Kleine Größen

Dick, dünn, groß, klein, schwarz, weiß – Menschen sind verschieden. Doch für alle gab es bisher nur die Standard-Pille. Die hilft bestimmt, dachte man. Tut sie oft aber auch nicht.
 Jetzt wird der Patient vermessen, bevor die Therapie gewählt wird. Das klappt noch nicht immer. Aber immer öfter.




Irgendwann danach steht sie in der Dessous-Abteilung eines Kaufhauses. Was der Arzt im Detail gesagt hat, erinnert sie nicht. In ihrem Kopf war nur das eine Wort: Brustkrebs. Sie hatten einen Tumor gefunden. Rechts. Nun steht sie da und greift wahllos nach Büstenhaltern in kleinen Größen.

Sandra Kern* ist 56 Jahre alt. Seit der Diagnose ist ein Jahr vergangen, doch kleinere BHs braucht sie bis heute nicht. Die Ärzte an der Berliner Universitätsklinik Charité konnten den Tumor brusterhaltend entfernen. Auf die Operation folgte eine Strahlentherapie. Von der üblichen Chemotherapie riet man ihr ab. „Die haben da irgend so einen Test gemacht“, sagt Kern.

Tatsächlich hat die Ladenbesitzerin aus Berlin – ohne es so recht zu bemerken – von einem Behandlungskonzept profitiert, das die einen als plumpes Marketing abtun, während es andere als Revolution feiern: personalisierte Medizin. Hinter diesem Schlagwort steckt die Idee, die Krankheit eines Patienten möglichst so exakt zu diagnostizieren, dass ihm genau die Therapie verordnet werden kann, die am besten zu ihm passt.

Nun geht der Laie ja davon aus, dass genau das bei jedem Arztbesuch passiert, weshalb Professor Peter M. Schlag, Direktor des Krebszentrums der Charité, die personalisierte Medizin konzeptionell auch „neuer Wein in alten Schläuchen“ nennt. Ärzte hätten sich schon immer bemüht, ihre Patienten so individuell wie möglich zu behandeln, sagt er. Was aber nicht bedeute, dass sich in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren nicht viel getan hätte.

Neue Werkzeuge, mit denen die Vorgänge in den Krebszellen einzelner Patienten besser beobachtet werden können, versetzen Mediziner heute in die Lage, vielleicht nicht unbedingt personalisiert, aber doch sehr viel zielgerichteter zu behandeln, sagt er. Denn wer die individuelle Ausprägung bestimmter Gene, Proteine oder Zellen eines Tumors und auch die sonstigen biologischen Eigenheiten des Patienten lesen kann, der könne auch die am besten passende Therapie auswählen: „Bislang konnten wir mithilfe von Studien nur abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Standard-Therapie einem bestimmten Patienten helfen könnte“, sagt der Chirurgische Onkologe. Wenn jetzt bei einem Patienten zum Beispiel eine bestimmte Proteinstruktur auf der Zelloberfläche seiner Tumorzellen fehle, sei das ein klares Zeichen gegen den Einsatz eines Medikaments, das dieses Protein braucht, um zu wirken.

Sandra Kern traf die Diagnose „Brustkrebs“ nicht unvorbereitet. Großmutter und Tante waren an der Krankheit gestorben, als Risikopatientin ging sie in den vergangenen 15 Jahren jedes Jahr zur Mammografie. „Und Ende April 2010 war da was.“ Es dauerte nicht lange, dann hatte sie Gewissheit. Und in der Klinik als Gegenüber eine junge Ärztin, die ihr unmittelbar nach der Diagnose von einer Studie erzählte, an der sie unbedingt teilnehmen solle.

Was Kern zunächst verunsichert, wird ihr später bei der Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie helfen – jenen Cocktail aggressiver Gifte, der alle schnell wachsenden Zellen zerstört, seien es gesunde Haarwurzelzellen oder wuchernde Krebszellen. Die Chemo ist ziemlich genau das Gegenteil einer zielgerichteten Therapie, und doch ist sie bis heute Standard für die meisten Brustkrebspatientinnen. Mit ihrer Hilfe sollen nach der Operation eventuell verbliebene Krebszellen abgetötet werden, um Rückfälle zu verhindern. Inzwischen mehren sich jedoch die Hinweise, dass manche Frauen gar nicht davon profitieren und unnötig Nebenwirkungen ertragen müssen.

