Die Evoluzzer

Evolution könnte die Revolution sein. Für den Unternehmer, der sich und seine Firma als Teil eines natürlichen Ausleseprozesses begreift. Und seinen strategischen Nutzen daraus zieht. Dafür muss aber herrschendes Gedankengut über Bord geworfen werden. Eine Vision vom Beginn des Aufruhrs:




Der Prophet sollte auf einer Apfelsinenkiste in Davos stehen, mitten im Foyer des World Economic Forums. Er könnte schreien: „Liebe Gemeinde, hört mich an! Es ist Zeit zur Umkehr.“ Hektische Betriebsamkeit würde verdutzten Gesichtern weichen. Die Unternehmensvertreter, Vorstände aus aller Welt, würden aufhorchen. Schlagartig würde Ruhe herrschen, weil so etwas hier noch nie vorgekommen ist. „Wahrlich, ich sage euch, es wird der Tag kommen, da werdet ihr begreifen, dass auch euer Dasein von Evolution bestimmt wird.“

Ratlose Gesichter natürlich, die Ersten tippen sich an die Stirn, jemand ruft nach dem Sicherheitsdienst. „Euer täglich Brot ist der Wettbewerb? Ihr redet von Anpassung? Von Fitness? Macht Kosten-Nutzen-Rechnungen, prüft Bilanzen, verkauft Lizenzen, entwickelt Strategien für höhere Effektivität?“ Zustimmendes Gemurmel. „Das ist Biologie. Nichts anderes ist seit 3,5 Milliarden Jahren im Gange. Gebt es doch zu: Ihr habt das Gefühl, orientierungslos in einem immer unüberschaubareren Chaos zu sein. Lieb gewonnene Regeln stimmen nicht mehr, der Zufall regiert. Aber die Evolution ist ein Zufalls-Managementprogramm.

Lasst mich in einem Gleichnis sprechen“, sagt der Prophet. „Ein Star sucht seine Würmer dort, wo er relativ sicher sein kann, dass er fündig wird. Wenn die Ausbeute schwindet, steigt das Risiko, zu wenige Würmer zu finden. Aber es ist auch ein Risiko, seine Energie in die Suche nach neuen Würmer-Quellen zu stecken.“

Vorsicht vor Analogieschlüssen

„Das ist genau unser Problem“, ruft ein Mann mit Cowboyhut und texanischem Akzent aufgeregt dazwischen. „Ja, auch Öl kann knapp werden.“ Zwischen den langen weißen Barthaaren des Mannes auf der Apfelsinenkiste ist ein Lächeln zu erkennen. „Die Frage ist, wann ist das Risiko zu bleiben größer als das Risiko, bei der Suche nach neuen Ressourcen erfolglos zu sein – oder von anderer Nahrung Bauchschmerzen zu bekommen. Die Evolution hat den Star mit einem Verhalten ausgestattet, das auf diese Risikoabstimmung hin angepasst wurde.“

„Ich halte nichts davon, die Begrifflichkeiten, die Darwin zur Erklärung der Evolutionstheorie aus der Wirtschaft entlehnt hat, jetzt wieder in die Wirtschaft zu reimportieren. Das erklärt nichts“, sagt jemand ganz ruhig. „Wer sind Sie denn?“, fährt ihn der Prophet an.

„Verzeihen Sie, mein Name ist Witt, Ulrich Witt, Jenaer Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen.“ – „Aber Sie sind doch selbst Evolutionsökonom, warum fallen Sie mir in den Rücken?“, jammert der Mann mit dem langen weißen Bart, der eigentlich gar nicht Prediger werden wollte. „Seht ihr denn alle nicht, was euch die Biologie zu bieten hat?“ – „Selbstverständlich, die Wirtschaft evolviert, und die kulturelle Evolution ist aus der biologischen hervorgegangen. Aber ich halte nichts von diesen Analogieschlüssen“, sagt Witt.

