Überleben im Netz

Die Idee vom virtuellen Unternehmen, zu dem sich viele Kleine zusammenschließen, um es den Großen zu zeigen, war schön, aber unrealistisch, meint Professor Christian Scholz. Der Wirtschaftswissenschaftler fordert mehr Realismus und einen Neubeginn: die virtuelle Verbundorganisation Version 2.x. Ein Essay.




Wie schön das doch alles in den frühen neunziger Jahren klang: Unabhängige Experten verbinden sich in einem regionalen oder noch besser in einem globalen Cluster zu einem lockeren Verbund. Diese virtuelle Organisation bietet dem Einzelnen Freiraum und schafft gleichzeitig eine mächtige Einheit, die es auch mit den Großen der Branche aufnehmen kann. Die Zauberworte damals hießen „Netzwerkorganisation“ und „virtuelles Unternehmen“ – die Business Week druckte die Definition des neuen Unternehmer-Schlagworts 1993 sogar auf der Titelseite. Wichtiger Aspekt schon damals: die Verbindung der unabhängigen Einheiten durch Informationstechnologie. Auch der Autor dieses Beitrages gehörte zu den ersten überzeugten Protagonisten der Organisationsform und steht noch immer dazu. Aber seitdem hat sich vieles verändert. Einiges hat sich bewährt. Und über so manches muss gründlich nachgedacht werden.

Euphorischer Start in die Virtualisierung

Zu den Favoriten jener neuen Netzwerkorganisation gehörten damals wie heute die Politiker. Ihre simple und deshalb publikumswirksame Idee: Setze mehrere kleine, erfolglose Firmen in eine Industrie-Ruine, nenne das Ganze Innovationszentrum, streue Subventionen darauf und wie von Zauberhand wächst aus dieser Saat der Erfolg. Die Logik derartiger Zentren ist uninteressant. Nur die Zahl der Unternehmen, die vor Ort gegründet werden, ist wichtig – viel wichtiger als beispielsweise die Frage, ob eine Firma überlebt, wenn der Staat seine Hilfe einstellt.

Die ursprünglichen Netzwerke, egal, ob regionales Cluster oder echtes virtuelles Unternehmen, suchten Synergie. Die einfache Formel: Wenn mehrere Partner gemeinsam etwas machen, wird der 2+2=5-Effekt in Kraft gesetzt und alle profitieren davon. Dieser Mythos Synergie war und ist noch immer so groß, dass es offenbar keine Rolle mehr spielt, wer sich da zusammenschließen will. Es gilt allein die Devise: Gemeinsam sind wir stark! Was ungefähr so richtig ist wie der Plan, die Fusion von zwei Einbeinigen führe zu einem Olympia-Sprint-Sieger.

Zweite Annahme: unbegrenzte Kompatibilität. Unabhängige Partner mit unterschiedlicher Kultur und verschiedenen Zielen gemeinsam in einer Netzwerkorganisation? Kein Problem, solange nur alle kommunikativ, offen und kooperativ sind. Wenn sie das nicht sind, braucht es nur etwas Training und einen guten Moderator. Dann wird das schon.

Weit verbreitet war auch die Annahme der Rationalität: Man unterstellte, dass Teilnehmer in diesem Netzwerk sich getreu dem Menschenbild des Homo oeconomicus verhalten. Der denkt und handelt logisch, also kann man auch gut mit ihm umgehen.

Und schließlich eine kleine, eigentlich triviale Annahme zur IT-Qualität: Bei allen Überlegungen zur Bildung der neuen Netzwerke war man sich sicher, dass die Informationstechnologie mithalten und auf keinen Fall einen Engpass bilden würde. Aber es kam alles anders, und zwar gründlich. Unternehmenskooperationen sind sicherlich eine gute Idee, nur leider sind die genannten Annahmen offenbar nicht erfüllbar.

Woran es hapert?
Unternehmerisches Handeln ist geprägt von Angst vor Kontrollverlust. Gleichgültig, wohin man schaut: Ob Banken oder Computerfirmen, ob Automobilhersteller, Fluglinie oder Bäckerei – in jeder Branche wurden Netzwerk-Kooperationen ausschließlich als ein Zwischenschritt zur Übernahme gesehen. Fast immer stellte sich die Frage, welcher Partner wie schnell groß genug sein würde, den anderen zu übernehmen.

In Arbeiten zu Netzwerkorganisationen wurde viel geschrieben von Vertrauenskultur. Die Praktiker applaudierten – schließlich glaubten sie schon lange, was nun endlich schwarz auf weiß dokumentiert war: Vertrauen ist der Anfang von allem. Anders die Forschung. Sie antwortete mit einem kollektiven Aufschrei, hielt Vertrauenskultur für eine Fiktion. Leider behielten die Forscher Recht. Vertrauen? In einen Wettbewerber? Einen potenziellen Konkurrenten? Im Prinzip ja. Die meisten glühenden Verfechter haben inzwischen sehr schlechte Erfahrungen mit der Ehrlichkeit von lockeren Kooperationspartnern gemacht.

