Städtebauliche Kriminalprävention, Landeskriminalamt Berlin

Die Architektin Ingrid Hermannsdörfer arbeitet beim Landeskriminalamt Berlin in der Städtebaulichen Kriminalprävention. Bei ihrer Arbeit geht es nicht nur um die Gestaltung öffentlicher Räume, sondern vor allem um das alltägliche menschliche Miteinander.




Die Gartenstadt Neu-Tempelhof im Berliner Süden ist eine urbane Idylle. Niedrige Häuserreihen mit überwucherten Vorgärten ziehen sich entlang schmaler Straßen, die sich sanft in ihre Kurven legen, bevor sie an gepflegt verwilderten Plätzen und Parks innehalten, als wollten sie Spaziergängern ein gutes Beispiel sein: Hey, mach mal Pause! Nun gut, die Straßen sind nach Fliegeroffizieren aus dem Ersten Weltkrieg benannt, das stört das Glück ein wenig. Doch wenn die Manfred-von-Richthofen-Straße in einer Einkaufsmeile endet, die so gesund wirkt wie eine Emil-und-die-Detektive-Verfilmung aus den Fünfzigerjahren, wenn danach auf dem Platz der Luftbrücke das gleichnamige Denkmal den satten Charme des Wirtschaftswunders versprüht und dahinter der Flughafen Tempelhof, einst das größte Gebäude der Welt, grandios den Besucher empfängt, dann ... Ja, dann ist es schon eine Abkühlung, wenn einen Ingrid Hermannsdörfer im dort ansässigen Landeskriminalamt Berlin in die zersplitterte Realität des dritten Jahrtausends zurückholt.

Broken-Windows-Theorie. Das ist der Begriff, der gleich in der ersten Minute fällt. Kein Wunder: Die in den Achtzigerjahren aufgestellte These, dass eine Kleinigkeit wie ein zerbrochenes Fenster die totale Verwahrlosung einer ganzen Gegend nach sich ziehen kann, ist die Grundlage von Hermannsdörfers Arbeit. Die Architektin in der Abteilung für Städtebauliche Kriminalprävention im Landeskriminalamt Berlin identifiziert in Zusammenarbeit mit Wohnungsbaugesellschaften, Gewerbetreibenden, Ämtern und nicht zuletzt Anwohnern genau solche Broken Windows. Ihre Reparatur kann ganze Viertel stabilisieren, beziehungsweise Kieze, wie das in Berlin heißt. Im Idealfall berät sie Bauherren bereits bei der Planung, meist wird sie allerdings erst gerufen, wenn es Probleme gibt.

In ihrer bunten Bluse und mit ihrem unübertrieben selbstbewussten Auftritt ist Hermannsdörfer ganz offensichtlich keine Beamtin. Man sieht ihr an, dass sie, bevor sie vor fast zwei Jahren zur Polizei kam, als freiberufliche Architektin unterwegs war. Damit ist sie eine Rarität: Es gibt bundesweit nur eine weitere Architektin in ihrem Bereich, beim LKA Niedersachsen, aber die arbeitet nur in der Forschung.

Ja, an einiges habe sie sich gewöhnen müssen, erzählt die 57-Jährige, während sie auf einen Computer wartet, der so langsam hochfährt, als würde er hydraulisch betrieben. Die schlechte technische Ausrüstung der Berliner Polizei gehört wohl dazu. Aber schließlich läuft die Präsentation, in der sie ihre Thesen mit Fotos von Orten der Verwahrlosung illustriert: von Tags und Graffiti beschmierte Wände, zugewucherte Grünanlagen, Müllberge auf Straßen und in Parks. „Sichtbare Normverletzungen“, sagt sie mehrfach, „erhöhen die Bereitschaft zu weiteren Normverletzungen bis hin zur Kriminalität.“ Das sei belegt.

Ihre Lösungen sind simpel: Der öffentliche Raum sollte klar definiert sein – wenn die Grünfläche nur noch eine Brache ist, wird sie zugemüllt. Er sollte übersichtlich sein, sodass sich keine Räuber verbergen oder an Autos zu schaffen machen können. Die Bedürfnisse von Minderheiten wie Behinderten oder Senioren sollten beachtet werden, was sich zum Beispiel in Gehwegen ohne Schlaglöcher zeigt. Broken Windows, also etwa herumliegender Müll oder Graffiti, sollten sofort entfernt werden. Wenn dann über diese Maßnahmen eine „Nutzungsvielfalt“ für viele Menschen erreicht wurde, entwickelt sich schließlich auch die Grundlage der Sicherheit im öffentlichen Raum: die natürliche soziale Kontrolle.