„Aber wenn Sie akzeptieren, dass Evolution in der Wirtschaft stattfindet, dann müssen Sie doch auch verstehen, dass evolutive Problemlösungen, die die Natur hervorgebracht hat, Ihnen weiterhelfen können“, fängt der alte Mann wieder an zu predigen. „Sie sollten die Zukunft gestalten, indem Sie die Evolutionsmechanismen von Mutation, Variation und Selektion, die es in der biologischen wie ökonomischen Evolution gibt, offensiv nutzen. Denken Sie evolutiv: Fassen Sie eine unternehmerische Idee, zum Beispiel das Klettergerüst neben einer Filiale der Fast-Food-Kette, als Gen auf. Bei Erfolg, also höheren Einnahmen der Filiale, bleibt es erhalten und kann sich in der Population der Filialen ausbreiten. Mutiert die Idee während dieser Verbreitungsphase zum Sandkasten oder zur Rutsche, hängt es wieder vom Erfolg ab, was sich durchsetzt. Ändern sich die Umweltbedingungen, vielleicht weil weniger Kinder Hamburger mögen, schwindet der Selektionsdruck auf diese Ideen-Gene, sie spielen für den Umsatz keine Rolle mehr und verschwinden.“

„Ich finde das einleuchtend“, ruft jemand dazwischen. „Mir hat mal ein Experte erklärt, die Blaupausen, nach denen Autos gebaut werden, das sind die Gene. Und die Autos, die gebaut werden, sind die Organismen, die Phänotypen ...“ – „Ach ja, und auf dem Hinterhof der Fabrik machen die Autos dann neue Blaupausen, oder was?“, erwidert Witt. Gelächter. „Was soll dann die Analogie, wenn sie nicht funktioniert? Was ist gewonnen? Wir sind doch intelligente Menschen. In der Evolutionstheorie von Genotyp und Phänotyp kommen Unternehmer oder Ingenieure nicht vor. Wir sollten uns überlegen, wie der Ingenieur arbeiten sollte, wie man ihn instruiert oder wie viele ein Unternehmen braucht. Eine Übertragung der biologischen Evolutionstheorie verschleiert diese Fragen nur.

Biologische und kulturelle Evolution sind nun einmal unterschiedlich. Organismen haben keine Möglichkeit, eine Mutation rückgängig zu machen. Der die Variation schaffende Mechanismus, das Mutieren von Genen, ist von der Selektion entkoppelt. Der Mensch jedoch kann seine Ideen, Organisationen und Strukturen jederzeit gezielt verändern oder ,mutieren‘, um der ,Selektion‘ zuvorzukommen“.

„Nun ja, Herr Witt, sicher sind auch Analogien lehrreich, aber ich gebe zu, Biologen müssen da vorsichtig sein“, sagt ein älterer Mann und drängt nach vorn. „Oh, darf ich vorstellen: Professor Hans Mohr, Freiburger Biologe und Erkenntnistheoretiker“, sagt der Prediger und lässt Mohr auf die Apfelsinenkiste. „Danke. Der New Yorker Nobelpreisträger von 1972 und Ökonom Professor Kenneth Arrow hat die Beiträge von Naturwissenschaftlern zur Ökonomik einmal als ,nicht immer, aber meist trivial‘ bezeichnet. Wenn wir zu ökonomischen Fragen Stellung nehmen, dann sollten wir das auf der Ebene biologischer Gesetzmäßigkeiten tun, die auf ähnliche Phänomene in der Wirtschaft übertragen werden können, ich nenne das Isomorphien.“

Besser Führen mit evolutiver Ökonomik

„Welche biologischen Gesetze könnten uns denn schon helfen?“, ruft jemand. „Das Paradebeispiel ist die logistische Funktion, die Wachstumsfunktion“, erwidert Mohr. „Die S-Funktion, die unabhängig voneinander sowohl in der Biologie als auch in der Ökonomie entdeckt wurde. Diese S-Funktion wird mit atemberaubender Präzision von den verschiedensten Organismen eingehalten. Zum Beispiel wächst ein Maisfeld in einer solch strengen Weise nach der logistischen Funktion, dass nach der Hälfte des Wachstums der Tag der Ernte genau vorausberechnet werden kann.“

In der Wirtschaft könne man das gut am Beispiel des Energiebedarfs zeigen, erzählt Mohr. „Ich habe beispielsweise die Elektrizitätswirtschaft dringend davor gewarnt, das Wachstum der achtziger Jahre zu extrapolieren, und stattdessen empfohlen, einen logistischen Wachstumspfad ins Auge zu fassen. Heute beklagt die Branche ihre Überkapazitäten. Man hat die S-Funktion ignoriert. Mit evolutiver Ökonomik könnte man Unternehmen heute besser führen.“