Ob eine Patientin zu der einen oder anderen Gruppe gehört, lässt sich neuerdings in vielen Fällen herausfinden. Dazu wird eine Probe ihres Tumorgewebes einem Gentest unterzogen, den die US-Biotechfirma Genomic Health entwickelte: Oncotype DX. Der Test untersucht die Aktivität von 21 Genen, die in die Entstehung und Entwicklung einer Brustkrebserkrankung involviert sind. „Wir nehmen damit einen genetischen Fingerabdruck des Tumors“, erklärt Gerald Wiegand, der Deutschland-Chef des Unternehmens. Durch Vergleiche mit den Krebssignaturen von Tausenden Gewebeproben amerikanischer Brustkrebspatientinnen und deren Krankheitsverläufen kann das Unternehmen zwei statistische Aussagen treffen. Für Sandra Kern bedeutet das: Welches Rückfallrisiko hat sie? Und: Ist eine Chemotherapie bei ihrer Tumorbiologie sinnvoll oder nicht?

Gefrierschrank für Gewebeproben
Stickstofftank für die Lagerung von Gewebeproben

Erst Test, dann Therapie

Wo die Mediziner bislang auf Erfahrung, Wahrscheinlichkeit und Hoffnung bauen mussten, lassen sich heute valide Entscheidungen treffen. Das Ergebnis: Bei knapp 40 Prozent aller Patientinnen revidieren die Ärzte nach dem Test ihre Empfehlung für eine Chemotherapie, zitiert Wiegand aus Studien. Diesen Frauen bleibt die Prozedur erspart. Andererseits wird etwa einem Viertel der Patientinnen, denen man ursprünglich abriet, nach dem Test eine Chemotherapie empfohlen. Das Produkt vermeide also sowohl Über- als auch Untertherapie, sagt Wiegand, was insgesamt betrachtet zu einer knapp 20prozentigen Netto-Reduktion von Chemotherapien führe. Knapp 4000 Frauen hierzulande haben Oncotype DX, das seit mehr als zwei Jahren auch in Deutschland erhältlich ist, bislang in Anspruch genommen.

Kern erfährt ihr Testergebnis kurz nach der Operation. Die junge Ärztin, deren Eifer sie zunächst überfordert hatte, teilt ihr mit, dass eine Chemotherapie bei ihrem Brustkrebstyp unnötig sei, und rät stattdessen zu Bestrahlungen. Auch diese Behandlung ist eine Tortur. Die von den Strahlen verursachten Verbrennungen sind schmerzhaft, zudem fühlt sich Kern ständig müde und erschöpft, selbst Lesen oder Reden ist zu anstrengend. „Ich war wie ein Häufchen Nüscht“, sagt die Berlinerin. Doch die Entscheidung gegen die Chemotherapie stellt sie bis heute nicht infrage.

Das ist ein Problem der jungen personalisierten Medizin, sagt Professor Jochen Maas, Forschungschef der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, den das Thema seit Langem umtreibt: Die moderne Diagnostik könne Patienten zwar von einer für sie nicht nützlichen Therapie ausklammern – ein personalisiertes Alternativangebot könne man diesen Aussortierten, den sogenannten Non-Respondern, heute aber noch nicht machen. Natürlich ist es bereits ein großer Vorteil, Patienten unnötige Behandlungen und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu ersparen. „Das Ziel ist aber nicht, zwischen Respondern und Non-Respondern zu unterscheiden, sondern eine passende Therapie für jeden Patienten anzubieten.“ Doch so weit sei man noch nicht.

