Unter allen Wipfeln ist Unruh'

Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde 1970 eröffnet. Ein mitteleuropäischer Urwald sollte er werden, um Touristen und einheimische Tierarten anzulocken. Fast 40 Jahre später ist der Kampf zwischen Ordnung und Wildnis voll entbrannt.




Frühlingsanfang. Die Sonne scheint an diesem Sonntagnachmittag, nahe des Dörfchens Forstwald gluckert das Kristallwasser tauenden Schnees in den Bächen. Mit seinem Bruder und zwei Nachbarskindern spielt Roman Frisch am Waldrand, nicht weit von seinem Elternhaus entfernt.

Zwei Tiere nähern sich.

Wie graue Schäferhunde sehen sie aus und beschnuppern die Kinder. Roman, vier Jahre alt, will weglaufen, doch eines der Tiere fasst ihn mit scharfen Eckzähnen am Hosenboden. Roman schreit. Das Tier will ihn offenbar in den Wald schleppen, aber Romans Bruder ist schon neun, er hält ihn fest und zerrt ihn fort. Mit Stöcken vertreiben die Kinder die beiden Angreifer. Lautlos ziehen sie sich in den Wald zurück.

"Von Wölfen überfallen: Vierjähriger halb zerfleischt", ruft das Bayerwald-Echo in den kommenden Morgen hinaus. Von der Abendzeitung hallt es zurück: "Ein Bub wurde angefallen. Jetzt fordern die Bewohner im Bayerischen Wald: Bringt die Wolfsbestien endlich um!" Bayerns Innenminister Bruno Merk erteilt Schießbefehl. Die Landes- und Grenzpolizei, eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei aus Nürnberg, Staats- und private Jäger sowie Angestellte des Nationalparks ­ alle schwärmen zur Wolfshatz aus. Romans Bisswunde am Hintern hat ein Arzt längst mit einer Spritze gegen Tollwut versorgt. Es ist Montag, der 22. März 1976.

Zwei Monate zuvor hatten acht Wölfe, vermutlich aufgeschreckt vom Dröhnen einer Schneefräse, den Zaun des Freigeheges im Nationalpark übersprungen. Einer war schon am Folgetag von Jägern erschossen worden, ein zweiter Ende Februar. Zwar hatte ein halbes Dutzend Zoologen den Ausreißern Harmlosigkeit gegenüber Menschen attestiert und auf Italien, Jugoslawien und Polen verwiesen, wo Wölfe seit Jahren frei lebten. Zwar strömten Touristen wie nie in den Nationalpark Bayerischer Wald, gegründet sechs Jahre zuvor als erster in Deutschland. Und eine Bürgerinitiative hatte wochenlang gebeten: "Lasst den Wolf leben!"

Doch umsonst. Drei Tiere werden in der Woche nach dem Zwischenfall von Forstwald erlegt. Die letzten drei Wölfe ziehen sich tief in die Wälder im Grenzgebiet zwischen Bayern und der Tschechoslowakei zurück. Sie werden in den kommenden zwei Jahren erschossen.

Ein Wald ­ viele Lager

Am 7. Oktober 1970 hatte der Freistaat den Nationalpark Bayerischer Wald eröffnet und 1997 nach Nordwesten hin auf fast 243 Quadratkilometer erweitert. 1991, nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs, richteten tschechische Naturschützer zudem auf 690 Quadratkilometern den Národní park Sumava ein, den "Rauschenden" ­ den Böhmerwald. Die beiden Nationalparks bilden das größte zusammenhängende Waldgebiet in Zentraleuropa.

Aber wie stark darf "Europas wildes Herz" (Eigenwerbung) schlagen? Darf ein deutscher Wald Wölfe beherbergen? "Ich hatte Todesängste", sagt Roman Frisch heute. Er hat Jahre gebraucht, um das Erlebnis zu verarbeiten. Und doch stellt der Wolfsausbruch von 1976 viel weiter gefasste Fragen: Wie viel Natur darf sein in Europa? Wie viel Wildnis kann ­ und wie viel Einhegung muss es geben?