„Wenn ihr unbedingt auf Formeln hinauswollt, es gibt viele solcher Gesetzmäßigkeiten“, sagt der Prophet. „Die Biene kann sich zum Beispiel nur dann den Magen wirklich mit Nektar voll schlagen, wenn die Abstände zwischen den einzelnen Blüten nicht zu groß sind. Energiegewinn und -kosten werden so bilanziert, dass die Biene manchmal nur mit halb vollem Magen nach Hause fliegt, denn die Kosten steigen mit der pro Blüte benötigten Zeit. Deshalb geht es darum, Nektar so effektiv wie möglich zu gewinnen. Die Evolution hat die Biene auf Effektivität, nicht auf Selbstausbeutung getrimmt. Das muss einigen hier doch zu denken geben? Das ist eine über Jahrmillionen erfolgreiche Strategie, die noch dazu kurzfristig satte Erträge ermöglicht.“

Verlegenes Gemurmel. „Ein anderes Beispiel ist der Faunen- und Florenschnitt vor etwa 65 Millionen Jahren, an der Wende von der Kreide zum Tertiär. Damals sind viele der riesigen Baumarten, die das Erdmittelalter beherrscht haben, ausgestorben. Danach hat die Evolution auch im Pflanzenreich die Strategie gewechselt und auf Kurzlebigkeit und krautige Gebilde gesetzt. Es kam zu einer geradezu explosiven Entwicklung der modernen Angiospermen mit geringer Verholzung und rascher Generationenfolge. Es wurde jetzt billig und für eine kurze Lebensdauer – ein oder zwei Jahre – gebaut. Mit durchschlagendem Erfolg. Die Biologen nennen das: survival of the cheapest.“

„Die Folge der Kurzlebigkeit war eine Beschleunigung der sexuellen Fortpflanzung. Die Gene konnten schneller ausgetauscht werden, wodurch sich die Anpassungsfähigkeit beschleunigte“, erklärt der alte Mann. „Danke, Kollege. Der normale Menschenverstand suggeriert doch, dass so ein riesiger Mammutbaum etwas Wunderbares sein muss. Aber man hat da in Wirklichkeit einen Verlierer der Evolution vor sich. Davon können doch auch Manager großer Konzerne lernen. Die rasche Neukombination von Wissen, die Flexibilität, ist langfristig erfolgreicher als reine Größe.“

Gemischte Strategien sind die Lösung

„Aber neben den billigen krautigen Pflanzen haben sich im Reich der Angiospermen auch aufwendige und langlebige Bäume etabliert: ein Beispiel für multiple Strategien. Einseitige Strategien sind im Laufe der Evolution immer an die Wand gefahren“, sagt Mohr und hebt den Finger: „Gemischte Strategien sind die Lösung. Das gilt auch für das Verhalten des Menschen. Eine Population, die nur aus Egoisten besteht, ist nicht lebensfähig, aber auch eine Population von Altruisten ist evolutiv im Nachteil. Erst eine geschickte Mischung erlaubt die optimale Entwicklung menschlicher Populationen. Und das ist keine politische Behauptung, sondern ein wissenschaftlich sehr gut begründbarer Satz.“

„Aber in die Zukunft können Sie trotzdem nicht sehen, schließlich lässt sich der Lauf der Evolution nicht vorhersagen“, spottet der Vorstand einer großen Bank.