Im Moment begnügt sich die personalisierte Medizin noch damit, die Krankheit, die bislang pauschal Brustkrebs heißt, genauer zu definieren, um sie dann spezifischer behandeln zu können. Mittlerweile lassen sich Dutzende Arten von Brustkrebs unterscheiden und Patientinnen in Subpopulationen einteilen, in „kleine Größen“. Sandra Kerns Krebs ist „hormonrezeptor-positiv, östrogenrezeptor-positiv und HER2-neu-negativ“ – die komplexe Signatur aus molekularbiologischen Diagnosen beschreiben dem Arzt die besondere Beschaffenheit des Tumors und damit auch die möglichen Angriffspunkte für eine zielgerichtete Therapie.

Fingerabdruck vom Tumor

Für Onkologen wie Peter Schlag tritt die Herkunft des Krebses damit teilweise in den Hintergrund. Ob Dickdarm-, Magen-, Lungen- oder Brustkrebs ist oft nicht mehr die vorrangige Frage – entscheidend für die Behandlung ist auch der molekulare Fingerabdruck, die Signatur des Tumors. Diese Signatur kann sich bei Tumoren an unterschiedlichen Organen sogar ähneln.

So hatte die Medizin etwa einen seltenen Darmtumor namens Gist (Gastro-Intestinaler Stroma-Tumor) jahrzehntelang für einen Weichgewebstumor gehalten und entsprechend behandelt – ohne Erfolg. Erst die molekularbiologischen Untersuchungen zeigten, dass Gist-Zellen aus speziellen Zellen der Darmwand hervorgehen und auf ihrer Zelloberfläche massenhaft ein bestimmtes Molekül tragen – genau wie bei einer Blutkrebsform, die bereits erfolgreich mit einem Medikament namens Glivec bekämpft werden konnte. Seit Kurzem wird es auch bei Gist angewandt. Das Ergebnis: „Wir haben sofort Tumorrückbildungs- und Überlebensraten erzielt, die vorher gar nicht denkbar waren“, sagt Schlag.

Um die vielen verschiedenen Krebstypen der Patienten besser zu verstehen, werden an der Charité zurzeit Proben von Haut- und Dickdarmkarzinomen genommen und ihre Erbinformationen komplett entziffert. „Wir finden in den Krebszellen im Schnitt 600 Mutationen“, berichtet Schlag. „Aber welche davon sind diejenigen, die bei einem bestimmten Patienten den Tumor antreiben? Darüber wissen wir noch zu wenig.“ Der Mediziner hofft, dass sich die entscheidenden Gendefekte bei den verschiedenen Krebstypen wiederholen. Doch er weiß: „Es wird auch sehr viele Tumortypen geben, bei denen mehrere Signalwege in den Zellen betroffen sind, und gegen die man mehrere Wirkstoffe kombinieren müsste.“ So wenig man einen Menschen nur über seine Haar- und Hautfarbe beschreiben kann, so oberflächlich seien im Moment noch die technischen Mittel, mit denen die Tumore charakterisiert und bekämpft werden können. Dabei liegt die personalisierte Medizin in der Krebsforschung vorn: Von den 23 Medikamenten, die diesem Konzept folgen und in deutschen Kliniken angewandt werden, sind immerhin 18 Krebsmedikamente.

Bei so komplexen Erkrankungen wie Alzheimer oder Diabetes sei man noch viel weiter von einem personalisierten Ansatz entfernt, sagt Sanofi-Aventis-Forschungschef Maas. „Diabetes etwa ist nicht nur auf ein paar Genmutationen zurückzuführen. Da spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle.“

Um einen Biomarker zu finden, der eine verlässliche Aussage über den Verlauf der Zuckerkrankheit oder die Wirksamkeit eines Medikaments erlaubt, müssten gleich mehrere betroffene Organe des Patienten untersucht werden: Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm, Muskeln. Das ist deutlich komplexer, als eine Tumorprobe zu untersuchen.

Der Scan einer Probe auf dem Bildschirm

Wer spricht worauf an?