Diese Geschichte handelt nicht von Wölfen. Sie erzählt von einem Wald, der nicht als Naturschutzprojekt gedacht war, jetzt aber um Geduld mit der Natur bittet. Sie berichtet von großen Löchern im Bergfichtenwald und davon, dass manche Anwohner ihren alten Wald nicht gegen neue Wildnis tauschen wollen. Sie handelt von Wölfen, Bären und Borkenkäfern, von Einheimischen und Touristen, von Naturschützern, Bürgerbewegungen, Großgrundbesitzern und Förstern. Und von den Lagern, in denen sich die Menschen verschanzt haben.

"Wildnis, das ist grundsätzlich das nicht vom Menschen Gemachte", sagt Karl Friedrich Sinner, seit zehn Jahren Leiter des Nationalparks, der will, dass sich die Natur im Wald frei entwickelt.

"Sind wir in der Serengeti oder was?!", fragt Heinrich Geier, der als Vorsitzender der Bürgerbewegung zum Schutz des Bayerischen Waldes die Kulturlandschaft seiner Heimat bedroht sieht.

"Die Natur findet immer einen Weg, der Mensch nicht immer. Aber es muss auch nicht alles natürlich sein", sagt Stephan Freiherr von Poschinger, Herr über einige Tausend Hektar Wald, der gelassen zwischen den Stühlen sitzt.

"Die Menschen begreifen hier, was Natur alles sein kann", sagt Josef Kopp von der Nationalparkwacht, der den Wald täglich durchstreift.

Kopp, kurze graue Bürstenhaare, immer mal ein Jungenlachen, ist 62 Jahre alt, fast die Hälfte seines Lebens war er Ranger im Nationalpark. Diese Sommertage sind seine letzten im Dienst, dann zieht er die olivgrüne Cargojacke mit dem Symbol des Schutzgebiets aus, den drei stilisierten Bäumen: Fichte, Buche und Tanne, den drei häufigsten Arten im Reservat. Wenn Kopp durch den Nationalpark fährt und führt, tut er das gleichermaßen begeistert wie gelassen.

Auch nach Jahrzehnten spricht der Ranger vom Fichtenporling oder der Zittergras-Segge, als hätte er Pilz und Gras eben erst entdeckt. Zugleich schaut er mit großer Ruhe dem Treiben der Natur rund um den "Seelensteig" zu: einen Bohlenweg entlang über umgestürzte Fichten und über einen Wildbach, vorbei an natürlich ausgesamten Jung- und Jüngstbäumchen und meterhohen gesplitterten Baumstümpfen.

Schon hier erlebt man, was sonst jeder Waldspaziergang verwehrt: Durcheinander, Querliegendes, Undurchdringlichkeit ­ selbst für den Blick. Nur über die Bohlen geht es voran. "Das ist eben kein Wirtschaftswald", sagt Kopp und steigt mit seinen schweren Stiefeln über einen Stamm, der den Sturm vor zwei Wochen nicht aufrecht überstand und nun einige Bohlen zertrümmert hat. "Die Ordnung geht hier allmählich verloren." Ein Platz für Tiere.

Doch nicht jeder begrüßt die neue Wildnis. Zwar ist dies der Zustand früherer Tage. Noch im Jahr 1806 schrieb Kaspar Graf Sternberg über den Böhmerwald: "Durch Jahrhunderte übereinander geworfene Windbrüche liegen aufgetürmt, und auf ihren vermodernden Rücken hebt sich kühn eine zweite Generation empor." 150 Jahre allerdings war dies kein Natur-, sondern ein Nutzwald. Fichtenstamm an Fichtenstamm, gerade und schnell wachsendes gleichaltriges Holz, das nach rund 80 Jahren geschlagen und in Kanälen und Flüssen in Richtung Donau getriftet wurde. Die Waidler haben im, vom und mit ihrem "Woid" gelebt.

Dann wurde der Nationalpark gegründet, und als im Sommer 1983 ein lokales Gewitter hier die flachwurzelnden Bäume niederwarf ­ da entschied man sich, sie liegen zu lassen. Sie waren kein Nutzholz mehr, "außer in dem Sinne, dass sich hier jetzt das Schalenwild nicht mehr hintraut", sagt Kopp. "Die wissen, dass es inmitten der umherliegenden Stämme kein Entkommen gibt, falls der Luchs auftaucht."

