einträgt. Damit sei er schneller als jeder Blackberryoder iPhone-Besitzer, der für eine Terminübersicht erst einmal scrollen müsse.
Schlicht schön: Die Ästhetik des Finanzierbaren kommt auch in Bädern zum Tragen. Für seine Auftraggeber in Bad Aibling hat Matteo Thun vier Stile entworfen – für unterschiedliche Geschmäcker und Geldbeutel.

Sie haben nicht nur Espressotassen, sondern auch Uhren, Leuchten, Waschtische und Möbel gestaltet. Trotzdem wollen Sie nicht als Designer bezeichnet werden. Was ist so schlimm an der Berufsbezeichnung?

Schlimm ist daran gar nichts. Ich weiß nur nicht, was ein Designer sein soll. Der Begriff „designare“ bedeutet wörtlich, Zeichen zu setzen. Darum geht es aber bei meiner Tätigkeit gar nicht. Wenn ich eine Espressotasse gestalte, muss ich etwas über den Unterschied zwischen Porzellan, Bone China und Keramik wissen. Das lernt man am ehesten bei Handwerkern. Und wo lernt man zurzeit am besten die Uralt-Tradition des Handwerks?

Als Designer vermutlich immer noch in Italien.

Nein, in China. Dort wird noch ein handwerkliches Wissen und Können gepflegt, das bei uns längst verloren gegangen ist. China wird als Suchfeld für unser Concept Sourcing immer wichtiger. Klar ist, dass ich in Zukunft öfter vor Ort sein werde.

Sie sind im Laufe Ihrer Karriere immer weite Wege gegangen. Gibt es etwas, das ein Memphis-Design aus den Achtzigern mit Ihrer Bad Aiblinger Reihenhaussiedlung von heute verbindet?

Durchaus, denn beides sind absolute Borderline-Projekte. Während wir mit Memphis Materialien bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten ausreizten, treiben wir in Bad Aibling die Reduktion von Kosten, Materialeinsatz, Komplexität und Bauzeit bis zum Äußersten. Wir erproben hier wirklich etwas ganz Neues.

Zum Neuen gehört auch Scheitern. „Wenn wir nicht mindestens alle zwei Jahre einen Absturz produzieren, wissen wir, dass wir die Grenzen des Möglichen nicht konsequent genug ausgelotet haben“, heißt es vom Designunternehmer Alberto Alessi.

Alberto ist ein guter Freund, den ich wirklich sehr schätze. Aber er ist offensichtlich kein Pilot ...

Na und?

Jeder Pilot weiß, dass eine einzige Fehlentscheidung tödliche Konsequenzen haben kann. Gleiches gilt für Unternehmer oder Architekten wie mich. Ich will zwar abheben und so hoch wie möglich fliegen, aber einen Absturz kann ich mir nicht leisten.

Sie waren in jungen Jahren Mitglied der italienischen Drachenflieger-Nationalmannschaft. Was fliegen Sie heute, wenn Sie sich keinen Agusta-Helikopter leisten können?

Gar nichts. Als ich 1980 ins Büro meines zukünftigen Partners Ettore Sottsass eintrat, musste ich ihm versprechen, mit dem Fliegen aufzuhören. Und wenn man das einmal getan hat, verliert man sehr schnell seine Sicherheit in der Luft. Trotzdem profitiere ich bis heute von meiner Pilotenerfahrung, denn sie hilft mir beim schnellen Erfassen von Geländekonfigurationen. Das wiederum ist für einen Architekten essenziell, denn beim Bauen geht es darum, den Genius Loci zu verstehen. Heute zelte ich manchmal auf dem Bauplatz, um sein Mikroklima zu erleben und zu spüren, woher der Wind weht und wo die Sonne aufgeht.

Haben Sie das auch in Bad Aibling getan?

Nein. Bad Aibling liegt in einer Ebene, in der es vor allem darauf ankommt, Gebäude gemäß der Windund Wetterverhältnisse auszurichten. Aus welcher Richtung kommen die Tiefdruckgebiete? Wo befindet sich die Wetterseite? Das können wir alles von den Walser Bergbauern lernen, die mit ihrem traditionellen Hausverstand sehr viel besser bauen als wir heute.

Waren das auch Ihre architektonischen Lehrmeister?

Sie sind bis heute meine unbestrittenen Idole. Dank Armut und Klimabedingungen haben sie ganz selbstverständlich immer die sparsamsten und einfachsten Lösungen gesucht. „Weniger ist mehr“, die Devise, die heute von Architekten hochgehalten wird, ist seit jeher die Basis ihrer handwerklichen Kultur.

Jetzt bauen Sie nicht nur ein Haus, sondern eine ganze Siedlung. Was muss geschehen, damit aus Häusern, Straßen und Plätzen ein funktionierender Stadtorganismus wird?

Eine gesunde, funktionierende Stadt ist ein hochkomplexer Organismus, der auf Heterogenität, Vielfalt und Vielsprachigkeit basiert. So etwas lässt sich kaum planen. Heute fördert der freie Markt leider die Entstehung riesiger Satellitenslums, die man nicht mehr regenerieren, sondern eigentlich nur abreißen kann.

Spielen Sie da auf China an, wo etwa die deutschen Architekten GMP mit Lingang New City eine heute schon 300 000 Einwohner fassende Stadt aus dem Boden stampfen?

Während Chinas Handwerkstraditionen Weltklasse sind, ist die gegenwärtige chinesische Architektursprache eine Katastrophe. Infolge der Kulturrevolution ist den Chinesen das Gefühl für den Genius Loci komplett verloren gegangen, ersatzweise orientieren sie sich an der amerikanischen Postmoderne. Ich habe das gerade in Schanghai beobachtet, wo man heute Tympanons, Tempelchen am Dach, falsche Säulen und ein bisschen viktorianische Ornamentik an die Gebäude heftet – ein Zeichen offensichtlicher Ratlosigkeit, wie man mit der eigenen Kultur umgehen soll. Enormer Kostendruck und mangelndes Qualitätsbewusstsein führen zu einer katastrophalen baulichen Qualität. Da kann auch der beste Entwurf nichts mehr ausrichten. ---

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.