Für eine breite Anwendung personalisierter Medizin mangelt es aber nicht allein an Basiswissen, sondern ebenso an der Integration bereits vorhandener Methoden. So hat auch Sandra Kern erlebt, dass ihre individuelle genetische Konstitution nicht berücksichtigt wurde, bevor ihr nach der Strahlentherapie ein Medikament gegen eventuell verbliebene Krebszellen verschrieben wurde, die sogenannte Hormontherapie. Zwar blieb ihr durch den Oncotype-Test die Chemotherapie erspart. Mit einem ausführlichen weiteren Test hätte sie aber auch von den Nebenwirkungen der Hormontherapie mit dem Medikament Tamoxifen verschont werden können.

Tamoxifen ist eine jener 23 „personalisierten“ Arzneien, die derzeit am Markt sind. Der Wirkstoff blockiert Andockstellen für das Hormon Östrogen auf den Tumorzellen, sodass das Signal zum Wachsen und Teilen der Krebszellen ausbleibt. Ein Test kann abklären, ob der Tumor einer Patientin solche Andockstellen überhaupt hat. Dieser Test wurde auch gemacht. Allerdings muss der Wirkstoff im Körper der Patienten erst aktiviert werden, aus Tamoxifen muss Endoxifen werden. Bei etwa zehn Prozent der Patienten vollzieht sich diese Umwandlung nur langsam – aufgrund „langsamer“ Genvarianten im Erbgut. Als Folge reichert sich Tamoxifen an und löst Nebenwirkungen aus.

Wie Kern auf das Medikament ansprechen würde, hätte ein weiterer Gentest klären können. Doch der gehört bei uns noch nicht zum Standard, auch bei ihr bleibt er aus. Ein Jahr lang schlägt sie sich mit miserablen Blutwerten und belastenden Nebenwirkungen herum, bevor ihre Therapie umgestellt wird.

Das ist keine Seltenheit, sondern leider Normalfall. Allein in den USA haben jährlich 2,2 Millionen Menschen mit schweren Arzneimittel-Nebenwirkungen zu kämpfen, bei 20 bis 50 Prozent der Patienten sprechen die verordneten Medikamente gar nicht an. 106 000 Todesfälle und etwa 100 Milliarden Dollar Kosten zieht das nach sich. In Deutschland sind rund sechs Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf Arzneimittel-Nebenwirkungen zurückzuführen, rund 16 000 Menschen sterben hierzulande jährlich an den Folgen.

Gute Gründe also für mehr Diagnostik, mehr personalisierte Medizin. Dafür sprechen aus Sicht der Pharmaindustrie auch ökonomische Argumente. „Ich bin überzeugt davon, dass die Medikamentenentwicklung für eine personalisierte Medizin preiswerter wird, weil die Patientengruppen in den klinischen Studien kleiner werden können“, sagt etwa Forschungschef Maas. Denn mithilfe von Gen- und Proteintests können die Firmen nur solche Patienten für klinische Studien auswählen, bei denen der Wirkstoff aller Wahrscheinlichkeit nach wirken könnte. Die Tests messen bei den Patienten sogenannte Biomarker: Genmutationen, erhöhte Konzentrationen von Proteinen oder abnorme Enzyme dienen als Signale, bei welcher Patientengruppe ein Wirkstoff wirken kann und bei welcher nicht. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) rechnet vor: Wenn sich mithilfe von Biomarkern die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Wirkstoffs in der klinischen Prüfung auch nur um etwa zehn Prozent besser abschätzen ließe, könnten pro Medikamentenentwicklung im Schnitt 100 Millionen Dollar eingespart werden.

Kein Wunder, dass der Schweizer Pharmakonzern Roche jedem Arzneimittelentwicklungsteam einen Biomarker-Experten seiner Tochter Roche Diagnostics zur Seite stellt. Der Trend lässt sich verallgemeinern: Während vor 1990 nur in vier Prozent aller klinischen Studien Biomarker gemessen wurden, sind es seit 2005 schon 20 Prozent.

Entwicklung wird günstiger

Das Biotechunternehmen Genentech, das heute zum Roche-Konzern gehört, hat schon früh die Erfahrung gemacht, dass sich Biomarker bezahlt machen können. In den Achtzigerjahren erforschte der deutsche Molekularbiologe Axel Ullrich in den Genentech-Labors ein Gen namens HER-2. In 28 Prozent der Tumoren von Brustkrebspatientinnen fand Ulrich dieses Gen mitunter häufiger als 50-fach kopiert vor: Je mehr Kopien, desto aggressiver wächst der Tumor und desto geringer sind die Überlebenschancen der Patientinnen.