Kein Hirsch- und Rehverbiss, das bedeutet: Hier schaffen es seitdem auch Ulmensprösslinge ans Licht. Und Esche, Buche, Berg- und Spitzahorn. Birke ohnehin. Der Sommer 1983, das ist für die einen die Geburt des Urwaldes, für die anderen der Tod des Bayerischen Waldes. In merkwürdigem Kontrast zum frischen Unterholzgrün zur linken steht rechts noch ein Fichtenborkenkäferwald: dünne graue Stämme, die Rinde ist abgeblättert, Bohrmehl am Boden, keine Nadel mehr in der hohen Krone. Kopp nickt in ihre Richtung: "Die bricht der nächste Sturm nieder." Hier können sie liegen bleiben. Hier ist Naturzone.

Kopp schweigt.

Der Wind streicht in den Hochlagen durch die Wipfel. Tief unten springt das Wildwasser über Steine zur Schwarzach hin. Stille. Seelensteig.

Kopps Handy klingelt. Ein künstlicher Klang, schneidend. Der Ranger stiefelt einige Meter über den Bohlenweg, dann hallt seine Begrüßung durch den Wald: "Habe die Ehre, Christian!" Die Natur erleben, schrieb der erste Bundespräsident Theodor Heuß, das sei gut "gegen die Unruhe und Ängste des Herzens, gegen den kalten, harten Glanz laufender Maschinen." Damals gab es noch keine Mobiltelefone.

Der Ranger entschuldigt sich für die Störung. Der verrottende Stamm links, der bemooste Stumpf rechts, das graue Fichtengerippe dazwischen ­ es sieht aus wie bei Hempels unterm Sofa und entspricht keineswegs unserem Wald-Bild. "Ja, es gibt Leute, die das hier einen Saustall schimpfen", sagt Kopp und zuckt mit den Schultern. Einige Bewohner der Landkreise Regen und Freyung-Grafenau. Ihre Gemüter sind erregt, ihre Meinungen gespalten. "Ich frage dann immer, ob sie solch einen Wald schon woanders gesehen haben."

Aber darf man einfach "die Natur Natur sein lassen", wie es der Slogan des Nationalparks vorschlägt?

"Selbstverständlich darf man!" Kopp hat sich entschieden, vor langer Zeit schon: "99 Prozent der Waldfläche in Bayern werden wirtschaftlich genutzt. Da wird geplant, gepflanzt, gepflegt, gefällt. Nur hier und im Nationalpark Berchtesgaden überlassen wir die Natur sich selbst, auf gerade mal einem Prozent der Waldfläche Bayerns ­ das muss doch möglich sein!"

Der Streitfall Borkenkäfer

Heinrich Geier ist einer der Menschen, die schimpfen. Über den Borkenkäfer vor allem. Nein, es ist mehr als Schimpfen: "Es herrscht Krieg", sagt Geier ernst. Petitionen im Landtag, Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgericht, Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Nationalparkleiter: Geiers Verein lässt nichts unversucht. "Das ist nicht mehr sachlich, was da stattfindet", sagt er selbst, "da ist viel Verleumdung und Verletzung im Spiel." Vor allem von der "Gegenseite", natürlich.

"Im Erweiterungsgebiet von 1997 breitet sich der Borkenkäfer sehr langsam aus. In einer der Naturzonen hat er in zehn Jahren ganze sechs Hektar befallen", sagt Nationalparkleiter Karl Friedrich Sinner.

"Warum muss da erst ein gesunder schöner Wald kaputtgehen?", fragt der bürgerbewegte Heinrich Geier.

"Der Käfer ist ja nicht von Haus aus ein Schädling, sondern verjüngt Wälder. Aber für viele Menschen ist der Wald ein ökonomisches Standbein", sagt Baron Poschinger.

"Wer sagt denn, dass er von uns kommt? Es ist euer Käfer!", patzt Ranger Josef Kopp manchmal, wenn ihn die Diskussion aufregt.

