Regionen werden von Menschen gemacht

Keine Region ist langfristig zum Misserfolg verdammt, behaupten die beiden Prognos-Forscher Christian Böllhoff und Tobias Koch. Mit welchen Nachteilen ein Landstrich auch zu kämpfen haben mag, so ihre These, wer will, kann sich entwickeln. Ein Gespräch über Regionen und die Gestaltung von Lebens- und Wirtschaftsräumen in Zeiten der Globalisierung.




Im Grundgesetz wird noch immer die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse angemahnt, dabei klaffen Wunsch und Wirklichkeit seit Jahren auseinander. Ihre aktuelle Studie belegt es eindrücklich: Es gibt ein deutliches Süd-Nord-Gefälle und einen Riss zwischen West und Ost.

Koch: Bemerkenswert ist aber, dass gegenüber unserer Studie im Jahr 2004 zum Beispiel einige wirtschaftliche Zentren in Ostdeutschland ihre Zukunftschancen deutlich verbessern konnten. Die Aufholjagd lässt sich vor allem punktuell beobachten, etwa in urbanen Zentren wie Dresden, Potsdam und Jena, aber auch in Regionen, die von der Nähe zu den alten Bundesländern profitieren, beispielsweise entlang der Autobahn Hannover­Berlin.

Haben Sie derartige Effekte auch in Westdeutschland gefunden?

Koch: Hier strahlen die Top-Standorte tendenziell immer stärker ins Umland aus. Wir beobachten ­ begünstigt durch niedrige Preise ­ eine Suburbanisierung, also raus aus den Städten, rein in die Umgebung. Das gilt für Haushalte, aber auch für Unternehmen und den Handel. Eine hohe Zukunftsfähigkeit finden wir überall dort, wo das Umland gut mit den Wachstumszentren verbunden ist. Zu den Gewinnern zählen deshalb generell Regionen, die entlang zentraler Verkehrsachsen liegen, wie etwa der Autobahn Stuttgart­Mannheim­Frankfurt oder der A4 Eisenach­Jena­Dresden.

Und wer sind die Verlierer?

Koch: Dazu zählen in Westdeutschland viele Landkreise, die in ihren alten Strukturen verharrten und es nicht geschafft haben, traditionelle industrielle Stärken mit innovativen Querschnittstechnologien zu verknüpfen. Bei Produktionsverlagerungen ins Ausland stehen sie als Verlierer da. Auch periphere ländliche Regionen, überwiegend in Ostdeutschland, rangieren auf den unteren Plätzen.

Lassen sich schrumpfende Lebens- und Wirtschaftsräume in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch aktiv gestalten?

Koch: Der Staat zumindest kann auf die Wachstumschancen künftig nur noch sehr bedingt Einfluss nehmen. In einigen Bereichen setzt er ja noch einen festen Rahmen, etwa bei der Besteuerung oder in der Sozialgesetzgebung. Historisch betrachtet ist der Einfluss des Staates aber kleiner geworden, und er wird weiter schrumpfen.

Spielräume gibt es höchstens dort, wo Fördermittel zur Verfügung stehen, also Bundes-, Landes- oder EU-Mittel. Das ist tendenziell im Osten der Fall und einer der Gründe für den dortigen punktuellen Aufholprozess. So kann man aber auf Dauer keine Wirtschaftsräume entwickeln, flächendeckend schon gar nicht.

Warum ist das so wichtig? Weil die Macht des Nationalstaats sinkt?

Böllhoff: Natürlich. Zwar gibt es auch heute noch Branchen, wie das Ernährungsgewerbe oder die Bauwirtschaft, die weitgehend national aufgestellt sind. Die meisten Industrien stehen inzwischen jedoch über ihre führenden Standorte in Regionen im Wettbewerb.

