Was dagegen?

Wer Ja sagt, muss auch B sagen. Aber wie ist das mit dem Nein? Dagegen sein ist nicht genug.




1. Falsche Antwort. Tut mir leid

Das Inserat, das in einer Lokalzeitung der Stadt New Haven im US-Bundesstaat Connecticut erschien, lockte unverhohlen: „Wir zahlen vier Dollar für eine Stunde Ihrer Zeit“, stand da in großen Lettern.

Das war im Jahr 1961 eine Stange Geld, und es ließ sich vermeintlich leicht verdienen. Gesucht wurden Menschen, die an „einer Gedächtnis- und Lernstudie“ teilnehmen wollten. Eine bestimmte Ausbildung wurde nicht gefordert, es gab auch keine weiteren Verpflichtungen. Willkommen seien, so konnte man lesen, „Fabrikarbeiter, Geschäftsleute, Verkäufer, Friseure und Kommunalangestellte“. Das Geld gab es bar bei Erscheinen im Labor. Dazu 50 Cent Fahrtspesen. Und der Rahmen war auch seriös. Der Test fand schließlich an der Yale-Universität statt. Wichtig war nur, dass man zwischen 20 und 50 Jahre alt war und männlichen Geschlechts. Wer diese Kriterien erfüllte, musste nur noch den gedruckten Antwortschein unter dem Inserat ausfüllen, Name, Adresse, Alter, Beruf, und ihn an folgenden Empfänger schicken: „Professor Stanley Milgram, Department of Psychology, Yale University, New Haven /Connecticut“.
Das war alles.

Mehr als zehn Jahre später, 1974, veröffentlichte Stanley Milgram die Ergebnisse seiner Versuche als Buch. Mit seinem Werk „Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ wurde der Professor zum Star. Das Buch fand sich in fast jedem besseren Bücherregal in den westlichen Wohlstandsnationen. Wer es nicht gelesen hatte, der kannte es aus dem Fernsehen, in dem Dokumentationen von Milgrams Experiment berichteten. Was nach dem Inserat in einer Lokalzeitung in New Haven, Connecticut, geschah, hat eine ganze Generation geprägt, die Nachkriegsgesellschaft – ganz besonders die deutsche – an ihre dunkelste Seite erinnert und nachhaltig geschockt. Wobei macht man mit? Wozu sagt man Ja? Wann muss man Nein sagen? Diesen Fragen konnte sich niemand entziehen.

Doch zurück in die frühen sechziger Jahre, nach New Haven. Wer in die Labors an der Yale-Universität eingeladen wird, trifft dort auf zwei Männer, einer in einem grau-weißen Kittel, der Uniform der wissenschaftlichen Autorität. Dieser Mann stellt sich als Studienleiter vor. Der andere Mann trägt Zivil und wird vom Studienleiter als weiterer Teilnehmer des Experiments vorgestellt. Hallo. Wie geht's? Schön, Sie kennenzulernen. Dann erklärt der Studienleiter das Experiment. Man wolle herausfinden, welchen Einfluss Bestrafung auf das Lernen und die Gedächtnisleistung habe. Ein Teilnehmer am Experiment, der „Lehrer“ genannt wird, stellt die Fragen, ein anderer Teilnehmer, der „Schüler“, antwortet darauf. Lehrer und Schüler sitzen in zwei voneinander getrennten Räumen. Sie verständigen sich über Mikrofon und Lautsprecher. In dem Raum, in dem der Lehrer die Fragen stellt, sitzt auch der Studienleiter. Der Schüler muss möglichst viele Wortpaare auswendig lernen und die Abfrage des Lehrers richtig beantworten. Wenn er dabei einen Fehler macht, gibt es eine Strafe, einen Elektroschock, den der Lehrer über eine Reihe von Knöpfen auslösen kann, die sich auf einer Konsole vor ihm befinden. Mit jeder falschen Antwort wird die Stromstärke gesteigert. Erster Fehler: 45 Volt. Ein leichtes Kribbeln. Nächster Fehler: plus 15 Volt, also 60 Volt, das spürt man deutlich. Ab 75 Volt tut es richtig weh.
Die Skala geht bis 450 Volt.

Milgrams Mitarbeiter, die Studienleiter, klären die Teilnehmer nüchtern und sachlich auf. Jedem Kandidaten wird klargemacht, dass er das Experiment abbrechen kann, wann immer er es für richtig hält. Ein schneller Abbruch wäre allerdings natürlich nicht gut im Sinne der Forschungsfrage „Lernt man besser, wenn man Angst vor Schmerzen hat?“ beziehungsweise „Helfen Stromschläge dem Gedächtnis?“.

