Kleinwasserkraftwerk Spitzingsee

„Da fließen 200 Kilowatt!“ Karl Molz zeigt auf einen Bachlauf, der sich in gut 1000 Meter Höhe unter stahlblauem Himmel durch bayerische Almwiesen schlängelt. Wo der Tourist nur klar gurgelndes Wasser sieht, nimmt Molz, der Bauingenieur, Kraft wahr. Und er weiß um die Möglichkeiten, sie zu nutzen. Karl Molz, Jahrgang 1956, Müllerssohn. „Seit etwa 1850 hatten wir nur Müller in der Familie“, sagt er. Doch nun bricht er mit der Tradition, denn in der zweiten Lebenshälfte hat er seine Bestimmung gefunden: Er betreibt mit Leib und Seele Wasserkraftwerke.




Der Betrieb eines Kleinwasserkraftwerks ist nichts für Verzagte. Ohne harte Arbeit und einen unbeugsamen Willen geht es nicht. Ein Besuch bei Kraftwerksbetreiber Karl Molz am bayerischen Spitzingsee.

Mit dem Werk am Spitzingsee, gut 30 Kilometer südlich von Bad Aibling, fing 2005 alles an. Damals meinte Molz, die 2,3 Millionen Euro zusammenzuhaben, die er zum Kauf des Kraftwerks benötigte. Ein Dreivierteljahr hatte er an dem Projekt gefeilt, es kalkuliert, im Kopf modelliert. Jemand wie er träumt keine Wasserschlösser. Der hat auch keinen Plan B. „Den habe ich nie gehabt“, spricht Molz in die zentimeterdicke Tischplatte der Albert-Link-Hütte auf 1053 Meter, in Sichtweite des größten Hochgebirgssees Bayerns. Dafür bewies er, als er Ende 2005 mit einem Notariatsvertrag dastand, die Bank aber abgesprungen war, seine Unbeugsamkeit: Er ließ nicht locker – und bekam schließlich doch seinen Kredit.

Seitdem „erntet“ der 55-Jährige in einem weiß gekalkten Gebäude, auf dem der Schriftzug „Elektrizitätswerk Spitzingsee“ in einem KdF-artigen Stil prangt, die Kraft des Gefälles. Ernten? Molz sieht seine Rolle ähnlich wie die eines Försters. „Was wir säen, ernten unsere Enkel.“ Sein Begriff von Nachhaltigkeit
ist weit entfernt von den Lohas der Neuen Mitte im Prenzlauer Berg, die zwischen Wohlstand und Wohlfühlen auch noch die Welt retten wollen. „Ich brauche für mich vielleicht 30 Euro die Woche für Brot, Käse und mal eine Lyoner. Ich könnt’ euch zu Hause nicht mal was anbieten ...“ Und der silberfarbene BMW X5, mit dem er unterwegs ist? „325 000, 375 000, 435 000“, zählt Molz die Kilometerstände seiner früheren Wagen auf, bevor er sie verschrotten ließ. Nur seine Turbinen und er selbst sind noch zäher.

Man darf sich nicht auf die Technik verlassen

Das klingt alles sehr idealistisch, und so sollte man an dieser Stelle vielleich einfügen, dass das Geschäftsmodell von Karl Molz und seinen Kollegen, die Deutschlands 7199 Kleinwasserkraftwerke mit weniger als einem Megawatt Leistung betreiben, eigentlich nicht auf Wasserkraft basiert, mit der heute vier Prozent des Stroms in Deutschland bereitgestellt wird. Dass das Geschäft wie ein „Turbienchen“ summt, verdankt es allein den Subventionen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG): 12,70 Cent erhalten die Wasserkraftwerker je Kilowattstunde, die sie ins Netz einspeisen. Das ist vom Staat ab Inbetriebnahme für 20 Jahre garantiert. Der Marktpreis für eine Kilowattstunde, lieferbar ab 2013, liegt dagegen knapp unter fünf Cent. Ein einträgliches Geschäftsmodell, aber nur kein Neid: Die Risikofreude und das Engagement eines Karl Molz bringt kaum jemand auf.