Das unterscheidet die Gartenstadt Neu-Tempelhof von einem Knotenpunkt im urbanen Getöse: In der Idylle kennen sich alle, es ist nichts Böses zu erwarten, und im Notfall kümmert man sich umeinander. Auf dem urbanen Platz dagegen treffen sich Fremde. Das wirkt sich nicht unbedingt auf die objektive Sicherheitslage aus, die sich in der Kriminalitätsstatistik niederschlägt, dafür aber auf das Sicherheitsgefühl des Einzelnen. Das hat sich, glaubt Hermannsdörfer, in den vergangenen Jahren verschlechtert. Das läge an der Berichterstattung in den Medien, aber die Menschen seien auch verunsichert, weil sie die öffentliche Kontrolle vermissten und fürchteten, bei Problemen allein zu stehen. Nun entspricht das Sicherheitsgefühl selten der Sicherheitslage – meist ist die Lage viel besser als das Gefühl. Doch das merkt kaum einer. Und deshalb beschäftigt sich die Architektin ebenso viel mit Menschen wie mit Architektur.

brandeins Wissen: Man hört in den Medien oft den Begriff Angsträume. Ist heute die ganze Stadt ein Angstraum?

Ingrid Hermannsdörfer: Ich benutze diesen Begriff nicht gern. Man muss zwischen Unbehagen und Angst unterscheiden. Wenn ich nachts durch einen Park gehe und Angst habe, überfallen zu werden, ist das etwas Konkretes. Wenn ich dagegen über einen verwahrlosten Platz gehe, wo die Bänke marode sind, das Grünzeug wuchert, überall Müll herumliegt und in einer Ecke vielleicht noch ein paar Alkoholiker sitzen, dann haben die meisten keine Angst, aber viele fühlen sich unbehaglich. Wir versuchen, an so einem Ort eine Situation zu schaffen, die möglichst viele verschiedene Nutzungen zulässt, sodass sich die Menschen dort wohlfühlen und mit dem Ort identifizieren. Dann übernehmen sie auch Verantwortung dafür, schaffen eine natürliche soziale Kontrolle und damit tatsächlich mehr Sicherheit.

Und die Problemgruppen ziehen dann woanders hin?

Nein, das wäre nur eine Problemverlagerung. Nehmen Sie den Leopoldplatz hier in Berlin: Da gibt es eine recht große Trinkerszene, mit 30, 40 Leuten, manchmal mehr. Viele Menschen fühlten sich durch die große Gruppe verunsichert, und so wurde der Platz neu gestaltet. Dabei wurden alle einbezogen, auch die Trinker. Die standen vorher an einer Ecke, wo viele Leute durchkamen. Ihnen wurde ein anderer Platz angeboten, der extra für sie eingerichtet wurde. Sie hatten volles Mitspracherecht, sie wollten zum Beispiel viele Mülleimer, die sie auch bekommen haben. Demnächst wird der Platz noch überdacht. Und er wird super angenommen. Die Nutzer haben sogar gefragt, ob man ihnen einen Besen geben kann, damit sie ihn selber sauber halten können. Direkt gegenüber ist ein Spielplatz, aber das kollidiert gar nicht. Und das ist es, was wir wollen: dass alle ihren Platz finden und das gemeinsame Leben konfliktfrei verläuft.

Gegen Graffiti und Tags kommen Sie so aber nicht an.

Nein, aber man kann Fassaden bemalen oder begrünen, das wird meist respektiert. Es gab zum Beispiel ein Schulprojekt, bei dem Kinder auf Tafeln Typen gemalt haben, die sie aus ihrem Kiez kannten: die türkische Frau, den Trinker und so weiter. Daneben schrieben sie, was das für Leute sind, Geschlecht, Alter et cetera, und wie sie die finden. Beim Trinker stand zum Beispiel: ‚Wir hatten immer ein bisschen Angst vor denen, aber man kann mit ihnen richtig gut reden.‘ Die haben für das Projekt mit den Leuten gesprochen. Die Tafeln wurden am Schulhofzaun angebracht und mit Graffiti-Schutz überzogen, aber das wäre nicht nötig gewesen: Niemand hat je versucht, etwas draufzusprühen.

