Das Einkommen reicht zum Leben, für die Gesundheit reicht es oft nicht. Ohne Einrichtungen wie die Community Volunteers in Medicine, die nur dank ehrenamtlicher Helfer und privater Spender existiert, blieben viele US-Bürger ohne medizinische Versorgung. Ein Besuch vor Ort.




Jeden Morgen um sieben schließt Helen F. Heidelbaugh ihre Klinik auf, prüft, ob die Mülleimer geleert sind und der Pott mit Süßigkeiten für die Kinder gefüllt ist. Dann setzt sie sich vor den Dienstplan und hofft, dass die Ärzte und Krankenschwestern zur Arbeit erscheinen, so wie sie sich angekündigt hatten.

Heidelbaugh ist CEO und Präsidentin der gemeinnützigen Organisation Community Volunteers in Medicine (CVIM), einer allgemeinmedizinischen Tagesklinik für Patienten ohne Krankenversicherung. Das Gebäude, ein schmuckloser Fertigbau, liegt mitten im Industriegebiet in West Chester, Pennsylvania. Heidelbaugh ist die Chefin im Haus, seit gut elf Jahren, sie hat die Klinik aufgebaut, hält sie am Laufen, ist die Seele des Hauses. Aber Erfahrung, Position und der Titel „Präsidentin“ helfen der 57-Jährigen nicht, wenn ein Mitarbeiter mal wieder nicht kommt und der Warteraum vor Patienten überquillt. „Dann müssen wir improvisieren“, sagt sie. „Schneller arbeiten oder eben auf den nächsten Tag vertrösten.“ Ihr Einfluss als Vorgesetzte ist begrenzt – das Problem systemimmanent: Bis auf zehn Vollzeitkräfte arbeiten alle übrigen hier freiwillig und haben hauptberuflich Fulltime-Jobs in anderen Krankenhäusern der Umgebung. Dafür, dass sie einen Teil ihrer Freizeit in ihrer Klinik verbringen, muss Heidelbaugh dankbar sein. Genau wie für jeden Dollar an Spenden, der ihr den Kampf gegen Karies, Lungenentzündungen, Diabetes oder Wundbrand ermöglicht. Die CVIM lebt hauptsächlich von privaten Spenden und von der Unterstützung ehrenamtlicher Helfer.

Willkommen im Land der begrenzten Möglichkeiten. Nirgendwo sonst klafft die Lücke zwischen Hightech-Medizin und medizinischer Unterversorgung so weit auseinander wie in den USA. Die Amerikaner geben mit 15,3 Prozent des Bruttosozialproduktes mehr Geld für ihr Gesundheitswesen aus als jedes andere OECD-Land. Wer in den Genuss einer Behandlung kommt, kann auf beste medizinische Leistungen vertrauen. Für 16 Prozent der gesamten Bevölkerung gestaltet sich der Besuch beim Arzt trotzdem kompliziert: Rund 47 Millionen US-Bürger sind nicht krankenversichert.

Arm – aber nicht arm genug

Besonders hart trifft es die sogenannten Working Poor, Menschen, die zwar arbeiten, sich aber dennoch an der Armutsgrenze bewegen. Sie können sich in der Regel keinen Versicherungsschutz leisten und fallen durchs soziale Raster: Nur wer offiziell unterhalb der gesetzlich festgelegten Armutsgrenze lebt, hat Anspruch auf das staatliche Krankenfürsorge-Programm „Medicaid“, alle anderen müssen Monat für Monat entscheiden, ob sie die Raten für ihren Kredit oder ihre Krankenversicherung bezahlen. In der Hoffnung, gesund zu bleiben, treffen die Menschen nicht immer die richtige Wahl. Und machen sich damit von Einrichtungen wie der CVIM abhängig. Kritiker behaupten, dass in den USA im Jahr 2006 mehr Menschen an vermeidbaren chronischen Krankheiten starben als in den amerikanischen Kriegen der vergangenen Jahrhunderte.

Wer durch Chester County fährt, einen Bezirk westlich von Philadelphia, mit fast einer halben Million Einwohnern, ahnt auf den ersten Blick nichts von den verheerenden Folgen des amerikanischen Gesundheitssystems. Einzelhäuser in großen Gärten, geschäftige Einkaufszentren der gehobenen Preisklasse, Gewerbegebiete mit glitzernden Bürobauten – Chester County gehört zu den wohlhabendsten Regionen im Nordosten der USA.

Doch Regionen wie diese – da unterscheidet sich Chester nicht von den besseren Vorstädten von Chicago, Miami oder San Francisco – sind die heimlichen Zentren der Armut in Amerika. Tausende Menschen, genaue Daten gibt es nicht, ziehen jährlich nach Chester, um Familien und Firmen als Gärtner oder Putzkräfte, als Kindermädchen oder Pflücker auf den riesigen Pilz-Farmen zu dienen. Oft verdingen sie sich für den Mindestlohn von 5,85 Dollar pro Stunde – in einer Gegend, in der Wohnraum rar und teuer ist.