Der Borkenkäfer ist keine Erfindung des Nationalparks. "Das Jahr 1870", berichtet der böhmische Schriftsteller Karel Klostermann, "brachte eine Katastrophe, welche alle Verhältnisse änderte: die Borkenkäferkalamität. Diese Kalamität betraf den ganzen Böhmerwald und schädigte unser Nachbarland Bayern ebenso sehr wie Böhmen." Heinrich Geier weiß natürlich, dass Fichtenwald anfällig für Stürme ist ­ nicht nur aus ökologischen Gründen dichteten Forstmänner den Spruch: "Willst du deinen Wald vernichten, pflanze Fichten, Fichten, Fichten." Und der Schutzvereinsvorstand weiß auch, dass es den Borkenkäfer schon länger gibt als den Homo sapiens.

Doch es herrscht eben Krieg. "Der aktuelle Casus Belli ist durch Kyrill entstanden", sagt Geier. Der Sturm hat 2007 allein zwischen Falkenstein und Rachel 120000 Festmeter Fichten umgeworfen. "Für den Borkenkäfer ist das ...", Geier sucht nach Worten, "das ist, wie wenn ich Ihnen Ihre Lieblingsspeise vorsetz'! Die Nationalparkverwaltung nennt das 'Naturzonen'." Er höhnt: "Ich nenne das Käferschutzgebiet."

Der Kampf um die Fichte

Heinrich Geier ist hier in Frauenau geboren. Gut, als Zollbeamter hatte er mit seiner Frau über Jahrzehnte die Dienstwohnung in Zwiesel: "130 Quadratmeter, das war sehr schön." Und die letzten 15 Jahre vor der Pensionierung ist er nach Bonn ins Finanzministerium gependelt. Aber jetzt, mit 70, steht er vor seinem Haus am Hang des Reifbergs in Frauenau und weist mit der ausladenden Geste des ganzen Armes auf den Horizont, auf die Hochlage zwischen Großem Rachel und Falkenstein: "Das ist meine Heimat."

In fünf Jahren werde der Borkenkäfer das alles gefressen haben, die Bergkette derart kahl sein, dass man es von hier sehe. "Dann aber ist es zu spät! In diesem Frühjahr müssten die anfangen, die kranken Bäume zu schlagen und wegzuschaffen. In diesem! Sonst fliegt der Käfer hier ins Tal zu unseren Waldbauern." Geier schüttelt den Kopf. Kurz wirkt der Mann resigniert. "Aber das tun sie ja nicht."

Heinrich Geier fühlt sich betrogen. Der Bergfichtenwald ab 1150 Metern Höhe sollte geschützt werden, nun werde er sich selbst überlassen. Geier selbst besitzt keinen Wald. Sein Engagement als Vorsitzender der "Bürgerbewegung zum Schutz des Bayerischen Waldes e.V." ziele also nicht auf einen wirtschaftlichen Nutzen ab. Nach Geiers Angaben hat der Verein 1500 Mitglieder: "Professoren, Ärzte, Kaufleute, Waldbauern ­ alles heimatverbundene Leute."

Es geht den Bürgerbewegten um Heimat und den gewohnten Anblick, nicht so sehr um die Natur. Es ist eine Liebe zur Kulturlandschaft und zum Wirtschaftswald.

Geier ist nun wieder kämpferisch und schiebt Fotos herüber. "Wir überfliegen die Berge jedes Jahr zwei-, dreimal und fotografieren", sagt er. "Sehen Sie, wie es dort aussieht!" Die Bilder zeigen Dutzende und Hunderte grauer Baumgerippe am Rachel und am Lusen. Wie nach einem Waldbrand. Das Werk von Wind und Käfer. "Die Naturzonen sind das finale Vernichtungsprogramm für die Fichtenwälder des Bayerischen Waldes", sagt Geier. Er fordert, dass dort wieder aufgeforstet wird.