Nehmen Sie die Südpfalz, um die es in Ihrem Magazin geht. Der dortige Landkreis Germersheim konkurriert aufgrund der Dominanz des Nutzfahrzeugbaus nicht etwa mit den Niederlanden oder mit Schweden ­ er steht im Wettbewerb mit Regionen, die in diesem Sektor aktiv sind. Mit Eindhoven beispielsweise, wo der US-Hersteller Paccar mit der Marke DAF seine Lkw fertigt, oder mit Göteborg, dem Standort der Volvo-Truck-Produktion. Diesen sehr spezifischen Herausforderungen kann man nur regional begegnen, Bund und Länder können bestenfalls flankierende Hilfestellungen geben.

Wo kann der Staat heute noch helfen, was kann er für seine Regionen tun?

Böllhoff: Nun, er kann auf Landesebene zum Beispiel gezielt Cluster fördern und untereinander vernetzen, es geht darum, Verbindungen zu schaffen, auch mit staatlichen Einrichtungen, Forschungsinstituten, Universitäten. Darüber hinaus sind die Regionen direkt gefragt: Sie können einen Lebensraum schaffen, der den Anforderungen von Unternehmen und Bevölkerung entspricht ­ sei es durch intelligente Ansiedlungsangebote, schnelle Genehmigungsverfahren, die Gestaltung von Grünflächen oder das kulturelle Angebot.

Welche Rolle spielt die Wirtschaft dabei?

Koch: Im Idealfall eine aktive. Ein gutes Beispiel ist das Engagement von Unternehmern aus dem Emsland, die nicht länger auf eine Autobahn warten wollten. Dank ihrer finanziellen Hilfe konnte die A 31 vom Ruhrgebiet nach Emden früher fertiggestellt werden. So ein Engagement finden wir überall dort, wo es den Unternehmen gut geht und wo sie eine gewisse Verantwortung für den Standort empfinden ­ tendenziell sind das die mittelständischen Betriebe. Auch dank ihrer Hilfe haben Regionen durchaus einen Gestaltungsspielraum, den die Wirtschaftsförderung allerdings erst mal wecken und initiieren muss.

In der Vergangenheit bedeutete Wirtschaftsförderung in erster Linie: Verteilen von Fördermitteln.

Böllhoff: Das Rollenbild ist überholt, auch wenn das noch längst nicht jeder verstanden hat. Zu verteilen gibt es ohnehin immer weniger ­ heute geht es um Gestalten, und da kommt der Wirtschaftsförderung eine bedeutende Aufgabe zu.

Nehmen Sie wieder die Südpfalz. Dort haben Landräte und Bürgermeister ein positives Bild von Unternehmen, das ist nicht überall der Fall. Das prägnanteste Investitionsthema für den Landkreis Germersheim ist DaimlerChrysler. Aber der Konzern ist nicht zufällig da. Sondern weil man es ihm so leicht wie möglich gemacht hat, sich zu entwickeln. Ein Grund dafür ist, dass dort Genehmigungsverfahren in allen Ämtern parallel abgewickelt werden. Das erleichtert Ansiedlungsentscheidungen enorm. Der Faktor Zeit ist sehr wichtig.

Birgt die Fokussierung auf einen großen Arbeitgeber nicht auch Gefahren?

Koch: Wenn es bei dem einen bleibt, schon. Schließlich stehen heute auch die Werke eines Konzerns international in Konkurrenz zueinander. Da kann leicht die Entscheidung gegen einen Standort fallen, die mit der Region nur am Rande zu tun hat. In der Südpfalz lässt sich allerdings beobachten, dass Wirtschaftsförderung und DaimlerChrysler bei der Stärkung des Standortes gut zusammen arbeiten. Neben der Produktion hat die Region mit dem globalen Ersatzteillager von DaimlerChrysler inzwischen auch eine Stärke im Handelsbereich und in der Logistik.