Dritte Beobachtung: begrenzte Rationalität. Vielleicht muss man wirklich etwas aus dem Rahmen fallen, um geschäftlichen Erfolg zu haben. Schaut man sich die so genannten neuen Stars aus der Szene der Firmengründer an (sofern es sie überhaupt noch gibt), so sind das oft Primadonnen, die sich hypernarzistisch selbst inszenieren. Sie sind die Größten, ob im Sport, in der Musik oder in der Kunst, und keiner traut sich, ihnen die Wahrheit zu sagen. Kein Wunder also, dass viele der einst hoch gehandelten Lieblinge von Börse und Presse im bisweilen ruppigen Unternehmeralltag scheiterten und Insolvenz anmelden mussten.

Die Kursstürze am Neuen Markt sind allerdings nicht nur auf überforderte Manager und falsche Geschäftsmodelle zurückzuführen – die Technologie hat nicht mitgehalten. Auch ihre Vermarktung ist unzulänglich. Solange wir zwar große Werbeanzeigen für High-Speed-Verbindungen lesen, sie aber nicht überall verfügbar sind, bleiben wir in der IT-Steinzeit.

Die Gretchenfrage

Unterstellt, die zuvor beschriebenen Erkenntnisse stimmen zumindest teilweise, drängt sich die Grundsatzfrage auf: Können Menschen mit Großartigkeitswahn, mit Misstrauen und pathologischer Angst vor Kontrollverlust in einem Netzwerk kooperativ miteinander arbeiten? Natürlich nicht. Was aber ist die Alternative? Wie sieht sie aus, die virtuelle Verbundorganisation Version 2.x?

Als Erstes muss sich die Förderpolitik ändern. Denn: Ist die Kooperationsidee gut, wird es für sie finanzielle Mittel geben – ist sie schlecht, braucht sie auch kein Geld vom Staat. So einfach. Wäre das Praxis, würden automatisch all diejenigen Unternehmer von der Bildfläche verschwinden, denen es ohnehin nur um Subventionen geht. Politiker, Wirtschaftsförderer oder Bürokraten, die ihr Selbstwertgefühl daraus ableiten, Unternehmen für den Einzug in ein Gründerzentrum zu bezahlen, sind nicht mehr zeitgemäß.

Das Zweite, was wir brauchen, sind verstärkte Marktmechanismen – und zwar im Netzwerk ebenso wie im Einzelunternehmen. Marktradikalität als Steuerungsmechanismus erscheint gegenwärtig als einzig denkbare Möglichkeit, um Netzwerkorganisationen vorwärts zu treiben.

Notwendig ist, drittens, ein Umdenken bezüglich der Einstellung zu Partnern. Sie sind keine Altruisten, die aus Menschenfreundlichkeit kooperieren. Jeder Partner ist ein ebensolcher Opportunist wie man selbst. Netze dienen in erster Linie der eigenen Optimierung. Erst wenn diese Grundhaltung klar ist, werden die primadonnenhaften Vorreiter in ihrem exklusiven Stellenwert beschnitten. Dann versuchen sich auch die anderen – offen und legitim – zu optimieren und sind nicht länger bereit, dem einen Star zu dienen, der die Uneigennützigkeit predigt, in Wirklichkeit aber das Netz zu seinem eigenen Zweck instrumentalisiert. Das muss jedem Partner klar sein: Nur wenn jeder den eigenen Nutzen anstrebt, trägt er damit letztlich zum Wohl des gesamten Netzes bei.

Entscheidend für das Funktionieren des virtuellen Verbundes ist schließlich die Verbindung der Partner oder – wie es Amerikaner nennen – die Formel für den sozialen Klebstoff. In der Vergangenheit wurden Informationsmedien zum reinen Datenaustausch verwendet. Emotionale Botschaften, Bilder, künstliche Welten oder auch nur Farben spielten eine untergeordnete Rolle. Gab es Kommunikationsprobleme, wurde der Kommunikationstherapeut gerufen. Genau das aber muss in der Netzwerkorganisation Version 2.x anders werden. Netze brauchen eine Verbindung und eine logische Klammer, die weiter reicht als bis zur vagen Hoffnung auf gemeinsamen Reichtum. Es gilt, durch Diskussion eine soziale Identität und durch Interaktion eine gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen. An diesem Punkt steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen, beginnt aber langsam loszulaufen.

Auch wenn sich die Konjunktur schlagartig erholen würde, der alte Traum der virtuellen Organisation würde sich nicht realisieren lassen.

Vielmehr gilt es, die Organisationsform, ob man sie nun virtuelles Unternehmen, Netzwerkorganisation oder Cluster nennt, auf die wesentlichen Konzeptbestandteile zurückzuführen und in ein realistisches Bild von Menschen und Märkten zu stellen – woraus sich dann der erhoffte Erfolg für die Netzwerkpartner ableitet.

Der realistische Blick für das Überleben in Netzwerken heißt darüber hinaus: Verlasse dich weder auf die Füllhörner der Politik noch auf den guten Willen deiner Netzwerkpartner. Sicher ist allein die Existenz des harten Wettbewerbs. Wer sich dem stellt, immer neu um Lösungen ringt und Qualität produziert, wird auch den Wettbewerb überleben. Was heißt Wettbewerb eigentlich? Die Besten kommen durch. Genau darauf zielt die Version 2.x der virtuellen Organisation.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.