Wir stehen direkt am Seeweg im Halbdunkel einer Hütte, deren Schindeldach aus Kanada-Zeder den Wassereinlass schützt. Hier im Rechenhaus nimmt die Umwandlung von kinetischer in mechanische Rotationsenergie ihren Anfang: 475 Liter Wasser pro Sekunde stürzen durch ein Rohr 40 Meter tief auf die Schaufeln der Pelton- und Francis-Turbinen, die zusammen bis zu 200 Kilowatt liefern. So erntet Molz jenes Wasser, das durch Regen und Schneeschmelze aus einem fast acht Quadratkilometer großen Einzugsgebiet in den See fließt. Für den Betrieb des Werkes hat er sich verpflichten müssen, den Pegel des Sees so zu regulieren, dass die Stuben von Postgasthof und Alter Wurzhütte („Seit 1720“) nicht nass werden.

Den Seespiegel regulieren ein Wehr, ein Stahlschütz und eine aufgesetzte sogenannte Fischbauchklappe. Sie zweigen bei hohem Pegelstand so viel Wasser in ein parallel zum Rohr verlaufendes Bachbett ab, dass der See nicht überschwappt. „Hier stehe ich dann zwei-, dreimal im Monat nachts im Ölzeug im strömenden Regen und steuere manuell die Schütze.“

Warum tut er das nicht vom heimischen Bett aus, was ihm die Siemens-Prozesstechnik-Software SPS5, die ihm alle Daten auf jeden ISDN-Anschluss der Welt liefert, durchaus erlauben würde? Molz schüttelt den Kopf. „Man darf sich nicht auf die Technik verlassen.“ Der Vorbesitzer des Kraftwerks tat das übrigens auch nicht, er vertraute stattdessen seinen minderjährigen Söhnen, die leider taub und blind waren für die Sturzfluten des Himmels – der in einer Senke tätige Wurzhüttenwirt war daraufhin für den Wassereinbruch zu entschädigen.

Rechnet Karl Molz im Winter die Schneehöhen von hier durchaus mehr als zwei Metern in jene Einnahmen um, als die sie dann von März bis Mai in den See stürzen? Regnet es für ihn gleichsam Geld, wenn – wie in den ersten acht Monaten 2012 – mehr als 2200 Millimeter Regen pro Quadratmeter fallen? „Nein, daran denke ich nicht.“ Vermutlich hat er dafür zu viel zu tun. Zum Beispiel muss er mit einer Harke mit einem drei Meter langen Stiel den Zufluss zu den Turbinen frei halten. Was räumt er da so weg? „Normalen Zivilisationsmüll. Die Holzstangen der Silvesterraketen zum Beispiel, die Neujahr aufs Eis fallen und bei der Schmelze vor den Rechen getrieben werden.“

Die Arbeit mit dem Rechen sorgt dafür, dass das Wasser ungehindert durch ein Fallrohr von 370 Meter Länge fließen kann, das aus Stahlrohren von 800 und 550 Millimeter lichter Weite zusammengeschweißt ist. „Die Anlage wurde zwischen 1946 und 1948 von Karl Winterholler gebaut, einem Ingenieur bei Krauss-Maffei“, erzählt Molz. „Keine Ahnung, ob die unterschiedlichen Durchmesser am Materialmangel direkt nach dem Krieg liegen oder ob er durch die Verengung des Querschnitts die Fließgeschwindigkeit erhöhen wollte.“

Karl Molz, Bauingenieur, Familienvater, Pionier und Handwerker, hat die Pipeline (rechts) für sein Wasserkraftwerk „Blecksteinstufe“ selbst gebaut – und ist sich auch sonst für keine harte Arbeit zu schade.

Das Werk rechnet sich – erst unter Karl Molz

Der Mann dachte jedenfalls nachhaltig, expansiv und profitorientiert. Der Gleichstrom seiner Turbinen trieb den ihm ebenfalls gehörenden Stümpfling-Sessellift an, der Skifahrer die Hänge hinauffahren sollte. Allerdings war damit bis 1960 nicht viel zu verdienen. Erst als in jenem Jahr Barbara „Barbi“ Henneberger bei den Olympischen Spielen Bronze im Slalom gewann, wurde auch dem Skisport als Breitensport größere Aufmerksamkeit zuteil. Das Leben der Verlobten von Willy Bogner endete bei den Dreharbeiten zu „Ski-Faszination“ mit nur 23 Jahren tragisch unter einer Schneelawine, Bogner wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt – doch der Ski-Sport hatte seinen Aufschwung.