Böllhoff: Und diese Stärke hat die Stadt erst jüngst durch eine neue Lkw-Teststrecke ausgebaut. Teststrecken sind bei der Bevölkerung in der Regel nicht wahnsinnig beliebt. Die Politiker vor Ort haben sie dennoch unterstützt. Nun steht sie, und sie ist ein Signal. Sie macht den Standort noch wichtiger, weil mit ihr auch Forschung und Entwicklung in die Region kommen werden.

Aber Spezialisierung führt auch zu einer Monostruktur. Was das bedeutet, ließ sich in der Vergangenheit an einer Reihe von Landstrichen beobachten: Die Region wird durch das konjunkturelle Auf und Ab einer Branche im Zweifel gebeutelt.

Koch: Lokale Wirtschaftspolitik darf nicht statisch sein. Man kann durchaus eine Branche fördern ­ ohne die anderen aus den Augen zu verlieren. Auch das lässt sich in der Südpfalz studieren. Natürlich dominiert dort der Fahrzeugbau, er stellt mehr als 11000 Arbeitsplätze. Im Landkreis Germersheim arbei- ten 14 Prozent aller Beschäftigten in dieser Branche, bundesweit sind es nur etwa drei Prozent. Die Region scheint es aber dennoch zu schaffen, mehrere Standbeine in verschiedenen Branchen mit unterschiedlichen Wachstumspfaden aufzubauen. Das ist die beste Vorbereitung auf einen Strukturwandel, falls die dominierende Industrie wegfällt.

Die Südliche Weinstraße hat sich in Verbindung mit Tourismus eine Kompetenz als Gesundheitsstandort aufgebaut. Über den Weinbau hat die Ernährungswirtschaft eine gewisse Bedeutung und Größe. Eher mittelständische Unternehmen lassen sich im Bereich Möbel- und Holzverarbeitung oder in der Papierverarbeitung finden. Und Landau ist einer der gründungsstärksten Standorte in Deutschland, vor allem im Dienstleis-tungssektor: IT, Logistik, unterstützende Leistungen für die großen Unternehmen. Das sind ­ bezogen auf Deutschland ­ wichtige Wachstumsbereiche, an denen der ländliche Raum häufig kaum partizipiert. Was der Südpfalz fehlt, kann sie zudem durch die Nähe zu den Metropolen kompensieren. Ihre Lage macht sie auch als Wohnort attraktiv.

Während die Südpfalz in Ihrer Studie als Boom-Region eingestuft wird, dümpelt die Westpfalz vor sich hin. Entscheiden am Ende ein paar Kilometer über die Zukunftsfähigkeit einer Region?

Koch: Es macht nicht der Kilometer, aber mit der Entfernung zu wichtigen Verkehrsachsen nimmt auch das Risiko für eine Region zu. Die Südpfalz ist an Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg und Karlsruhe angebunden, Straßburg ist nicht weit, der TGV schafft eine schnelle Verbindung nach Paris. Wir bewegen uns also in einem deutschen und europäischen Verkehrskorridor.

Die südliche Westpfalz hat dagegen Lothringen und das Saarland in der Nachbarschaft, die auch ihre Schwierigkeiten haben. Die topografische Lage kommt hinzu, der nahe Pfälzerwald hilft nicht: Eine schöne Landschaft lockt die Leute zwar am Wochenende. Eine Region, die wachsen will, braucht jedoch mehr. An zusätzlichen Reizen mangelt es aber, seit die traditionell ansässige Schuhindustrie weggebrochen ist. Die Westpfalz ist ­ abgesehen von Kaiserslautern ­ ein klassischer ländlicher Raum, mit einer beachtlichen Entfernung zu den Metropolen.

Gemeinhin gelten der Anteil an Hochqualifizierten, die Ansiedelung internationaler Unternehmen und eine hohe technologische Leistungsfähigkeit als Erfolgsfaktoren. Hat der ländliche Raum da auf Dauer überhaupt noch Chancen?