Das klingt doch alles zivil. Vielleicht fühlt sich nur eine Minderheit auf verdreckten Plätzen unbehaglich.

Das sind keine Minderheiten. Ich habe keine Zahlen; es gibt zwar Studien zum Thema, aber die laufen noch. Doch ich höre das wirklich oft. Da sagen zum Beispiel Kinder: ‚Wir gehen nicht gerne an diesem Haus entlang, das sieht so oll aus, da haben wir kein gutes Gefühl.‘ So etwas kommt von vielen Menschen. Ich persönlich glaube, dass viele spüren, dass der gegenseitige Respekt abgenommen hat, die Hilfsbereitschaft, die Zivilcourage. Kürzlich erzählte mir jemand, dass er die Polizei gerufen hat, weil einer vor seinem Haus Sperrmüll abgestellt hat. Und als ich sagte, er hätte den Mann doch erst mal ansprechen können, hörte ich: ‚Nee, nachher hat der vielleicht ein Messer.‘ Es gibt einen enormen Mangel an Kommunikation.

Ist das auch bei den Trinkern ein Problem?

Ja, zum Teil sicherlich. Das sind in der Regel ganz friedliche Leute. Aber es gibt so eine Angst vor allem, was anders ist. Das hängt allerdings auch von der Größe der Gruppe ab. Wenn eine Nutzergruppe im öffentlichen Raum dominant wird, wird die Situation schwierig, dann fühlen sich viele verunsichert.

Das heißt, man sollte schon bei der Planung zentraler Plätze auf möglichst viele unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten achten.

Richtig. Das setzt aber eine gewisse Konfliktfähigkeit voraus, denn es gibt immer etwas, das irgendwen stört. Doch wenn die Gruppen klein sind, trauen sich die Leute eher, etwas zu sagen.

Dann muss man die Menschen miteinander in Kontakt bringen?

Die Infoveranstaltungen zur Umgestaltung öffentlicher Räume sind öffentlich, da kommen ganz unterschiedliche Leute zusammen, die auch miteinander reden. Das wird vom Quartiersmanagement organisiert, und wenn es etwa um Trinker geht, ist oft ein Sozialarbeiter als Vermittler dabei. Da werden wirklich Vorurteile abgebaut.

Dass die Menschen so wenig Verantwortung übernehmen, könnte auch daran liegen, dass für alles irgendwer zuständig ist. Wäre es hilfreich, wenn man Menschen Orte in Parks oder an der Straße gibt, um die sie sich selbst kümmern können?

Es gibt Modelle, bei denen etwa Gewerbetreibende Fahrradständer sponsern oder Brunnen betreiben, weil die Erfahrung zeigt, dass Brunnen, die nicht in Betrieb sind, schnell Müllhalden werden. Es gibt Pflegepatenschaften für Grünanlagen. Und das Guerilla Gardening nimmt auch zu. Das ist inzwischen, zumindest in einem gewissen Rahmen, gern gesehen.

Und wenn ich die alte Bank in einem Park selbst anmale?

Das müssten Sie anmelden beziehungsweise mit den Zuständigen abstimmen, sonst kann es sein, dass Sie Ärger bekommen. Wenn die Bank beschmiert ist, beseitigen Sie zwar eine Sachbeschädigung, aber Ihre Aktion kann ebenfalls als Sachbeschädigung gesehen werden. Das hängt vom jeweiligen Amt ab. Ich glaube allerdings, dass man mit solchen Ideen heute immer häufiger offene Türen einrennt.

Wäre es dann besser, einige öffentliche Räume zu deregulieren, sodass sich die Nutzer ihre Regeln selbst schaffen können?

Der Trend geht eher dahin, klare Regeln einzuführen, die sogar aushängen. Das wurde auch für den Trinkerplatz am Leopoldplatz gemacht. Aber die Regeln wurden gemeinsam mit den Nutzern aufgestellt. Und dann werden sie auch eingehalten.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.