Mut

Wie man zum Helden wird





• Eine meiner deutlichsten Erinnerungen an meine Jugend ist eine Seite eines Superhelden-Comics. Ich habe damals Tausende dieser Hefte gelesen, in denen übermenschliche Wesen mit übermenschlichen Kräften übermenschliche Probleme lösen, doch diese Seite faszinierte mich besonders. Es ging mal wieder um einen großen Kampf gegen ein Wesen, das drohte, die Erde zu zerstören. Die eigentlichen Helden der Serie lagen geschlagen am Boden, und so leistete nur noch eine Gestalt Widerstand, die eigentlich zu den Bösewichten gehörte. Aber auch dieser überraschende Held war fast am Ende, seine Maschinen zerstört, sein Plan gescheitert. Trotzdem tobte er über eine Seite, vier Bilder lang, mit seinen bescheidenen Möglichkeiten gegen ein galaktisches Wesen, dem er offensichtlich hoffnungslos unterlegen war. Der Text dazu war knapp: Dies sei sein letzter Widerstand, nichts stände jetzt noch zwischen ihm und der Vernichtung außer seinen Waffen, seiner Rüstung und „unglaublichem Mut“.

Ich halte Mut für eine essenzielle Grundlage des Lebens. Man könnte sagen, das liegt an einer Überdosis Comics in jungen Jahren, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte, die dunkle Seite, habe ich von meiner Mutter gelernt. Meine Mutter hatte Angst zu fallen. Man kann das metaphorisch sehen, das wäre nicht falsch, aber es drückte sich realitätsnäher aus: Sie hatte Angst hinzufallen, eine Treppe hinunter, über eine Schwelle, auf dem Gehweg, und verletzt zu sein, Schürfwunden, Platzwunden, Knochenbrüche zu haben. In meiner Jugend sah ich zu, wie meine Mutter immer vorsichtiger wurde, irgendwann nur noch mit Gehhilfen lief und schließlich im Rollstuhl saß: Ihre zunehmend weniger genutzten Muskeln hatten sich zurückgebildet. Aus ihrer Angst zu fallen, war ihre Unfähigkeit zu gehen geworden.

Die Superhelden und meine Mutter nahmen mich also in die Zange, und so liebe ich heute Leute, die Sachen machen, zu denen man Mut braucht. Zum Beispiel Banksy, der seit Jahren London und andere Städte mit Bildern verschönert, die er mit Schablonen an Wände sprüht – illegal natürlich. Im vergangenen Jahr erschien der Band „Wall and Piece“, eine Werkschau, in der neben großartigen Graffitis auch Straßenskulpturen aus Pylonen zu sehen sind und selbst gebastelte Ausstellungsstücke, die er in Museen einschmuggelte – ebenfalls illegal. Erschienen ist das Buch aber nicht etwa bei einem kleinen Anarcho-Verlag, sondern bei Random House, also Bertelsmann: Banksy nutzt den globalen Konzern, um allen zu zeigen, was geht, wenn man sich nicht erwischen lässt – das nenne ich ideologiefrei! Oder die Amerikaner, die sich für den wunderbaren Fotoband „Sex Machines“ porträtieren ließen: ganz normale Leute, die das herstellen, was der Titel verspricht, und die sich nicht etwa verstecken, weil ihnen das peinlich ist. Nein, sie erzählen, wie sie dazu gekommen sind und wozu es gut ist, daneben Bilder von ihnen mit ihren Maschinen, in ihrer Garage oder in ihrem Garten. Kann sein, dass da mancher „perverse Sau“ denkt, aber da muss er eben durch.

Wir brauchen solche Menschen, denn wir leben unter Arschlöchern. Wir werden beherrscht von Vollidioten, Ignoranten und arroganten Koksern, was wie eine Aufzahlung klingt, aber das sind alles dieselben Leute. Gestützt wird diese Bande von einer dünnen Schicht dumpfer Schleimbeutel, deren Lebensziel die Erlangung von Statussymbolen ist, deren Bedeutung sie maßlos überschätzen, und von ... tja: von uns. Mit jedem Meeting, in dem wir nicht sagen, was wir wirklich denken, weil wir Angst haben um unseren Arbeitsplatz ... Mit jedem Gespräch, in dem wir einem blöden Wichtigtuer nicht widersprechen, weil wir nicht sicher sind ... Mit jeder Begegnung, bei der wir einem besoffenen Macho nicht entgegentreten, weil der echt brutal werden könnte ... Zerstören wir, du und ich, wir persönlich, einen Teil der Gemeinschaft, in der wir leben. Und das ist nur die Hälfte des Problems.

Der Hippie-Philosoph Timothy Leary glaubte, Mut sei ebenso eine Gewohnheit wie Angst. Ich glaube das auch. Nicht nur wegen meiner Mutter. Auch wegen der Schleimbeutel, die ihr Rückgrat gegen einen Satz Bedeutungsträgerkrücken eingetauscht haben: Die sind nicht nur so unerträglich, weil sie ihren Chef für einen Heiligen halten, auch wenn der dümmer ist als der Stuhl, auf dem er sitzt. Nein, diese Leute haben auch sonst nichts zu sagen: Sie gucken CSI und Bollywood, lesen Daniel Kehlmann, hören Diana Krall, und Kunst heißt für sie Jeff Koons. Wobei ich gegen all das nichts sagen will. Aber fragt man den Schleimbeutel nach seinen Interessen, antwortet er in Phrasen, zusammengeklaut aus hippen Magazinen: Die Mutlosigkeit im Beruf setzt sich in der Freizeit nahtlos fort – gut ist, was alle gut finden.

Ich glaube an die persönliche Evolution. Wir werden als Menschen geboren und entwickeln uns weiter. Manche werden zu Schleimbeuteln oder zu Arschlöchern. Aber wir können auch Helden werden. Der Held unterscheidet sich vom Rest der Menschheit dadurch, dass er mehr tut, als man von ihm erwartet. Deshalb beeindruckte mich der Comic-Bösewicht: Er war kein Held, er musste nichts tun - und tat es trotzdem. Und das kann jeder. Denn es ist natürlich nicht unser Problem, wenn die Firma von blöden Vorgaben gelähmt wird, es ist nicht unsere Aufgabe, jeden Schwachkopf auf seine Denkfehler hinzuweisen, und klar haben wir nichts damit zu tun, wenn ein Mann auf der Straße seine Frau schlägt. Aber gerade deswegen zählt es, wenn wir etwas tun. Schließlich geht es am Ende um das eigene Leben. Du hast die Wahl: Willst du im Rollstuhl enden, mit einem „Spex“-Abo und einem Jeff-Koons-Druck? Oder willst du lieber ein paar Wände vollsprühen, auf dem Weg zum Sexmaschinen-Shop? --

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