Ullrich entwickelte einen Antikörper, ein Fängermolekül, mit dem das Proteinprodukt des HER-2-Gens blockiert wird. Und tatsächlich ließ sich mit Herceptin, so der Name der Arznei, das Wachstum der Krebszellen hemmen – allerdings nur bei eben jenen 28 Prozent der Patientinnen mit HER-2-Überschuss. Wenn ein Medikament bei zwei Dritteln der Patienten versagt, sind die Aussichten für eine Zulassung üblicherweise nicht gut. Doch 1998 gab die FDA Herceptin frei – verbunden mit der Auflage, dass ein Gentest bei den Brustkrebspatientinnen die HER-2-Kopien nachweisen müsse. Ohne den Test wäre eine Zulassung nicht denkbar gewesen: Hätte man das Mittel, wie früher üblich, an allen Brustkrebspatientinnen blind getestet, hätten zu wenige profitiert, um statistisch einen Vorteil dokumentieren zu können. Von den Nebenwirkungen für das Gros der Frauen ganz zu schweigen. Die Entwicklung wäre eingestellt worden.

So macht sich die personalisierte Medizin auf den Weg. Ob sich mit ihrer Hilfe auch Kosten senken lassen, muss sich allerdings erst zeigen. Axel Heinemann, Biotech- und Pharmaexperte bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group, glaubt zwar, dass die Entwicklung von Medikamenten mittels Biomarkern günstiger wird. Dafür aber werde sich der Pharmavertrieb auf viel kleinere Patientengruppen und damit auf ein viel stärker differenziertes Produktspektrum einstellen müssen. Statt Allgemeinärzte über wenige Blockbuster-Medikamente zu informieren, müssten die Referenten künftig hochspezialisierte Arzneien an unterschiedliche Fachärzte herantragen. Was in der Entwicklung Geld spart, dürfte also die Kosten bei Marketing und Vertrieb in die Höhe treiben.

Zudem müssen auch Entwicklung, Prüfung und Validierung der Biomarker bezahlt werden. In den USA hat die FDA zu diesem Zweck ein Biomarker Consortium gegründet. Das Pendant in der EU ist die Innovative Medicines Initiative (IMI), in der die meisten großen Pharmafirmen mit den Behörden und Forschungsinstitutionen zusammenarbeiten, um Biomarker zu prüfen. Das Budget dafür umfasst zwei Milliarden Euro, zu gleichen Teilen von den Pharmafirmen und der öffentlichen Hand.

„Wichtigstes Ziel ist es, weltweit verbindliche Standards für die Verwendung von Biomarkern in klinischen Studien zu etablieren“, sagt Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), und nennt das Beispiel Alzheimer: „Bislang können Medikamentenkandidaten gegen Alzheimer erst getestet werden, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist, weil sie erst so spät diagnostiziert werden kann.“ Dann sind 90 Prozent der Hirnzellen aber schon zugrunde gegangen – und das Retten der letzten zehn Prozent lässt kaum noch einen therapeutischen Effekt erwarten. „Mit Biomarkern können wir die Krankheit früher diagnostizieren und den Krankheitsverlauf messbar machen“, sagt Broich. „Damit erhöhen wir die Chancen, therapeutische Veränderungen nachzuweisen.“

Bei Sanofi-Aventis im Industriepark Hoechst

Konsortien für Biomarker

Doch welcher Biomarker taugt als Vorhersage-Werkzeug? Wie verlässlich zeigt das Messen irgendeiner Proteinkonzentration im Blut eine erst zehn Jahre später erkennbare Alzheimer-Erkrankung an? Das ist nicht nur für die Patienten eine essenzielle Frage. Broichs Behörde muss am Ende entscheiden, ob es schon für eine Zulassung ausreicht, wenn der Wirkstoff nur einen Alzheimer-Biomarker positiv beeinflusst.