Koch: Eindeutig. Der ländliche Raum ist tendenziell zwar industrienäher, doch auch die Industrie hat heute langfristig gute Perspektiven, wenn sie exportorientiert und innovativ ist. Entscheidend ist die richtige Mischung aus großen und kleinen Unternehmen, die eine gewisse Bindung zur Region haben. Das schützt ein Stück weit vor Verlagerungsentscheidungen.

Aber es stimmt: Neben einer soliden Wirtschaftsstruktur und guten Wohnbedingungen helfen vor allem akademische Ausbildungsstätten. Ländliche Regionen, in denen man lediglich gut leben und arbeiten kann, könnten künftig Schwierigkeiten bekommen, geeignete Facharbeitskräfte zu finden. Für den jungen Ingenieur, der wählen kann, ist ein Arbeitsplatz erst dann interessant, wenn er auch ein attraktives Umfeld bietet. Und das bedeutet für junge Leute eben auch: studentisches Flair.

Das klingt nach Richard Florida, dem US-Politologen, der weltweit als Vordenker einer neuen Zeit gefeiert wird. Laut Florida entscheiden künftig die mobilen kreativen Köpfe einer Gesellschaft über Wohl und Wehe von Regionen. Allerdings dient Florida dem einen Lager als Argumentationshilfe für Regionalisierung, die anderen zitieren ihn, um Neo-Citys, ganz neue Städte, zu beschwören. Zu welcher Gruppe zählen Sie?

Böllhoff: Zu keiner, denn die Florida-Prinzipien spielen sowohl für Städte als auch für ländliche Regionen eine Rolle. Für beide ist die Demografie im Sinne einer gesunden Altersstruktur entscheidend: Eine florierende Wirtschaft sorgt für Wohlstand ­ aber sie ist nichts ohne Konsumenten und ohne Nachwuchs; motivierte, gut qualifizierte Arbeitskräfte und Unternehmer. Und da gilt sicher: Die kreativen, gut ausgebildeten Leute ziehen andere junge Menschen an und befeuern so auch traditionelle Branchen mit qualifizierten Talenten.

Großstädte bieten natürlich kulturell mehr als ländliche Räume. Aber sie konkurrieren weniger mit der Region als mit anderen Metropolen. Das gilt auch für kleine Städte: Landau, um wieder ein Beispiel aus der Südpfalz zu nehmen, muss sich ja nicht mit München, Berlin oder Hamburg vergleichen. Wichtig ist vielmehr, dass man im Wettbewerb mit Städten gleicher Größenordnung oder im vorliegenden Fall gegenüber der Westpfalz punkten kann. Landau als Universitätsstandort, mit rund 5000 Studenten bei etwa 40000 Einwohnern, hat da gewaltige Vorteile und ist wichtiger Impulsgeber für die gesamte Region.

Was bedeutet das für Wirtschaftsräume ohne Talentschmieden?

Böllhoff: Es kann nicht jeder alles haben, die Chance erwächst ja gerade aus dem Unterschied. Es geht vielmehr darum, dass jede Region sich auf ihre relativen Stärken besinnt, die meist auch einen historischen Bezug haben. Die entscheidende Frage lautet: Sind Regionen in der Lage, diese Stärken für sich zu definieren und darauf aufbauend zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln? Wo das gelingt, muss sich keiner sorgen.

Ein gutes Beispiel ist Vechta. Der Landkreis liegt für viele im Nirgendwo, die nächstgrößere Stadt, Osnabrück, ist recht weit entfernt. Vechta bietet sich nicht als Wohnort für Leute an, die in Bremen oder Osnabrück arbeiten ­ und steht trotzdem gut da. Denn dort hat man erkannt, dass die wesentliche Stärke der Region in der Landwirtschaft und dem Ernährungsgewerbe liegt, und sich darauf konzentriert. Das funktioniert. Und es beweist, dass sich vermeint- lich unattraktive Landkreise aus sich heraus sehr positiv entwickeln können.