Karl Friedrich Sinner, Leiter der Nationalparkverwaltung, kann das Entsetzen sogar nachvollziehen. "Vielleicht sind wir zu spät auf die Befindlichkeit der Bevölkerung hier eingegangen." Er verweist aber auch auf die natürliche Verjüngung der Hochflächen. "Während man üblicherweise 1200 bis 1500 Bäumchen pro Hektar pflanzt, wachsen derzeit 5000 Bäume pro Hektar von ganz alleine. Das können wir dort wunderbar sehen."

Andernorts lässt man nicht Wind und Käfer den Wald umbauen, sondern greift selbst ein: Um den natürlichen Charakter des größten deutschen Laubwaldes wiederherzustellen, wurde im thüringischen Nationalpark Hainich jüngst die letzte von 40000 Fichten gefällt. Auch die Gefahr, dass der Borkenkäfer auf die Privatwälder überspringt, war der Parkleitung wohl zu groß.

Doch was heißt natürlich, was ursprünglich? Heißt das jenen Zustand wiederherzustellen, den Tacitus angewidert beschrieb, als er Anfang des zweiten Jahrhunderts imaginär über den Limes gen Germanien blickte? "terra (...) in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda" ­ "Das Land (...) ist im Allgemeinen entweder mit unwirtlichen Wäldern oder mit abstoßenden Sümpfen bedeckt."

Sicher nicht. Vom Urwald im Sinne einer Niemals-Nutzung befreiten uns die Mönche, die Köhler, die Glasmacher und Holzhauer. Es gibt so gut wie keinen europäischen Urwald mehr. Zumindest aber Wildnis soll her im Nationalpark Bayerischer Wald. Die Hälfte des Reservats ist schon heute Naturzone, dort greift keine Menschenhand mehr ein; im Jahr 2027 sollen es drei Viertel sein ­ und erst dann wären, streng genommen, die Vorgaben für Nationalparks erfüllt, die die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) aufgestellt hat. Die Weltnaturschutzunion publiziert jährlich auch die "Rote Liste der weltweit gefährdeten Arten" ­ unter den 16306 vom Aussterben bedrohten Arten 2007 befindet sich immerhin nicht mehr canis lupus, der Wolf.

Der Park ist ein Geschäft

"Wir dürfen nicht verbohrt und verbiestert Verbote aussprechen, sondern wollen Begeisterung wecken und emotional werben für die Natur", sagt Nationalparkleiter Sinner.

"Alle Gemeinden im Nationalpark haben dramatisch schlechtere Übernachtungszahlen als früher! Kein Wunder bei dem Totenwald da oben", sagt Vereinsvorstand Geier.

",Nationalpark' ist als Begriff weltweit gut besetzt. Aber die Menschen hier in der Region sind von der Verwaltung nicht richtig mitgenommen worden, denen wurde allerhand übergestülpt", sagt Baron Poschinger.

"Die Pensionsbesitzer könnten den Park viel stärker vermarkten. Und vielleicht regionale Hausmannskost anbieten statt Toast Hawaii", sagt Ranger Kopp.

Dabei ging alles so gut los. Hubert Weinzierl, Ende der sechziger Jahre Naturschutzbeauftragter in Niederbayern, hatte einen telegenen Tier-Professor für das Areal an der tschechischen Grenze begeistern können. "Serengeti darf nicht sterben", so hieß der Oscar-prämierte Film von Bernhard Grzimek, und ähnlich wild wie den Nationalpark im Norden Tansanias stellte sich der Frankfurter Zoodirektor auch einen deutschen Nationalpark vor: ein riesiger Freilandzoo mit Wisentherden und 300 Bären. Die Fläche um den Großen Rachel und den Lusen freilich betrug nicht mal ein Hundertstel des Nationalparks in der Savanne. Grzimek, der "Al Gore seiner Zeit" (Geo), zog sich bald zurück.

Auch ohne ihn lockte der Park schon im ersten Jahr, gleich nach dem Deutschen Museum in München, die meisten Besucher im Freistaat an: 1,2 Millionen. Einen Zeitungsreporter befremdete allerdings, "dass der Nationalpark und seine Umgebung schon vor der feierlichen Eröffnung zum Objekt bundesüblicher Spekulationen wurden. Im Raum Freyung und bei Spiegelau entstehen bereits riesige Hotelbauten. Der Run auf Grundstücke, die Nachfrage nach Läden und Kiosken schreckte den Bayerischen Wald aus seiner gewohnten Ruhe. Es bleibt abzuwarten, ob man Geschäftemacher und Geldhyänen ebenso unter Kontrolle halten kann wie die vergleichsweise harmlosen Tiere."