„Natürlich sind Evolution und Planung ein Widerspruch in sich“, sagt ein junger Mann, der lässig an der Wand lehnt. Thorsten Hens ist an der Universität Zürich Professor für empirische Wirtschaftsforschung und hat Evolutionary Finance entwickelt, für das sich bereits die großen Investmentbanken von Credit Suisse First Boston bis Merrill Lynch interessieren. Mit der Adamant Biomedical Investments AG in Basel entwickelt der Deutsche zurzeit den Evol Life Science Fund, mit dem Liechtenstein Global Trust ein Evolutionary Asset Management. „In der biologischen Evolution gibt es einen Zufallsprozess von Mutationen. Nun wäre das an sich nicht dumm, wenn das Fitnesskriterium, nach dem die Strategien bewertet werden, stabil bleiben würde. Dann müsste man nur lange genug mutieren, und schließlich wäre man am Ziel angelangt. In der biologischen Evolution hängt der strategische Erfolg jedoch vor allem von der sich wandelnden Umwelt und der Zusammensetzung des Pools von Strategien ab. Das zu erreichende Ziel ändert sich also ständig. Die Evolution begibt sich deshalb immer wieder in Situationen, die zwar eine Zeit lang stabil sind, aber letztlich doch wieder verworfen werden. „Das“, sagt Hens und wirft dem Propheten einen Spielzeug-Dinosaurier zu, „ist ein gutes Beispiel. Die Bedeutung der Evolution für die Wirtschaft liegt meines Erachtens eher darin, dass sie uns für unsere strategische Planung bessere Modelle liefert, mit denen wir die Wirklichkeit abbilden können. Denn die wollen wir ja durch Planung verändern.“

Die Illusion vom stabilen Gleichgewicht

„Bisher wird auf dem Finanzmarkt doch mit klassischer Mechanik gearbeitet“, spottet Hens. „Ihr glaubt an ein stabiles Gleichgewicht, wie etwa den Ruhepunkt eines Pendels, zu welchem die Märkte nach exogenen Schocks immer wieder zurückfinden. Euer Problem ist, dass sich das Gleichgewicht, zu dem die Kurse zurückfinden sollen, permanent verschiebt. Ihr jagt also einem ,moving target‘ hinterher. Solche traditionellen Modelle können nicht vorhersagen, wohin sich das Gleichgewicht verschiebt und wie lange es noch dauern wird, bis man sich wieder dorthin bewegt.“

Jetzt werden die Umstehenden unruhig, wer hinten stand, versucht weiter nach vorn zu kommen, um besser zu verstehen, was Hens sagt. „Und mit Hilfe der Evolution können Sie das vorhersagen?“, fragt eine Brokerin. Hens zwinkert ihr zu. „Evolutionäre Modelle gehen davon aus, dass es nicht das eine stabile Gleichgewicht gibt, sondern eine Abfolge von kurzfristig stabilen Zuständen, die einem permanenten Wandel unterworfen sind. Traditionelle Modelle gehen vom rationalen Verhalten der Anleger aus. In evolutionären Modellen gibt es eine große Vielfalt von Verhaltensregeln, basierend auf den Vorstellungen, die die Investoren vom Finanzmarkt haben. Aus diesen Vorstellungen werden dann verschiedene Anlageentscheidungen bestimmt, auf die verschiedene Kräfte wirken. Zum einen die Marktselektion, die darauf beruht, dass der Spekulationsgewinn einer Strategie aus dem Verlust einer anderen Strategie kommen muss. Zum anderen das Lernverhalten der Investoren, die den Erfolg ihrer Strategie mit dem anderer Strategien vergleichen und gegebenenfalls die Strategie anpassen. Schließlich gibt es Mutationen, also nicht intendierte Änderungen der vorhandenen Strategien.“ Hektisches Mitschreiben, Diskussionen setzen ein, jemand tuschelt: „Und welches ist nun die bestangepasste Strategie?“ Gespannte Stille.

Gute Strategien haben eine begrenzte Lebensdauer

„Es gibt in Finanzmärkten keine Strategie, die schließlich irgendwann funktionierte, wenn man nur lange genug optimierte.“ Stöhnen. „Der Markt befindet sich in einem permanenten Wandel, jede Strategie funktioniert nur eine Zeit lang. Logisch, denn keine Strategie kann mehr funktionieren, wenn sie jeder anwendet. Schließlich rührt der Spekulationsgewinn einer Strategie vom Verlust der anderen. Daher muss man permanent Frontrunning betreiben und immer wieder neue Strategien ausprobieren.“