Vechta ist katholisch geprägt. Nach Cloppenburg ist hier die Geburtenrate bundesweit die zweithöchste. Zudem gibt es viele zugewanderte kinderreiche Russlanddeutsche, die bereit sind, zu niedrigen Löhnen in der Agrarindustrie zu arbeiten. Inwieweit haben solche Modelle Vorbildfunktion?

Böllhoff: Um Vorbildfunktionen und um die Frage, ob ein Modell auf andere Regionen übertragbar ist, geht es, wenn überhaupt, erst im zweiten Schritt. Für die Region selbst ist zunächst einmal nur wichtig, die eigenen Stärken zu erkennen und auszubauen.

Das scheint vielerorts noch nicht angekommen zu sein. Sonst würden nicht so viele versuchen, erfolgreiche Konzepte zu kopieren.

Koch: Die meisten Kopien taugen nichts ­ wie auch, wenn Inhalt und Substanz fehlen? Wir haben hierzulande aus der eigentlich richtigen Idee der Cluster-Bildung eine bedenkliche Mode gemacht, die mit der Stärkung von Regionen nur wenig zu tun hat. Es gibt kein Bundesland, das heute nicht behauptet, führend in Biotechnologie zu sein.

Was ist falsch an dem Versuch, moderne Industrien an einem Ort anzusiedeln?

Koch: Die Anstrengungen sind meist vergeblich. Ein Cluster lässt sich nicht einfach aufbauen. Es muss wachsen, denn es hat mit Wurzeln, Kompetenzen und netzwerkartigen Strukturen zu tun. Die Protagonisten in so einer Struktur befruchten sich gegenseitig. Sie fühlen sich zugehörig, kooperieren, konkurrieren, aber sie schaffen eine Atmosphäre, von der alle profitieren. Denn erst so ein Nährboden lässt Infrastrukturen wachsen ­ und hilft damit der gesamten Region in der Außendarstellung. Der Standort wird wahrgenommen, hat ein besseres Standing gegenüber der Politik: Fördermittel und Verständnis für ein Thema gewinnen die Teilnehmer in einem Wirtschaftsraum nur, wenn sie geballt auftreten.

Das haben viele versucht. Der flächendeckende Ansatz, mit Biotech-Kompetenz zu punkten, zeugt doch von den Anstrengungen der Kommunen.

Koch: Ja, aber Mühe allein reicht eben nicht. Gerade technologische Cluster haben sehr spezifische Strukturen und Wachstumspfade. Ihre Unterstützung erfordert zunächst einmal eine sorgfältige und genaue Analyse, eine langfris-tige Strategie und eine kritische Masse. Viele selbst definierte Cluster erfüllen nicht einmal diese Anforderungen. Zudem sind mit dem Begriff viel zu hohe Erwartungen verbunden: Plötzlich will jeder Bürgermeister sein eigenes Clus-ter, gern verbunden mit konkreten Arbeitsplatzzielen, was weder seriös noch sinnvoll ist. Die inflationäre Entwicklung hat dem Thema geschadet ­ und den Regionen leider auch.

Wie sehen aus Expertensicht die besseren Alternativen aus?

Böllhoff: Politik, Unternehmen und Ins-titutionen einer Region sollten ihre Mittel lieber konzentrieren und sich auf die Kompetenzen stützen, die sie auch schon vor der Cluster-Diskussion hatten. Ich kann nur fördern, was ansatzweise vorhanden ist und wozu ich einen Bezug habe. Darum geht es in der Region. Neben der Innenbetrachtung muss der Wirtschaftsraum die identifizierten Stärken dann auch durch eine Analyse der Außenwelt überprüfen. Wer ist noch auf dem angepeilten Markt? Mit wem stehen wir, bezogen auf Größe und Spezialisierungsmuster, in Wettbewerb? Wo sind bundesweit und international Nischen und Alleinstellungsmerkmale?