Wohin das führt, können Helen Heidelbaugh und ihre Freiwilligen jeden Morgen im Wartezimmer besichtigen. Da sitzen Männer, die sich bei der Küchenarbeit Wochen zuvor einen Finger abhackten und aus Furcht, den Job zu verlieren, erst zum Arzt gehen, nachdem sich die Wunde lebensgefährlich entzündet hat; Frauen mit offener Tuberkulose, die im Winter mit ihren Kindern im Zelt schlafen; Kinder, deren Zähne so verfault sind, dass sie ihr Leben lang mit braunen Stümpfen kauen werden. Erst vor Kurzem starb ein Achtjähriger, weil sich die Entzündung vom Gebiss aufs Gehirn ausgedehnt hatte. Rund 800 bis 900 Patienten pro Monat können in der CVIM versorgt werden, das ist viel und doch nur die Spitze eines Eisbergs: Helen Heidelbaugh schätzt die Zahl der Bedürftigen in Chester County auf rund 45 000 Menschen.

Aber selbst wenn sie könnte, darf sie vielen Betroffenen nicht helfen. Die Mitarbeiter der Tagesklinik dürfen nur die Patienten behandeln, die nicht offiziell in Armut, also von weniger als 10 210 Dollar im Jahr leben und somit für die staatliche Krankenversicherung qualifiziert sind. Auch nach oben ist die Grenze der Bedürftigkeit eindeutig definiert. Wer mehr als das Doppelte der Armutsgrenze verdient, darf in der CVIM nicht auf Hilfe hoffen. Konkret: Ein Haushalt mit vier Personen muss mit weniger als 41300 Dollar auskommen, wenn ein Familienmitglied in der Klinik behandelt werden soll. Schon wer über ein minimal höheres Einkommen verfügt, wird gnadenlos abgewiesen. So will es das Gesetz. Heidelbaugh hält sich streng daran, sonst würde sie die Lizenz für den Betrieb verlieren.

Die Helfer arbeiten kostenlos, aber nicht umsonst

An diesem Vormittag hat die Präsidentin der CVIM Glück: Alle Freiwilligen sind planmäßig eingetroffen. Pro Schicht arbeiten vier Dentisten, vier Ärzte und zehn Schwestern, dazu kommen noch etliche Verwaltungsaushilfen. Die Personalplanung ist ein logistisches Meisterwerk. Heidelbaugh benötigt jeden Tag einen Stab von mindestens 15 Medizinern, die meisten kommen für vier Stunden pro Woche, ihr Einsatz muss gut einen Monat im Voraus koordiniert werden. Insgesamt kann die Klinik auf die Hilfe von etwa 200 Freiwilligen zurückgreifen, darüber hinaus existiert ein Netzwerk von rund 150 niedergelassenen Experten, die zwar nicht in der Klinik präsent sind, Patienten aber für Operationen, Röntgenaufnahmen oder Spezialuntersuchungen kostenlos oder zu reduzierten Honoraren in ihren Praxen behandeln.

Eine Bezahlung oder auch nur Aufwandsentschädigung gibt es für keinen Helfer. Wer für die CVIM arbeitet, darf für jede gefahrene Meile 19 Cent steuerlich geltend machen. Aber Geld ist ohnehin nicht die Motivation, die so viele Freiwillige treibt. „Sie arbeiten hier, weil sie sich verantwortlich fühlen. Und weil es befriedigend ist, etwas Gutes für die Gemeinschaft zu tun“, sagt Heidelbaugh. Viele Berufsanfänger sind darunter, junge Mediziner oder Studenten, die Krankenschwester, Pfleger, Apotheker werden wollen, aber auch zahlreiche altgediente Ärzte.

Blair LeRoy ist einer der alten Hasen. Der 76-jährige Lungenspezialist ist schon längst im Ruhestand, aber seit er die Klinik vor vier Jahren das erste Mal besucht hat, ist er einmal die Woche einen halben Tag wieder im Dienst. Er sei gern hier, sagt er, auch wenn die Arbeit manchmal stressig sei. „Man ist nah dran an den Menschen und am Leben.“ Während seiner Studienzeit, erinnert sich LeRoy, sei es auch in den großen allgemeinen Krankenhäusern üblich gewesen, weniger wohlhabende Patienten kostenlos zu behandeln. Die Zeiten haben sich geändert. Die Tradition des gemeinnützigen Dienstes hat eine neue Dimension angenommen.

LeRoy und seine ehrenamtlichen Kollegen erzählen gern von ihrem Hilfsdienst für die Gemeinschaft. Anders als die meisten Patienten. Sie wollen am liebsten gar nicht reden, erst recht keinen Namen nennen. Manchmal aus Scham, oft genug aus Angst. Die dreifache Mutter beispielsweise, Anfang 40, die heute Vormittag im Wartezimmer saß, war aus gutem Grund nicht zum Gespräch bereit. Mitarbeiter des „Domestic Violence Center of Chester County“ (DVCCC), einer gemeinnützigen Einrichtung, in der Frauen und immer häufiger auch Männer mit Kindern Hilfe finden, die von ihren Partnern vergewaltigt oder verprügelt worden sind, hatten sie in die Klinik geschickt. Das geschwollene Auge und die zahlreichen Hämatome der Patientin waren augenscheinlich, die langjährige medizinische Unterversorgung wurde erst bei der Zahnbehandlung sichtbar: völlig verfaulte Zähne, die vielen Löcher mit Kerzenwachs gestopft. „In unserem wohlhabenden Bezirk sehen wir Probleme, wie man sie normalerweise nur in der Dritten Welt kennt“, sagt Helen Heidelbaugh.