"Machen wir uns nichts vor", sagt Josef Wanninger: "Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde nicht eingerichtet, um die Natur zu schützen. Sondern als Infrastrukturmaßnahme für Ostbayern." Wanninger ist in der Parkverwaltung zuständig für Regionalentwicklung, er muss es wissen. Der 45-Jährige hat sein Büro im ehemaligen Amtsgericht in Gra- fenau. An der Wand hängt ein Plakat mit Fotos und Zeitungsausschnitten vom Wolfsausbruch 1976. Da war er 13. Das Plakat hat er aus dem Altpapier-Container geholt, als er einzog.

"Unser Nationalpark traf den Zeitgeist der Siebziger, und er hatte eben das Alleinstellungsmerkmal, der erste zu sein", sagt Wanninger. Er illustriert das an den Besucherzahlen der Gemeinde Neuschönau: "Der Ort hat mit dem Wolf- und Bärengehege natürlich einen Besuchermagneten, ist aber dennoch typisch für die allgemeine Entwicklung." 1970 übernachteten dort 30000 Gäste, 1985 schon 65000, 1992 gar 145000. "Damals kamen viele aus den neuen Ländern, für die lag unsere Region nahe und bot ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Da konnte man hier für 13 Mark mit Frühstück übernachten!"

Und seitdem? "Gingen die Zahlen zurück." 2007 hatte Neuschönau noch etwa 100000 Übernachtungen. Dieselbe Entwicklung auch im Großen: In den Landkreisen Regen und Freyung-Grafenau übernachteten im Spitzenjahr 1992 fast sieben Millionen Gäste ­ in den vergangenen Jahren waren es nicht mal mehr 4,5 Millionen.

Über Jahre hinweg habe der Nationalpark die Kassen der Pensionsinhaber, Metzger und Souvenirläden klingeln lassen, sagt Wanninger. "Den Menschen hier wurde der Nationalpark praktisch geschenkt, und mehr als 20 Jahre lief das auch gut. Aber kaum jemand hat mal in Komfort oder Werbung inves-tiert, es gibt keine Pauschalangebote für den Bayerischen Wald oder Leuchtturm-Projekte ­ jedes Dorf plant sein eigenes Fest und erstellt einen eigenen Prospekt, statt sich als Teil einer Region zu begreifen. Und heute gibt es eben nicht einen, sondern 14 Nationalparks in Deutschland!"

Wanninger, eigentlich ein entspannter Typ, hat sich ein wenig in Rage geredet, und er beruhigt sich selbst damit, dass jetzt doch einige Touristiker ein Konzept gebaut haben. Es heißt "tierisch wild" und soll ab 2009 damit werben, dass Luchs, Fischotter, Auer- und Birkhuhn, Elch und Wolf wieder in der Region zu sehen sind ­ mit Ausnahme des Bären also alles, was hier vor 300 Jahren umherstreifte.

Ist der Wald auf dem Weg zu italienischen oder französischen Verhältnissen? In den Abruzzen und den Südwestalpen leben Luchse und Wölfe mittlerweile frei. Österreich hat Bären ausgewildert, und selbst in der Lausitz wurden Wolfswelpen in Freiheit geboren.

"Heute ist Werbung nötig", sagt Josef Wanninger. "Schauen Sie mal hinüber zu den österreichischen Nationalparks: Die vermarkten Hohe Tauern, Gesäuse oder Donau-Auen sehr professionell. Der Bayerwald hat doch derzeit ein Image wie ,Da sind meine Eltern und Großeltern früher hingefahren'." Die Jugend aber will in die Sonne.