Was, wenn es keine historische Stärke gibt? Kann ein künstlich geschaffenes Cluster nicht auch erfolgreich sein?

Böllhoff: Doch natürlich, aber das ist heute deutlich schwerer zu realisieren als in der Vergangenheit. Es gibt erfolgreiche Cluster, die aus dem Nichts entstanden sind, wenn Unternehmer früh einen Trend erkannt und sich überdurchschnittlich stark entwickelt haben. Das war zum Beispiel bei SAP der Fall. Diese Cluster können überall entstehen. Kein Wirtschaftsförderer hat sie initiiert, im besten Fall hat er sie erkannt und gefördert. Diese Form der Cluster-Bildung halte ich immer noch für die erfolgversprechendste. Manchmal gelingt die künstliche Ansiedlung auch der Politik. Der Flugzeugbau in Bayern ist ein Beispiel dafür. Als Bundesminister hat sich Franz-Josef Strauß bereits Mitte der fünfziger Jahre für einen wissenschaftlichen Ausbau der Luftfahrt- und Raumfahrtkompetenz in Bayern eingesetzt.

Koch: Natürlich gibt es auch noch die Ansiedlung eines Unternehmens, das in einem etablierten Markt operiert. Durch die Gründung des Daimler-Werks in der Südpfalz ist vor 40 Jahren das Nutzfahrzeug-Cluster im Landkreis Germersheim entstanden. Heute findet ein ähnliches Wachstum vor allem in dynamischen jungen Branchen statt, in der IT-Wirtschaft, in Biotechnologie, Nanotechnologie oder Mikrosystemtechnik. Die komplett neue Bildung eines solchen Clusters ist allerdings schwer: Hier spielt sich das meiste auf Laborebene ab, in Forschung und Entwicklung. Es gibt keine eigenständigen Wirtschaftszweige, die Nano- oder Biotechnologieprodukte herstellen. Die Unternehmen in diesem Bereich sind vielmehr technologische Zulieferer für schon bestehende Konzerne, die ihre Produkte mithilfe der Innovationen weiterentwickeln. Die Hauptabnehmer sitzen höchstwahrscheinlich also ganz woanders. Keine guten Aussichten für ein neues Cluster.

Und wohl auch düstere Aussichten für ländliche Regionen, die weder attraktive Metropolen noch große Unternehmen oder bedeutende Forschungsinstitute in der Nähe haben.

Böllhoff: Das stimmt, aber nur für den Fall, dass es unbedingt ein Hightech-Cluster sein soll. Aber das ist ja gar nicht nötig: Regionen können auch ohne Hightech Potenziale ausbilden. Die Logistik-Branche ist ein Beispiel. Hier lassen sich übrigens auch Jobs für niedrig qualifizierte Menschen schaffen, und das auch außerhalb der etablierten Metropolen. So ist es Leipzig etwa gelungen, durch kurze Genehmigungszeiten in Konkurrenz mit Brüssel und anderen namhaften europäischen Standorten den Zuschlag für den Bau eines Nachtfrachtflughafens zu bekommen.

Entscheidend ist, was eine Region aus ihren Stärken macht. Das zeigt auch der Vergleich zwischen Ostwestfalen-Lippe, traditionell ein Möbelzentrum, und der Westpfalz, einst Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Beides sind Branchen, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten einem hohen globalen Wettbewerbsdruck unterlagen. Die Möbelindustrie hat es geschafft, Premium-Marken aufzubauen und in Deutschland wettbewerbsfähig zu produzieren. Vielleicht hätte es auch für den Erhalt der Schuhproduktion um Pirmasens herum innovative Wege gegeben. Ich würde das zumindest nicht ausschließen.

Und was raten Sie denen, die von allem nur wenig und inzwischen sogar immer weniger Bürger haben?