Der Studienleiter versichert sich noch einmal der Kooperation der Teilnehmer. Ja? Gut. Fangen wir an. Ach ja, wer nun von den beiden Testpersonen den Schüler macht und wer den Lehrer, das entscheidet das Los, einverstanden? Klar, sagen die Kandidaten, ganz schön spannend, meine Güte, puh. Sie sind aufgeregt, haben ein mulmiges Gefühl, aber sie lassen sich auf das Ganze ein.
Sie machen mit. Man knobelt.

Stanley Milgram hat das Experiment perfekt inszeniert. Die Psychologen seines Teams wurden von Schauspiellehrern trainiert. Natürlich ist der zweite Mann in Zivil, der schon im Labor anwesend ist, wenn der Kandidat eintrifft, auch ein Schauspieler. Die Knobelei ist reiner Betrug. Der Schüler wird absichtlich Fehler machen, und er wird nicht wirklich Stromschläge erhalten.

Doch der Lehrer, die eigentliche Testperson, ahnt das nicht einmal. Er hört über die Lautsprecher nur die falsche Antwort seines Schülers. Er wird seinen Kopf zur Seite drehen, dort, wo der Studienleiter sitzt, der wird kurz nicken. Dann wird der Lehrer einen Knopf drücken. Der Schüler wird bestraft werden. Bei 75 Volt wird er ein angespanntes Grunzen aus dem Lautsprecher hören. Dann – falsche Antwort, Stromschlag, plus 15 Volt – ein Stöhnen, dann, nächste falsche Antwort, plus 15 Volt, ein Schmerzensschrei, dann dumpfe Schläge gegen die Wand, dann, plus 15 Volt, falsche Antwort, tut mir leid, laute, gellende Schreie, die sich, falsche Antwort, Knopf drücken, eins drauf, in ein resigniertes, erschöpftes Wimmern verwandeln, bis nichts mehr kommt. Ab einem Strafmaß von 330 Volt hört man nichts mehr. Doch viele Lehrer machen auch hier noch weiter.

Manche Schüler betteln um Gnade, vergeblich. In einer Variante des Milgram-Experiments erfährt der strafende Lehrer vor dem Test von einer Herzkrankheit seines Schülers. Jeder Stromstoß kann tödlich sein. Im Protokoll findet sich der Satz des Schülers: „Das reicht! Lassen Sie mich raus hier! Ich habe Ihnen gesagt, dass ich's am Herzen habe! Langsam bekomme ich Probleme – ich mach' nicht mehr mit!“ Ein Drittel der Lehrer lässt sich davon erweichen. Zwei Drittel machen weiter. Von den 40 Lehrern des ersten Milgram-Experiments hört kein Einziger auf, als sein Opfer ihn darum bittet. Zwei Drittel der Teilnehmer drücken alle Knöpfe bis zum Strafmaß von 450 Volt. Damit hat niemand gerechnet. Erfahrene Psychiater meinten vor den Tests, dass höchstens einer von 1000 Versuchspersonen bereit sein würde, bis zur Höchststrafe von 450 Volt zu gehen. Als man bei folgenden Experimenten die Quote einführt, halb Frauen, halb Männer, verändert sich nichts.

Es waren auch keine Sadisten, keine Psychopathen, die hier am Werke waren. Stanley Milgram erinnerte sich später an einen Lehrer, der ihm besonders repräsentativ erschien für die Jasager in seinem Labor, ein „selbstsicherer Geschäftsmann“, wie Milgram den Mann beschreibt, der sich allerdings schon nach einigen Minuten in ein „zuckendes, stotterndes Wrack verwandelt hatte und kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand“. Offensichtlich war ihm seine Aufgabe zuwider. Er meckerte herum, ruderte mit den Armen und sagte laut: „Oh mein Gott, was tue ich hier?“ Das war, nachdem er seinem Opfer einen Stromstoß verpasst hatte und nur wenige Sekunden bevor er ihm den nächsten gab. Er ging bis zum Maximum.