„Wir haben beispielsweise lernen müssen, dass der Blutfarbstoff HbA-1c als Maß für den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel nicht immer der beste Marker für Diabetes-Studien ist“, sagt Broich. Für den Erfolg laufender und zukünftiger Studien von Diabetes-Medikamenten ist es für die Pharmaunternehmen aber ganz entscheidend, dass die Behörden die Biomarker anerkennen, auf denen die Studien basieren. Das gilt umso mehr, sollen die Marker als Ersatz für klinische Parameter dienen. Das BfArM prüft deshalb akribisch.

Aber Broich weiß auch, wie kostspielig die Qualitätsprüfung der Biomarker ist. „Wenn eine Pharmafirma den Aufwand allein schultert und einen Biomarker erfolgreich validiert, dann würden alle anderen davon kostenlos profitieren. Deshalb kann das auch nur in Konsortien funktionieren.“

Die Bereitschaft der Pharmafirmen zur Zusammenarbeit sei da. Und für die Patienten in Deutschland sind mittlerweile auch erste Auswirkungen der personalisierten Medizin spürbar – genau wie deren Kosten. Sandra Kern musste die 3200 Euro für den Oncotype DX-Test, der ihr die Chemotherapie erspart hat, nicht selbst zahlen – die Charité finanzierte ihn aus dem Budget der klinischen Studie, an der sie teilnahm. Viele andere müssen ihn aus eigener Tasche bezahlen oder darauf verzichten – die Krankenkassen tragen die Kosten bislang nur im Einzelfall.

Kern, die im Moment als geheilt gilt, hätte das Geld im Zweifel auch selbst aufgebracht, irgendwie. Sie habe alles, was ihr sinnvoll erschien, machen lassen. Und sie zahlt auch jetzt, nachdem sie ihr Geschäft verkauft hat und arbeitslos ist, für ihre Genesung. Die Bayerische Beamtenkasse erstattet der Privatversicherten nur 80 Prozent ihrer Auslagen. „184 Euro im Monat kostet mich mein Medikament Aromasin, 147 Euro davon bekomme ich zurück. Das läppert sich.“

Das Gesundheitssystem könne von der personalisierten Medizin keine Netto-Reduktion der Ausgaben erwarten, auch wenn bei der Entwicklung Geld eingespart wird, glaubt Unternehmensberater Axel Heinemann. Es wird in Zukunft mehr teure Tests wie Oncotype DX geben. Und die personalisierten Arzneien werden wegen ihrer zielgerichteten, auf bestimmte Patientengruppen zugeschnittenen Wirkungsprofile weiter hohe Preise nach sich ziehen. Schon heute gehören zu den 23 personalisierten Medikamenten am Markt mit Herceptin (37 000 Dollar pro Jahr) und Glivec (56 000 Dollar pro Jahr) zwei ausgesprochen teure Arzneien. Ob sie ihr Geld wert sind?

Im Moment nur schwerlich, da muss Peter Schlag von der Charité nicht lange überlegen. Natürlich solle der Anreiz für die Industrie, neue Medikamente zu entwickeln, erhalten bleiben. Die Diskussion über Nutzen und Preise jedoch müsse von Herstellern, Kostenträgern, Politik, Patienten und Ärzten gemeinsam geführt werden. Wenn personalisierte Medizin so teuer sei, dass sie die Gesundheitssysteme sprenge, sei niemandem geholfen.Schon gar nicht beim Stand von heute. Schlag mag eine Lebensverlängerung von ein paar Monaten jedenfalls nicht bejubeln. Geschichten wie von jener Mutter, die im Mai gestorben wäre und dank personalisierter Medizin die Einschulung ihres Kindes im August noch erleben durfte, seien zwar rührselig, aber Augenwischerei. „Wir müssen erreichen, dass die Mutter ihr Kind erlebt, wenn es Abitur macht. Dann sind die Medikamente auch ihr Geld wert.“ Letzteres sieht ein todgeweihter Patient vermutlich anders.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.