„Ich freue mich, dass einige begriffen haben, worauf ich hinauswill“, sagt der Prophet. „Dürfte ich, bitte schön, etwas ergänzen?“, fragt Franz Wuketits, Evolutionsbiologe und Wissenschaftstheoretiker von der Universität Wien. „Ich stimme zu, biologische und ökonomische Evolution sind sich sehr ähnlich. Organismen wie Unternehmen können etwas gewinnen und verlieren. Und zumindest kurzfristig lassen sich evolutive Anpassungsvorgänge sogar vorhersagen. Aber die Evolution läuft auch gern in Sackgassen, wie Herr Hens schon erwähnte“, sagt Wuketits und nimmt dem Propheten den Dinosaurier aus der Hand. „Für die Selektion spielt nur der kurzfristige Erfolg eine Rolle, denn sie wirkt immer opportunistisch und nicht in weiser Voraussicht. Was sich heute bewährt, ist morgen vielleicht ein Nachteil. Nehmen’s den Panda. Das ist eigentlich eine Fehlkonstruktion, im Nachhinein betrachtet: Ein extremer Spezialist, bei dem alles auf die Ernährung mit Bambussprossen ausgerichtet ist. Er muss zwei Drittel des Tages fressen, da seine einzige Nahrung sehr nährstoffarm ist. Der Vorteil, vor ein paar Millionen Jahren an die Bambuswälder angepasst gewesen zu sein, ist der Nachteil von heute.“

Extreme Spezialisierung zahlt sich langfristig nicht aus

„Es gibt in der Evolution eben keinen Bremsmechanismus, der solche Entwicklungen rechtzeitig verhindern könnte“, fährt Wuketits fort. „Aussterben ist in der Evolution die Regel. 99,9 Prozent der Arten sind im Laufe der Evolution ausgestorben. In der kulturellen Evolution hätten wir die Möglichkeit einer Bremse durch die Möglichkeit rationaler Planung. Ob wir das immer wahrnehmen, ist eine andere Frage. Daraus erklärt sich auch, warum Misch-Strategien bei sich schnell ändernden Umweltbedingungen von Vorteil sind. Die Strategie des Generalisten, der nichts perfekt, aber vieles ein bisschen kann, ist auch ökonomisch sinnvoll.“

„Warum gibt es dann nicht nur Generalisten?“, ruft jemand dazwischen. „Weil der Generalist die Möglichkeiten der Nische nicht voll ausschöpft“, antwortet Wuketits. „Darin liegt die Ressource des Spezialisten. Mittel- bis langfristig ist eine extreme Spezialisierung aber meist von Nachteil. Die Flexibilität, auf rasche Umweltänderungen einzugehen, schwindet.“

„Das Beste, was wir mit dem Evolutionsgedanken lernen können, ist die Tatsache, dass jedes Unternehmen seine Ontogenese hat“, sagt Witt. „Manager denken bisher statisch, aber ständige Veränderung ist normal. Das Management muss Wandel nicht nur herbeiführen, es muss dem Wandel auch begegnen können.

Darin liegt das Potenzial evolutionärer Ansätze: nicht selbst Evolution im Unternehmen generieren, sondern das Umfeld definieren, das evolviert und das der einzelne Firmenorganismus mit einem natürlichen Lebensprozess durchlebt. Wandel muss exogen und endogen von den Unternehmen verarbeitet werden. Macht euch klar, dass Unternehmen lebende Organismen sind, das ist die Botschaft.“

„Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Carsten Herrmann-Pillath von der Universität Witten/Herdecke“, drängelt sich jemand nach vorn. „Es wäre schon eine Revolution, wenn sich evolutionäres Denken endlich gegenüber der Vorstellung von Gleichgewichten und der Möglichkeit der Optimierung durchsetzen würde. Dann würden wir begreifen, dass der Markt nicht Mittelpunkt, sondern Teil eines komplexen soziokulturellen Netzwerkes ist.“

„Geschwafel“, tönt es aus der Menge. „Ach ja? PR-Strategen denken bisher sogar nur in Marktsegmenten. Und wundern sich, dass sie bei einer Panne plötzlich im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses stehen. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass Manager bisher völlig vernachlässigt haben, dass ihre Mitarbeiter Menschen mit unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Prägungen sind. In einem neuen Studiengang Diversity Management wollen wir zeigen, wie man das als Ressource nutzen kann. Ford hat schon lange viele türkische Mitarbeiter im Unternehmen, warum wird deren soziales Wissen nicht für die Produktentwicklung genutzt? Auch das ist ein evolutiver Ansatz, der nicht auf der Ebene der Selektion, des Wettbewerbs, sondern auf der Ebene der Variation ansetzt.“ „Evolution ist aber nicht nur Vielfalt, sondern ein Zusammenspiel von Bewahren und Verändern“, sagt Witt. „Schließlich tun Firmen meist das, was sich bewährt hat – aus gutem Grund. Denn Evolution erlaubt ungeheuer viel teure Redundanz. Selektion heißt auch Verlust, den muss man sich erst einmal leisten können.“