2. Mitmachkultur

In den sechziger und siebziger Jahren gab es vieles, wogegen man aus gutem Grund sein sollte. Es waren nicht nur fiktive Stromstöße, die zum Widerstand, zum Neinsagen aufforderten. Rund um das Transformationsjahr 1968 wurde das Wort „Pflichterfüllung“, das Jasagen gegenüber Autoritäten, zum Synonym für Mord und Totschlag.

Im selben Jahr, in dem Stanley Milgram sein Experiment begann, 1961, saß im Jerusalemer Bezirksgericht ein Mann auf der Anklagebank, für den der deutschen Philosophin Hannah Arendt das Wort „Schreibtischtäter“ einfallen sollte: Adolf Eichmann. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer war als Leiter des sogenannten Judenreferats des Reichssicherheitshauptamtes in ganz Europa gefürchtet. Er war einer der Planer und Manager des organisierten Massenmordes an den europäischen Juden, des Holocaust. Auf der berüchtigten Wannsee-Konferenz von 1942 war Eichmann Protokollführer.

Kann man dieses Monster mit den Lehrern in Milgrams Experiment vergleichen? Als man sie nach den Experimenten fragte, weshalb sie nicht abgebrochen hätten, als sie die Schmerzensschreie ihrer Schüler, ihr Betteln und Flehen um Gnade gehört hatten, sagten die meisten, man habe doch das Projekt nicht gefährden wollen, und schließlich sei man von den Studienleitern dazu aufgefordert worden, weiterzumachen.

Tatsächlich hatte Milgram seinen schauspielernden Studienleitern standardisierte Sätze vorgegeben, die sie mit möglichst wenig Emotionen aussprechen mussten, falls der Lehrer zweifelte und das Experiment abbrechen wollte. Diese Sätze lauteten beispielsweise „Bitte fahren Sie fort“ oder „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen“. Diese Phrasen wurden ruhig ausgesprochen, klar, amtlich. Das suggerierte Routine.

Und es entlastete. Fragte der Lehrer vor den Stromstößen etwa, wer denn die Verantwortung für deren Folgen übernehme, dann antworteten die Studienleiter ruhig: „Die Verantwortung liegt ganz bei mir.“

Für die Schüler erwies sich dieser Satz als fatal. Die Lehrer gaben danach umso ungehemmter Strom.

Auch Eichmann weist die Verantwortung weit von sich. Er beruft sich auf Befehle. Er habe „nur seine Pflicht erfüllt“. Er beschreibt die Organisation von Mord und Totschlag als Behördenakt, er ist, schreibt Arendt, ein „Verwaltungsmassenmörder“. Die Arbeit ist nicht gut oder böse. Sie ist neutral. Man erledigt sie eben. Mit ihm hat das nichts zu tun. Es war der „Führerwille“, der den Holocaust ermöglichte. Er selbst, sagt Eichmann, sei zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere Herr seiner selbst gewesen.

Nicht nur Eichmann argumentiert so. Immer waren es Befehle. Man tut, was einem gesagt wird. Man tut es ordentlich und ordnungsgemäß. Aber man macht es. Das wird schließlich von einem erwartet. Wer mitmacht, wird belohnt, mit Geld, mit Anerkennung, mit Karriere, gesellschaftlichem Prestige.

Eichmann berief sich beim Morden auf Autoritäten, und die Probanden des Milgram-Experiments taten nichts anderes. Warum haben die meisten nicht einfach aufgehört, nachdem sie die Schüler darum gebeten hatten? Nun, wir hatten den Eindruck, so lautete die Antwort, dass dem Studienleiter das nicht recht gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ein Abbruch dem Versuch geschadet. Und der Experte muss schließlich wissen, was noch geht und was nicht. Wir hatten keine direkte Verantwortung, wir hatten eigentlich gar keine Verantwortung.

Die Jasager haben zuweilen ein schlechtes Gewissen, aber es reicht nicht, um Nein zu sagen, um Widerstand zu leisten. Was Hannah Arendt und Stanley Milgram der Welt zeigten, war, dass für die meisten Menschen der Satz „Widerstand ist zwecklos“ zum Naturgesetz geworden war. Das waren die Folgen einer allgegenwärtigen Mitmachkultur, die überall herrschte, in Demokratien ebenso wie in Diktaturen, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen zwar, wie man nicht vergessen darf, aber auf durchaus vergleichbarer Basis.