Die Wildnis rechnet sich

Eine Studie hatte Anfang der achtziger Jahre aufgelistet, was dem Freistaat durch fehlenden Holzeinschlag an Einnahmen entgeht, was der Nationalpark kostet ­ und gegengerechnet, wie viel Geld Besucher vor Ort lassen. Ergebnis: 10 bis 20 Millionen Mark blieben pro Jahr in den Nationalparkgemeinden. Die Studie wird gerade aktualisiert, im Juli werden die Resultate präsentiert. Auch wenn die Verwaltung des erweiterten Parks mittlerweile elf Millionen Euro kostet und die Holzpreise in die Höhe geschnellt sind: Das Ergebnis werde wieder pro Nationalpark ausfallen, meint Wanninger. "Wenn auch nicht so klar wie damals."

Vielleicht helfen auch neue Grenzübergänge zwischen den Nationalparks Baye- rischer Wald und Böhmerwald. Seit Dezember 2007 gehört Tschechien zum Schengen-Gebiet, Wanderer könnten künftig zwischen Moldauquelle und Blauen Säulen problemlos Rundwege durch beide Länder nutzen. Falls, ja falls die Kommunen zustimmen, dass im Gegenzug der bisherige Grenzsteig gesperrt wird. Denn man kann die Naturzonen nicht kreuz und quer zerteilen, die Flächen für Birkhühner würden sonst zu klein, argumentieren die beiden Nationalparks.

"Es ist eine unnötige Kerbe in die Landschaft geschlagen worden, das schon", sagt Baron Poschinger und blickt milde unter buschigen Augenbrauen hervor. "In der Sache kritisiere ich, dass die Nationalparkverwaltung ihre Idee so rigide durchgesetzt und den Käfer nicht bekämpft hat." Und dann folgen Sätze, die zeigen, dass der Freiherr das langfristige Denken im Blut hat wie Antikörper gegen Aktionismus: "Aber die Natur heilt das irgendwie ­ in 40 bis 100 Jahren ist hier ein neues Landschaftsbild geschaffen, und dann werden wir sagen: Damals haben wir uns heftig gesorgt, aber jetzt ist es geschafft."

Stephan Freiherr von Poschinger, der in der Gegend nur "Baron" gerufen wird, ist Jahrgang 1939, und dass er in einigen Dekaden den Lusen noch durch die neuen Bergmischwälder besteigen und die Laubbäume bewundern wird, "das ist wenig wahrscheinlich", sagt er und lacht. Vielleicht muss man in der 14. Generation Wald besitzen und eine Glashütte betreiben, um so gelassen nach vorne schauen zu können. 1568 erwarb Joachim Poschinger das Glashüttengut Zwieselau ­ zu einer Zeit, als Mönche den Bayerischen Urwald urbar machten gegen Bär, Wolf und Luchs. "Seitdem ist die männliche Linie der Poschinger als Glashütten- und Gutsherren im Bayerischen Wald nicht unterbrochen worden", sagt der Baron. Er sagt es lächelnd, mit ruhigem Stolz. Mittlerweile führt sein Sohn Benedikt den Betrieb ­ in 15. Generation.

Der Senior ist noch viel im Werk. Vom Konferenztisch im ersten Stock kann er über Dutzende von Jugendstil-Kristallgläsern und die Bahnstrecke nach Grafenau blicken, vielleicht sogar bis zu Heinrich Geiers Haus am Berghang. Was den Borkenkäfer betrifft, teilt er Geiers Kritik. Dessen Wut teilt er nicht.

Unten in der Werkhalle formt ein alter Glasbläser mit Glutofen, Mund und Zange ein Vögelchen im Nest, die Gäste der Zehn-Uhr-Führung staunen. Zwischendurch schweifen ihre Blicke hinauf zur Galerie mit Hunderten Gefäßen, Glaskunstwerke allesamt. "Wir vermieten die Halle auch für Hochzeiten und andere Veranstaltungen", sagt der Baron.

"Das gläserne Herz an der Glasstraße und am Nationalpark Bayerischer Wald", so bewirbt Frauenau sich und seine 3000 Einwohner. Noch in den sechziger Jahren arbeiteten in der Glasregion um Regen und Freyung 5000 Menschen, vor der Wende waren es noch 2000. Heute sind es vielleicht 250, schätzt das Glasmuseum in Frauenau. Auch Ranger Josef Kopp hat in seinem ersten Leben Gläser graviert, 18 Jahre lang, unten in Riedlhütte.