Böllhoff: Es gibt auch in schlecht aufgestellten Regionen viele Möglichkeiten, das zeigt zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. Küstennah gibt es Chancen im Tourismus. In der Landwirtschaft können nachwachsende Rohstoffe zur Energieproduktion neue Chancen eröffnen: Anders als in den alten Bundesländern sind die Flächen in Ostdeutschland nicht parzelliert, das Land ist flach und ließe sich extensiv nutzen. Besondere Kompetenzen lassen sich immer finden. Es muss ja nicht ein international wettbewerbsfähiges Cluster im Maßstab von München sein.

Aber was soll eine Kommune machen, der die Menschen weglaufen? In Ostdeutschland bluten ganze Regionen aus. Allein der Unterhalt der Infrastruktur, die nach der Wende in Erwartung steigender Einwohnerzahlen oft überdimensioniert gebaut wurde, verschlingt Unsummen.

Böllhoff: Es gibt vielerorts Probleme, auch in westdeutschen Landstrichen. Aber ich bleibe dabei: Entscheidend ist, wie ich als Region damit umgehe. Ich kann jammern, oder ich kann schauen, wie ich aus der Situation das Beste mache. Das Beste kann manchmal bedeuten, dass ich mich gezielt aus einer schrumpfenden Region zurückziehe, das heißt, dass ich alte Wohngebäude abreiße, Schwimmbäder schließe, Kraftwerke stilllege und Schulen oder Kanalisationen zusammenlege. Das ist ein Ende ­ und kann ein neuer Anfang sein.

Vor der Wiedervereinigung sind in Ostdeutschland doch oft recht unattraktive Gebäude entstanden. Nehmen Sie Görlitz: Heute hat die Stadt rund 25 Prozent weniger Einwohner als zur Wendezeit ­ und sie hat das Schrumpfen als Chance genutzt, wieder attraktiver zu werden. Der Stadtkern wurde saniert, außen fällt der scheußliche Plattenbau-Ring weg, und plötzlich wird Görlitz als Wohnort wieder attraktiv. Rentner ziehen hin, um dort ihren Lebensabend zu genießen.

Die Versorgung der Alten als Cluster der Zukunft?

Böllhoff: Wieso denn nicht? Dafür würden vier Faktoren sprechen: Senioren bringen Kaufkraft, sie fragen einen alters- gerechten Wellness-Gesundheitsbereich nach, sie nutzen in ihrer Freizeit andere Dienstleistungen als die Senioren vor 20 Jahren ­ und sie bilden sich länger, weil sie länger leben. Schon heute ist klar, dass bald eine große Generation mit viel Vermögen alt wird und damit ein großer Markt entsteht. Daraus lässt sich etwas machen.

Wir vergessen immer, dass starke Regionen auch einen weiten Weg hinter sich haben. Wer erinnert sich beispielsweise daran, dass Bayern 1955 noch ganz unten war? Man kann die Dinge bewegen, mit der richtigen Einstellung lässt sich viel erreichen. Erfolg wird von Menschen gemacht, das gilt auch für die Entwicklung von Regionen.

Zukunftsatlas 2007:

Der Zukunftsatlas ist Anfang dieses Jahres zum zweiten Mal nach 2004 erschienen. Die Untersuchung der Prognos AG analysiert die demografischen und ökonomischen Bedingungen und Perspektiven aller 439 deutschen Kreise und kreisfreien Städte.

Insgesamt 29 Indikatoren, gewichtet nach "Stärke" und "Dynamik", sind in die Studie eingeflossen ­ sie reichen von der Kaufkraft über die Arbeitsplatzdichte oder die Investitionsquote der Industrie bis hin zur Entwicklung der Sozialhilfequote.

Die beiden Südpfalz-Landkreise Germersheim und Südliche Weinstraße wurden von den Forschern als Regionen mit Zukunftschancen bewertet, die kreisfreie Stadt Landau fällt unter die Rubrik "Region mit sehr hohen Zukunftschancen".