Ein gutes Geschäft war die Sache trotzdem nicht, denn der damalige Eigentümer ließ die Anlage von zwei Angestellten betreiben – und das Geld für deren Lohn warf der Stromvertrieb über ein sechs Kilometer langes Überlandnetz zu den Almbauern sowie der Betrieb der Lifte nicht ab. Erste Auffangstation bildete 1970 die Bayerische Hypound Vereinsbank, von ihr übernahm die Gemeinde erst die Anlage und dann sich selbst. Denn auch sie stellte Personal ein, das mehr kostete, als es einbrachte.

Schließlich verkaufte sie das Werk an jemanden, der die Sache selbst in die Hand nahm. „Und aus dessen Händen wiederum habe ich es übernommen“, sagt Molz, während er seine Turbinen betrachtet. Unter anderem verpflichtete er sich auch dazu, an einige Almbauern Heu zu liefern, was denen irgendwann als Entschädigung für die Kappung ihres privaten Leitungsnetzes zugestanden worden war. Ein Fall bayerischer Sonderwirtschaft. Aber das ist nur ein Detail in den weitreichenden Ausführungen des Ingenieurs, in denen sich Begriffe wie „Gestattungsvertrag“, „Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie“ und „privilegiertes Recht“ – dem er als Wasserwerker zu seinem Vorteil unterliegt – ganz selbstverständlich begegnen.

Rund 20 Minuten Wanderweg vom Kraftwerk „Spitzingsee“ entfernt liegt Karl Molz zweites Wasserkraftwerk: „Blecksteinstufe“. Dort besichtigen wir ein neues Stahlrohr von 800 Millimeter lichter Weite, das er eigenhändig über 63 Höhenmeter mit zwei weiteren Männern in nicht einmal vier Wochen verlegt hat. Die Stichworte „Teilmontage“, „Gießen der Fundamente vor Ort“ und „600 Meter lange, selbst gebaute Materialseilbahn aus 35 Millimeter dicken Stahlseilen“ fallen. Das erinnert an Pionierarbeit im Wilden Westen oder den Bau einer Pipeline in Sibirien. Und das nicht zu Unrecht. Molz hat alles, was der Pionier braucht: Improvisationstalent, Durchhaltevermögen, Kraft und Mut.

In sich gekehrt fährt Molz mit dem Zeigefinger über eine viereckige Schweißnaht von kaum 100 mal 100 Millimetern am Ende eines Rohrstücks. Auf den fragenden Blick antwortet er: „Mein Luftloch, als ich die Rohre von innen miteinander verschweißt habe.“ So etwas dürfte kein Angestellter, das darf nur der Unternehmer selbst.

Auf Schotterwegen fahren wir zu dem Kraftwerk, wo das Wasser des Flüsschens Valepp in bis zu 610 Kilowatt elektrische Leistung verwandelt wird. Die Leistung wird zwar noch nicht erreicht, aber Molz weiß schon, woran es liegt. Und wie kommen drei bayerische Turbinen zu den Namen Bagnolia, Igosta und Angostura? Der Turbinenbauer Voith produzierte sie um 1942 für Südamerika und Italien und benannte sie nach ihren Zielgebieten oder Auftraggebern, konnte sie jedoch nicht mehr exportieren. Deshalb laufen sie seit Ende der Vierzigerjahre nun hier – zwischen 2000 und 5000 Stunden im Jahr. Selbst dass mal eine Wasserfontäne das Dach wegsprengte und ein Delta in den gegenüberliegenden Hang spülte, haben sie verkraftet.

Auch Molz, der Vater zweier Kinder, hat das weggesteckt. Und wie geht es nun weiter? „Ich schaue mich nach Wasserkraftwerken in Italien und der Schweiz um“, sagt Karl Molz und lacht. „Ich wollte immer Wasserkraftwerke besitzen, die größer sind als die meiner Eltern.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.