War das gefährliche Jasagen typisch deutsch? Milgrams Vorgesetzte an der Yale-Universität glaubten das vor der Aufnahme der ersten Experimente im Jahr 1961 fast ausnahmslos. Ursprünglich sollte die Testanordnung die These „Germans-Are-Different“ belegen, die zu erklären versuchte, was die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen zu den Massenmorden im Dritten Reich beigetragen hatte. Milgram stieß aber schon in New Haven auf so viel Gehorsam, dass er entschied, sich die Überfahrt nach Europa zu sparen. In der Folge wurde klar, dass die Jasager sich in allen Kulturen und auf allen Kontinenten gleich verhielten. Das Milgram-Experiment wurde etwa in Italien, Jordanien, Australien und in den Niederlanden wiederholt, und, natürlich, auch in Deutschland.

Es war immer dasselbe. Falsche Antwort. Tut mir leid. Ich drücke den Knopf.

3. Die Dagegenkultur

Wer sich mit Jasagern und Neinsagern beschäftigt, sollte das wissen. Ganze Generationen wurden mit der unübersehbaren Einsicht konfrontiert, wozu das Jasagen und Mitmachen führen können. Sie lernten, was es bedeutet, wenn man Verantwortung an Autoritäten abgibt.

Die vielen „Bewegungen“ seither, die 68er, die Emanzipations-, Öko-, Antiglobalisierungs- und nun die Occupy-Bewegung, sie alle schreiben das Nein größer als das Ja, und das ist kein Zufall, denn die alte opportunistische Mitmachkultur, das Gehorchen, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die Frage ist allerdings, was dabei herauskommt. Denn die Doktrin des Mitmachens ist längst der Kultur des Dagegenseins gewichen. Im Grunde genommen geht es in beiden Fällen um ein und dasselbe. Die Milgram-Lehrer drückten auf die Knöpfe, weil sie sich selbst nicht vertrauten, sie taten, was ihnen Experten sagten. Das genau geschieht bei vielen Antis auch. Sie sind dagegen. Warum? Weil sie nicht dafür sind.
Nein ist das neue Ja geworden.

Spätestens seit Rudi Dutschke selig gilt das Dagegenhalten als schick und souverän, ganz gleich, ob das Nein nun etwas bringt oder nicht. Der Paradigmenwechsel dreht sich um die eigene Achse. Wer Ja sagt, gilt, egal, worum es geht, als Opportunist und Schwächling, als jemand, dem es an „Haltung“ fehlt – ein Wort, das im Sprachalltag nichts anderes bedeutet als ideologische Berechenbarkeit. Von der Politik aus hat sich diese Weltsicht auf allen Ebenen verbreitet. Aus dem bedingungslosen Gehorsam ist ein besinnungsloser Widerstand geworden, der seine eigene Kultur und Logik schafft.

Das ist allerdings weder klüger noch menschengerechter als das Vorläufermodell – es löst im Übrigen auch kein einziges Problem. Das Neinsagen ist zur Routine geworden, es ist reiner Opportunismus. Das ist herzlos und gefährlich.

Die Sprache lässt sich nicht betrügen. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia hat dankenswerterweise die zehn häufigsten Kollokate des Wortes „nein“ zusammengestellt, jene Wörter also, die am häufigsten gemeinsam mit „nein“ verwendet werden. Einsame Spitze ist „Nein sagen“.

Nein sagen – das ist der Pathos des deutschen Antis in Reinkultur. Es ist kein Zufall, dass diese Kombination umgangssprachlich fast nie genutzt wird. Das Neinsagen ist künstlich, aufgesetzt, theatralisch. Und unerträglich leicht.

Nein sagen ist wie Ja sagen, mitmachen, um dem Gruppendruck zu genügen und jene Sorte von Anerkennung zu erhalten, für die man sich nicht besonders anstrengen muss. Wer Nein sagen kann, muss nicht extra anführen, warum. Es wird, wie das alte Ja, konsequenzenlos. Nein sagen ist die Negation von allem, was Mühe macht oder Probleme beschreibt, auf die man eh keine Antwort weiß – also weg damit. Energieprobleme? Muss man lösen. Hochspannungstrassen für erneuerbare Energien? Sind des Teufels! Windräder? Klar, aber nicht bei uns! Wir sagen Nein!

Der Deutsche sagt gern Nein, auch weil er fest davon überzeugt ist, dass die Welt in ihrem Kern nicht wirklich gut ist, beziehungsweise dass man im Grunde nichts und niemandem trauen kann. So verhalten sich die meisten dann auch, und deshalb kommt es zu jener hübschen Zirkel logik, die man schon bei Goethe, dem alten Germanenversteher, nachlesen konnte: „Ich bin der Geist, der stets verneint – und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“ (Faust I).