Der schwierige Weg zu einer universellen Evolutionstheorie

„Sehen Sie, Herr Witt, auch das lässt sich direkt aus der Biologie ableiten: am Beispiel der Regulatorgene“, sagt Hans Mohr. „Sie meinen Gene, die zentrale Vorgänge in der Zelle steuern und die sowohl bei Insekten als auch bei Wirbeltieren seit 500 Millionen Jahren fast unverändert sind“, hilft der Prophet aus. „Richtig, das sind sozusagen die besonders konservativen Elemente der Evolution – aus gutem Grund. Wenn ich bestimmte Strategien der Regulation gefunden habe, die genau auf das gegebene System passen, dann sollte ich unbedingt dabei bleiben und nicht jeden Morgen darüber nachdenken, was ich besser machen könnte.“

An der anderen Seite des Foyers steigt jemand mit hochrotem Kopf auf einen Stuhl und schreit: „Geschmuse mit Naturwissenschaftlern! Ihr habt einfach kein Vertrauen in die eigene Disziplin, sondern Sehnsucht nach naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten für geisteswissenschaftliche Probleme.“ Mohr bleibt ruhig. „Wir Naturwissenschaftler haben Methoden entwickelt, um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Damit können wir den Ökonomen etwas Substanzielles an die Hand geben. Aber die Grundentscheidung müsst ihr selbst treffen: Ohne das Bekenntnis zum strikt naturalistischen Ansatz lassen sich die biologische Evolutionstheorie und die Evolutionsökonomik nicht kombinieren. Wenn die Ökonomen die Mechanismen der kulturellen Evolution ausschließlich aus ihr selbst heraus erklären wollen, dann gibt es keine Chance, zu einer universellen Evolutionstheorie zu kommen.“

Wer lernen will, kann lernen

„Herr Mohr, wir sollten nicht zu viel verlangen. Liebe Gemeinde“, wendet sich der alte Mann wieder an die Umstehenden, „alles, wozu ich euch auffordern will, ist: Setzt euch mit den Lösungen auseinander, die die Natur bietet, denn eure Probleme sind wahrlich schon oft bewältigt worden.“

Stille. Sicherheitsbeamte stürmen durch die Tür. Die Menschenansammlung löst sich auf, Gemurmel setzt ein, die Zuhörer gehen weiter, in kleinen Gruppen oder einzeln, die nächste offizielle Veranstaltung fängt gleich an, der alte Trott kehrt zurück. Der Prediger wird vom Parkett geschleift. Die Apfelsinenkiste bleibt stehen – vielleicht steigt ja bald schon jemand Überzeugenderes drauf.

Links und Literatur:

http://www.evolutionaryeconomics.net
Internetseite von Carsten Herrmann-Pillath an der Universität Witten/Herdecke zur Evolutionären Ökonomie, auf der auch sein Buch „Grundriss der Evolutionsökonomik“ einzusehen und online kommentierbar ist.

Ulrich Witt: The Evolving Economy. Edward Elgar Publ., Cheltenham UK, 2003

Franz Wuketits: Handbook of Evolution – Volume I – The Evolution of Human Societies and Cultures. Wiley-VCH, Weinheim, Dezember 2003; 300 Seiten; 179 Euro

Christopher Meyer, Stan Davis: It's Alive – The Coming Convergence of Information, Biology and Business. Crown Business, 2003; 288 Seiten; 19,25 Dollar

Hans Mohr: Biologie und Ökonomik – Chancen für eine Interdisiplinarität. In: Ulrich Witt: Studien zur Evolutorischen Ökonomik I. Berlin, Duncker und Humblot, 1990; 255 Seiten; 36 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.