Kopp steht vor einer gewaltigen Tanne, 40, 45 Meter mag sie hoch sein und handvermessene 6,20 Meter im Umfang. Die Zahlen spiegeln ihre Majestät nicht wider. Man könnte auch sagen: Hier stehen 40 Kubikmeter Holz, und die Frage Brechts taucht auf: "Ist ein Wald 10000 Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfreude?"

Die Jugend denkt grün

Kopp hat in den Watzlik-Hain hineingeführt, oben im Nordwesten des Nationalparks. Hier stehen einige Ur-Tannen, -Buchen und -Ulmen. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hat sie Maximilian I. von Bayern in wahrer Herrscher-Weisheit unter Schutz stellen lassen. Deshalb kommt Kopp mit den "Junior Rangers" auch immer hierher: wenn Natur erleben und verstehen, dann hier oben. Wo die Fichten nicht Stamm neben Stamm stehen wie preußische Soldaten.

Bei den Junior Rangers nimmt jeweils einer der 26 Nationalparkwächter vier Schüler einige Tage unter seine Fittiche ­ "Natur statt TV-Soaps", sagt Kopp. Bisher haben 1300 Kinder aus den Nationalparkgemeinden die Camps besucht, 200 sind den jungen Wächtern anschließend beigetreten. Auch Heinrich Geier findet es nicht schlecht, in die Schulen zu gehen, aber: "Jetzt haben sie Ranger erfunden", er spricht es "Renscher" aus und zieht die Mundwinkel nach unten, "als wären sie im Yosemite Park oder in der Serengeti, völlig überzogen. Dabei haben sie gar keine Wildnis und keinen Urwald."

Doch die Wildnis entsteht, und im Watzlik-Hain bekommt man eine Ahnung, wie sie in ferner Zukunft aussehen könnte. Hier gehen Bäume den Weg allen Holzes ­ wenn man es lässt. Eine dicke Buche, zehn Meter über dem Boden abgebrochen, der Rest lehnt schräg in der Astgabel einer weiteren Buche. Ein Stamm, ausgehöhlt, weich, porös, irgendwie sich aufrecht haltend. Andere Stämme liegen schon bemoost und bilden die Basis der so wertvollen "Rannenverjüngung": Jungbäume, Nährstoffe aus dem Totholz ziehend, sprießen daraus hervor, sind näher am Licht und ragen winters einen halben Meter aus dem Schnee.

Vielleicht gedeihen in so einer Umgebung auch junge Menschen gut. So wie Josef Kopps Enkel Daniel. Er ist sechs und der jüngste Forscher im Nationalpark ­ und das sogar beurkundet. "Der hat irgendwas aufgehoben, was auch ich nicht kannte", erzählt Kopp. "Niemand wusste, was es ist. Dann haben wir es eingeschickt, und es kam heraus, dass Daniel die erste Gemeine Schließmundschnecke nördlich der Alpen gefunden hatte! Sogar Fernsehen und Radio waren da!" Opa ist sichtlich stolz. "Die Kleinen schauen sich jeden Käfer genau an. Und dann gehen sie später auch bewusster durch die Natur."

Das Konzept der Junior Rangers zeigt einen Weg auf. Vielleicht blickt die nächste Generation der Waidler schon anders auf ihren Wald; vielleicht regt der Watzlik-Hain die Fantasie an, wie es in einigen Jahrzehnten unterm Rachel aussehen könnte ­ selbst wenn dort in der Höhe vor allem Fichten und Tannen wachsen werden. Kopp schweigt. Der Hochwald rauscht wie ein fernes Meer. Oder wie eine Autobahn.

Sollte also vielleicht ganz Deutschland zu einem Nationalpark werden? So inbrünstig, wie er sonst "selbstverständlich" sagt, ruft Josef Kopp: "Um Gottes willen! Der Wirtschaftswald hat seine Berechtigung, unbedingt sogar!" Und dann: "Ich brauche ja schließlich auch Feuerholz!"