Hinter dem Neinsagen steckt Misstrauen, die treibende Kraft aller Enttäuschten. Mit Protest hat das nichts zu tun.

Die Protestkultur, die sich eine Hannah Arendt ersehnte, war eine, die den berechtigten Zweifel an die Stelle des blinden Gehorsams setzt. Es war eine Protestkultur von Menschen, die wissen wollten, Aufklärung verlangten und Entscheidungen treffen konnten. Es war der Protest mündiger Bürger, keine Mitmachkultur, die pauschal und ohne großes Nachfragen Dingen ihren moralischen Stempel aufdrückt und persönlichen Geschmack und Gruppendruck zur Wahrheit erklärt.

Wer Ja sagt, muss auch B sagen, also die Verantwortung für das übernehmen, was er tut – und sich nach seiner Entscheidung die Fähigkeit bewahren, neu zu entscheiden, wenn sich die Umstände ändern, auch dann, wenn die neue Antwort nein ist. Veränderung wirkt in alle Richtungen.

4. Pop

Als der bedingungslose Gehorsam als kulturelles Leitbild ins Wanken geriet, also zu der Zeit, in der Milgram experimentierte und Arendt über das Wesen des Jasagers schrieb, wurde der Begriff der Gegenkultur und der Gegenöffentlichkeit populär. Das war notwendig, denn die Jasager waren nicht bereit, ihre Mitmachkultur zu ändern. Doch allmählich drehte sich der Wind, einige Jasager wechselten das Lager, noch weit mehr Zulauf erhielten die Neinsager aber dadurch, dass sie im Laufe der Zeit älter wurden und damit einfach in die Positionen hineinwuchsen, die zuvor von Jasagern besetzt worden waren. Man nannte das den „Marsch durch die Institutionen“. Auf diese Sorte Neinsager kommen wir noch zurück.

Wer sich die Gegenkulturen und Gegenöffentlichkeiten der siebziger und achtziger Jahre ansieht, wird bemerken, wie vielfältig die Ansichten und Meinungen waren, die da entstanden. Da gab es zweifelnde, kritische Historiker, die das Erbe Arendts weitertrugen, da gab es Alternative, die sich Bauernhöfe kauften, Menschen oder einfach Selbsthilfegruppen von Kranken, die in der Schulmedizin zu wenig Aufmerksamkeit fanden. Diese Leute waren weder links noch rechts noch grün noch konservativ. Die meisten waren zur Gegenkultur gekommen, weil ihnen das Establishment keinen Platz gab.

Es waren Menschen, die nicht angepasst genug waren für starre industrialistische Organisationen, nicht opportunistisch genug für eine glatte Karriere, die man bei den Jasagern und Neinsagern gleichermaßen machen konnte. Sie waren anders, und zwar im Sinne von verschieden, was eben nicht dasselbe ist wie indifferent. Anders heißt nicht ja, nicht nein und erst recht nicht jein.
Anders ist immer ein Anfang.

Man erkennt die echte Gegenkultur, das wahre Anderssein immer daran, dass ihre Menschen nach eigenen Lösungen für ihre Probleme suchen. Unabhängigkeit und Originalität zählten damals viel.

Autonomie war ein Wort, das noch nicht zur Chiffre für Gewaltkriminalität geworden war. Jedes Problem entwickelte seine eigene Kultur. Man wollte selbstständig sein, also erwachsen.

Wer der Gegenkultur angehörte, war nicht im Mainstream, aber auch nicht in einem anderen Lager. Es war die Gegenkultur des Homebrew Computer Clubs in Silicon Valley, der Menschen wie Steve Wozniak und Steve Jobs hervorbrachte. Apple wurde zum Inbegriff der Ästhetik des Widerstands. Jobs inszenierte das Unternehmen als Gegenpol zu den großen anonymen Computerkonzernen wie IBM. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war 1984 erreicht, als Apple sich in einem von Star-Regisseur Ridley Scott inszenierten Werbespot als Zentrum des Widerstands gegen ein düsteres, an Orwell gemahnendes Regime feiern ließ. Das war Pop.