Seit elf Jahren hat sie dem Elend den Kampf angesagt. Und doch betrachtet die Klinikleiterin ihr Unternehmen nicht als Wohlfahrtsstube, sondern als erfolgreiches Geschäftsmodell. Wer von privaten Spenden durch Firmen und Stiftungen lebt, muss Erfolge vorweisen können – und er muss, wie es die Chefin formuliert, „jeden Tag einen Grundkurs Spendensammeln“ hinter sich bringen. Medikamente, Geräte, Spritzen und Verbände erbettelt sie von lokalen Apotheken und Pharmafirmen. Pro Jahr kommen allein an Sachspenden etwa 800000 Dollar zusammen. Um die laufenden Kosten zu decken, muss sie zudem ein Budget von gut 1,4 Millionen Dollar pro Jahr einwerben. Das macht es erforderlich, zu reden, zu erklären, Anträge auf Fördergelder zu schreiben, immer wieder andere Spender zu überzeugen, Helfer zu finden, Konzepte zu entwickeln. Helen Heidelbaugh muss jedes Jahr neue Ziele definieren – und erreichen. Im Jahr 2006 hat die Tagesklinik mehr als 10000 Patienten behandelt, die Freiwilligen waren rund 26 000 Stunden im Einsatz, gut die Hälfte davon entfiel auf professionelle medizinische Behandlung, das entspricht einem Wert von mehr als 560 000 Dollar.

Die Präsidentin der CVIM war zufrieden, die Spender waren es auch. Mittlerweile vergeht kaum eine Woche ohne einen Anrufer oder einen Besucher, der gern mehr darüber erfahren will, was die Klinik-Chefin und ihr Team Tag für Tag ganz ohne staatliche Unterstützung schaffen. Die Anerkennung ersetzt auch die eigene fehlende Lohnerhöhung: „Eigentlich hätte ich die nach so vielen Jahren ja verdient“, meint Helen Heidelbaugh. „Andererseits kann ich das Geld hier wirklich sinnvoller einsetzen.“

Eine Nation von Spendern

So bedürftig viele Menschen in den USA sind, so freigiebig sind die Amerikaner – sie sind die großzügigsten Spender der Welt. Nahezu 300 Milliarden Dollar haben die US-Bürger und Unternehmen im vergangenen Jahr für gute Zwecke ausgegeben, so viel wie nie zuvor.

Einrichtungen wie die CVIM in West Chester könnten ohne diese Kultur der Solidarität nicht existieren. Der Löwenanteil des Jahresbudgets der Tagesklinik stammt aus Partnerschaften
mit Unternehmen, beispielsweise mit Siemens Medical Solutions in Malvern. Zehn Mitarbeiter im Konzern koordinieren dort
die zahlreichen freiwilligen Leistungen aller 7000 Kollegen. Sie engagieren sich persönlich – und sie spenden Teile ihres Gehalts. Formal ist das Engagement vor Ort Teil der konzernweiten Initiative „Siemens Caring Hands“, die weltweit unterschiedliche soziale Projekte fördert. Konkret ist es ein Anliegen der
am Gemeinwohl in Chester County interessierten Kollegen.

In 2006, dem zwölften Jahr seit Gründung der Initiative, brachten 2571 Mitarbeiter von Siemens Medical Solutions
706 000 Dollar auf, 2022 Kollegen meldeten sich für ehrenamtliche Arbeit an. Für dieses Jahr lautet das ehrgeizige Ziel: 3000 Spender und 2500 Ehrenamtliche – das Team
der Koordinatoren in Malvern hat sich eine Spendensumme von einer dreiviertel Million Dollar zum Ziel gesetzt. Außerdem kümmern sie sich um die Verteilung der Gelder.

Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und der Kooperation mit United Way, der Dachorganisation für kommunale Hilfe in Amerika, sorgen die Koordinatoren dafür, dass die Spenden schnell und unbürokratisch die richtigen Empfänger erreichen.

Richtig ist aus Sicht der Projektleiterin Pamela Dobisch beispielsweise die Tagesklinik von Helen Heidelbaugh. Siemens Med sei einer der drei großen Anbieter von Medizintechnik, zudem Weltmarktführer bei Diagnose- und Laborgeräten, sagt Dobisch. Da sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sich das Unternehmen im medizinischen Bereich auch karitativ engagiere. Persönlich hält sie die zusätzliche Arbeit für ihre Bürgerpflicht. „Ein Gemeinwesen ist immer nur so gut wie das, was
alle gemeinsam daraus machen. Das bedeutet, jeder Einzelne hat auch eine Verantwortung gegenüber unserer Kommune.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.