Um Pop ging es auch bei den wahren Internetpionieren. Das waren Leute, die mit den etablierten Medienformen und Staatsmonopolen, die bis tief in die achtziger Jahre herrschten, unzufrieden waren. Wer in Deutschland damals auch nur einen Anrufbeantworter nutzen wollte, musste den bei der Postbehörde beantragen. Wer sich auf dem freien Markt ein Gerät besorgte und anschloss, beging bis zum Ende des Jahrzehnts eine Straftat. Aus diesem Milieu kamen die Digeratos, die Angehörigen der Gegenkultur, die das Internet und das Web maßgeblich prägen sollten und ihre „Mailbox“-Gruppen betrieben, Computernetzwerke, in denen alle möglichen Inhalte getauscht wurden. Dagegen standen damals, Ende der achtziger Jahre, bereits zwei Establishments: das neue linksalternative, das in Computern und Netzwerken ganz überwiegend eine Gefahr sah, ein „Herrschaftsinstrument“. Und Nein sagen bedeutete hier nicht kritisches Zweifeln zum Zweck des Erkenntnisgewinns, sondern das, was es immer noch bedeutet: verbieten, wenigstens stark regulieren. Damit war man sich einig mit dem zweiten Anti-Internet-Establishment, der alten Computerindustrie und dem Staat, der sein Monopol brutalstmöglich verteidigte. Die Computerkonzerne machten mit dem Staat gemeinsame Sache – und verstanden darüber hinaus sehr gut, dass sie ernsthafte Probleme bekämen, wenn das, was die „Spinner“ abseits der Pfade da durchzogen, sich verbreiten würde.

Die Neinsager und die Jasager, das vermeintlich „kritische“ Establishment und die Jasager, die Opportunisten und Karrieristen in Staatsverwaltung und Management, waren sich einig gegen all jene, die begriffen hatten, dass das Gegenteil von falsch noch lange nicht richtig heißt. Veränderung besteht nicht aus dem Gegenteil, sondern aus dem Unterschied. Wer das erkennt, kommt weiter. Aus der Theorie der Popkultur wissen wir, dass das, was zunächst Avantgarde ist, Subkultur und Underground, nichts weiter ist als das Labor des kommenden Mainstreams, in dem später Mode, Zustimmung und Zeitgeist zusammenfallen. Die Zukunft entsteht in der Gegenkultur.

5. Wutbürger

Doch nicht überall, wo Gegenkultur draufsteht, ist auch Gegenkultur drin, sondern eher, und weit öfter, Dagegenkultur. Was mal als berechtigter Widerstand gegen Monopole, Gewalten, Tyrannen und Opportunisten begann, verwandelt sich nicht selten beim Marsch durch die Institutionen in Starrsinn, Selbstbetrug und Heuchelei. Dieses Neinsagen tut immer noch so, als ob es dem Gemeinwohl diene. Doch wer genauer hinsieht, merkt schnell, dass es das Produkt eines Hörfehlers ist, bei dem Sturheit so ähnlich klingt wie Solidarität.

Im Herbst 2010 wurde ein neuer Begriff schnell populär in der Republik: Wutbürger. Der »Spiegel«-Autor Dirk Kurbjuweit beschrieb damit den Typus Neinsager, der im Süden der Republik gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 demonstrierte, und all jene, die sich an den Debatten rund um das Buch „Deutschland schafft sich ab“ des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin beteiligten. Der Wutbürger, so Kurbjuweits Definition, sei ein wohlständiger, eher älterer Bürger, der sich dem Wandel heftig entgegenstelle. Um seiner Ruhe willen kann der Wutbürger fuchsteufelswild werden, und die Zukunft des Landes und der nächsten Generation sind ihm dabei total schnuppe. „Wutbürger“ schaffte es im Jahr 2010 immerhin, zum Wort des Jahres gewählt zu werden, noch vor Begriffen wie „schottern“, wie im Anti-Atom-Jargon das gezielte Zerstören von Bahnstrecken, auf denen Castor-Transporte stattfinden, genannt wird.

Das war eine gute Wahl. Denn in Deutschland ist der Wutbürger das Juste Milieu des frühen 21. Jahrhunderts, in das beständig die Transformationsverweigerer von links über alternativ bis konservativ einfließen. Kaum jemand hat diesen Typus besser ergründet als der Autor und Journalist Gerhard Matzig, dessen Buch „Einfach nur dagegen – Wie wir unseren Kindern die Zukunft verbauen“ vor Kurzem veröffentlicht wurde.

Über ein Jahr hat sich der Mann, im Hauptberuf Ressortchef bei der »Süddeutschen Zeitung« und Gastprofessor für Architektur in Wien, zwischen Bürgerinitiativen, Stuttgart-21-Demos und bei zahllosen Gesprächen mit meist gut gekleideten "Silberköpfen" ein Bild von den neuen Neinsagern gemacht. „Es war ein Jahr unter Verrückten“, sagt Matzig trocken. Nun ist es nicht so, dass Matzig zu den Leuten gehört, deren Kritik man schnell mit den üblichen Denunziationsfloskeln („Neoliberale“, „Neokonservative“) abbügeln kann, ohne dabei blöd auszusehen.

Matzig, Jahrgang 1963, gehörte zu den Wackersdorf-Bauzaun-Überschreitern, eine Sache, die für die Angehörigen der Anti-Atom-Generation der achtziger Jahre mindestens so viel zählt wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen. „Ich bin im Herzen ein bekennender Grüner“, sagt er, „einer, der den Protest schätzt. Wenn ich aber A wie Anti-Atom sage, dann muss ich auch B sagen und darüber intensiv nachdenken, wie man mit regenerativen Energien weiterkommt. Wutbürger ticken aber anders. Sie wollen nämlich gar nichts, weil sie ohnehin schon alles haben. Sie finden Atomkraftwerke blöd und Windräder auch. Sie demonstrieren gegen Energiekonzerne und Hochspannungsleitungen, die man zum Ausbau der Windkraft braucht. Diese Leute sind weder grün noch ökologisch, ganz gleich, was sie behaupten, sie sind einfach nur dagegen.“

Spannend ist die Psychologie des Neinsagers neuen Typus, die Matzig zeichnet. „Die halten sich für Asterix im gallischen Dorf, umringt von Römern – also fiesen Konzernen und korrupten Medien und Politikern. Alle sind dämlich, keiner begreift, was los ist. Nur sie wissen Bescheid“, beschreibt Matzig die Innenwelt der Totalverweigerer. Dabei, so ergänzt er lakonisch, „ist es natürlich genau umgekehrt“.

In Wirklichkeit entdecken wir die Defizite einer Kultur und eines Landes, in dem die Polarisierung, das Entweder-oder, das Dafür- und Dagegensein, das Ja oder Nein ohne jede Alternative immer schon salonfähig war. Die schwarzweiße Republik ist wieder da – und der Wutbürger ist ihr logischer Bewohner: „Das sind Glaubenskrieger. Da wird nicht verhandelt. Der andere ist der Feind. Wer anders denkt, muss weg.“ All das geschieht in vermeintlich bester Absicht. Die anderen sind schlecht und werden schlecht gemacht.

Denunziation statt Diskurs – so weit ist es mit den Leuten gekommen, die mal Hannah Arendt gelesen haben und Stanley Milgram und es besser wissen sollten. „Wutbürger sind totalitär, antidemokratisch und gefährlich – und keineswegs Menschen, die besorgt sind um die Demokratie und das Gemeinwohl“, sagt Matzig. „Die kommen mit anderen einfach nicht klar. Verbieten und Verneinen gehören dabei zusammen." Besonders stört Matzig der "moralische Überlegenheitsgestus der Alt-68er", die "jungen Menschen mit einer Arroganz gegenübertreten, die schwer fassbar ist. Die haben einfach Angst, dass sie was abgeben müssten, das hatten sie ja schon in Zeiten, in denen noch genug da war, woran man sich bedienen konnte – oft genug auf Kosten der Jüngeren. Doch wenn die Verteilungskonflikte stärker werden – und dafür spricht einiges in Zukunft – dann wird diese Wut gegen jede Art von Veränderung sich noch weiter steigern.“

Das Gewaltpotenzial ist jedenfalls schon heute erheblich: Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter hat unter den Stuttgart-21-Demonstranten gut 15 Prozent ausdrücklich gewaltbereite Protestler ausgemacht, ein erschreckend hoher Wert. Klar: Wer die Mao-Bibel mit dem Manufactum-Katalog vertauscht, wird nicht zwingend friedlicher dabei.

Dennoch schätzt Matzig die Chancen auf eine „ökologische Moderne“, bei der Investitionen und Technologien die Probleme von heute lösen helfen, gar nicht so schlecht ein: „Wir brauchen ein konstruktives Ja. Und da wittere ich Morgenluft. Die Jungen werden sich von den Wutbürgern, denen es nur um ihren eigenen Vorteil geht, die sich aber hinter einem verlogenen Gemeinwohlbegriff verstecken, ihr Leben nicht vorenthalten lassen.“

Da formt sich einiges, die hohe Zustimmung für die Piratenpartei etwa oder die vielfach bestaunte Bewunderung für viele pragmatische Occupy-Protestler, die sich den Vereinnahmungsversuchen aller ausgesetzt fühlen – von Attac bis zu den Parteien.

Viele warten darauf, dass die neuen Bewegungen ihr eigenes Ding machen. Mehr tun als Nein sagen. Sondern etwas anderes vorschlagen.

6. Jenseits von Ja und Nein

Einer, der das laufend macht, ist der Ökonom Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Einerseits ist Straubhaar Marktverfechter mit Haut und Haaren, der die Schieflage des nur noch umverteilenden Sozialstaates fundiert kritisiert. Andererseits machte Straubhaar als Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens von sich reden – und freut sich heute über den wachsenden Zuspruch. Er selbst findet Dagegensein „ziemlich langweilig und rückwärtsgewandt. Früher hätten wir ,reaktionär' gesagt“, lacht er: „Ich finde, dass sich das Alte beweisen muss, nicht das Neue. Es kann nicht sein, dass wir vor lauter Angst und Unsicherheit zu allem Nein sagen, nur dagegen sind. Ich war immer einer, der im Zweifel fürs Ja war – denn ein dauerhaftes Nein heißt letztlich immer nur: zurück.“

Und dann paraphrasiert er Milan Kundera. Es gebe heute wieder, sagt er, diese „unerträgliche Leichtigkeit des Neins“. Man müsse nichts dafür tun. Nicht denken, nicht handeln. Nur in einem Lager stehen, sich einfach auf eine Seite schlagen. Das löse keine Probleme, schaffe aber fast alle, die wir heute haben. „Ich bin fürs Mitmachen und Mitgestalten“, sagt Straubhaar. „Alles andere ist Selbstbetrug.“

Hier ist die Rede von Leuten, die wissen, dass man, wenn man Ja sagt, auch B sagen, also sich der Konsequenzen seines Handelns bewusst sein muss. Die Entscheidung für oder gegen etwas ist immer erst der Anfang. Die harte Arbeit kommt danach.

Wer Ja sagt wie Thomas Straubhaar, mit der Selbstverpflichtung, mitzumachen und mitzugestalten, der macht sich viel Extraarbeit. Er muss überzeugen, zuweilen in der eigenen Branche. Sein Engagement für das bedingungslose Grundeinkommen gehört dazu. Der Chef des HWWI hat mit seinen Kollegen nachgewiesen, dass dieses – bei vielen noch immer umstrittene – sozialpolitische Instrument für alle Beteiligten mehr Vor- als Nachteile hat. Für die Anerkennung des Themas in Fachkreisen hat er viel getan. Ja sagen, das ist, weiß Straubhaar, „immer auch handeln und entscheiden“. Das war schon immer etwas anderes als mitmachen, als dafür sein oder dagegen.

In Walter Isaacs Biografie über den Apple-Chef Steve Jobs findet sich eine Passage, in der der Autor aus einem Streitgespräch zwischen Jobs und dem Medien-Tycoon Rupert Murdoch zitiert. Selten wird der Unterschied zwischen dem alten Ja-Nein-Denken, dem Murdoch noch verhaftet ist, und der zeitgemäßen Alternative dazu, die Jobs vertrat, so deutlich wie in der Feststellung des verstorbenen Apple-Gründers: „Die Achse verläuft heute nicht mehr entlang liberal/konservativ, sondern entlang konstruktiv/destruktiv.“

Gut gesprochen, großer Meister. Und wollen wir hoffen, dass die Leute das diesmal verstehen, dass sie hinhören und den Unterschied zwischen Verhindern und Bessermachen begriffen haben. Man sieht den Jasagern und den Neinsagern, den Mitmachern und Verweigerern, an, dass sie von gestern sind. Das Ja und das Nein sind nichts weiter als das Echo ihrer Vorurteile und gemütlichen Dogmen, die das Selberdenken ersparen sollen.

Wer aus Prinzip dafür ist oder dagegen, der drückt nur Knöpfe. Im besten Fall kommt es dabei zum Kurzschluss.

Hören wir auf mit diesem Quatsch. Machen wir es besser. Also anders.  --